80 Cent im Schneeregen: Wie ein Junge mich zurück zu meiner Mutter führte

Mitten im wohlhabenden München war der Stolz eines 17-Jährigen nur 80 Cent und ein kaltes Kopfschütteln wert.

Es war Freitagabend, 18:30 Uhr. Die U-Bahn-Station am Marienplatz war brechend voll. Draußen peitschte der Schneeregen gegen die Scheiben, ein typisch nasskaltes Münchner Winterwetter, das einem bis in die Knochen kroch.

Ich fröstelte, zog den Kragen meines Mantels höher und warf einen genervten Blick auf meine Uhr. Ich war spät dran. Wieder so ein zwangloses Geschäftsessen, das in Wahrheit harte Arbeit war und auf das ich absolut keine Lust hatte.

Kurz entschlossen sprang ich noch in den Blumenladen am Bahnhofseingang. Meine Frau hatte mir die ganze Woche vorgehalten, ich sei zu pragmatisch geworden. Ein teurer Blumenstrauß war wohl der schnellste Weg, um mir ein ruhiges Wochenende zu erkaufen.

Vor mir staute sich eine Schlange von Pendlern. Alle starrten auf ihre Handys oder trippelten ungeduldig auf der Stelle. Doch vorne an der Kasse stockte es.

„Wenn du nicht genug Geld hast, lass es. Ich bin keine Wohlfahrtsbank“, tönte die Stimme der Verkäuferin durch den Laden. Sie war eine Frau mittleren Alters, deren Gesicht diesen Ausdruck von chronischer Erschöpfung und Prinzipientreue trug.

Vor ihr stand ein Junge. Vielleicht 17 Jahre alt. Er trug eine Daunenjacke, die an den Ellbogen schon dünn gescheuert war, und völlig durchnässte Turnschuhe. Er wirkte schmal, zog die Schultern hoch – halb vor Kälte, halb vor Scham.

Auf dem gläsernen Tresen lag eine einzelne rote Rose. Die billigste Sorte, die äußeren Blütenblätter schon leicht dunkel. Daneben lag ein Häufchen Kleingeld: 1 Cent, 2 Cent, 5 Cent… und ein Pfandbon über 1,50 Euro.

„Es… es fehlen nur 80 Cent“, stammelte der Junge leise. „Können Sie den Pfandbon nicht nehmen? Das ist doch auch Geld…“

Die Verkäuferin seufzte laut und trommelte mit ihren lackierten Fingernägeln auf den Tresen. „Hier ist ein Blumenladen, kein Supermarkt. Ich kann diesen Zettel nicht scannen. Du hältst hier den ganzen Betrieb auf. Entweder du zahlst bar, oder du gehst.“

Der Junge senkte den Kopf. Seine Ohren glühten rot. Die Leute hinter mir begannen unruhig zu murren. In dieser Stadt, in der Effizienz alles ist, war Zeitverschwendung eine Todsünde.

Der Junge streckte zitternd die Hand aus, um die Rose zurückzugeben. Er hatte alles zusammengekratzt, vermutlich stundenlang Pfandflaschen im Regen gesammelt, und doch reichte es nicht für ein kleines bisschen „Schönheit“.

Dieser Anblick war wie ein Nadelstich in meine alltägliche Gleichgültigkeit.

Ich trat vor und legte meine Platinkarte auf das Lesegerät. Das Piepen ertönte sofort. „Setzen Sie die Rose auf meine Rechnung“, sagte ich mit fester Stimme.

Die Verkäuferin schreckte hoch. Als sie meinen Anzug sah, änderte sich ihre Miene schlagartig. „Oh, mein Herr, das ist doch nicht nötig, der Junge…“

„Und packen Sie den großen Rosenstrauß dort drüben dazu“, unterbrach ich sie und zeigte auf das teuerste Arrangement im Schaufenster. „Aber schön einpacken.“

Ich drehte mich zu dem Jungen um, der mich mit großen, erschrockenen Augen anstarrte. „Nimm es, junger Mann. Ein Mann lässt eine Dame nicht wegen ein paar Cent warten.“

Die Verkäuferin wickelte den Strauß schweigend ein und übergab ihn dem Jungen. Das Bukett war so riesig, dass es den schmalen Oberkörper des Jungen fast verdeckte.

„Ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll… Ich zahle es Ihnen zurück…“, stammelte er.

„Schon gut“, winkte ich ab und nahm meine eigenen Lilien entgegen. „Geh schon. Deine Freundin wartet sicher. Lass sie nicht im Regen stehen.“

Wir traten zusammen aus dem Laden. Die Kälte schlug uns entgegen, aber irgendetwas war anders. Ich zündete mir eine Zigarette an und fragte neugierig: „Wie heißt deine Freundin eigentlich? Sie wird sich sicher freuen. Die Jugend ist wirklich noch romantisch.“

Der Junge drückte den Blumenstrauß fest unter seine Jacke, um ihn vor dem Schneeregen zu schützen, und sah mich an. Im fahlen Licht der Straßenlaterne sah ich, wie unendlich traurig seine Augen waren.

„Nein… sie sind nicht für eine Freundin, mein Herr“, sagte er leise und schüttelte den Kopf. „Sie sind für meine Oma. Ich heiße Johannes.“

Ich hielt mit der Zigarette auf halbem Weg zum Mund inne. „Für deine Oma?“

Johannes lächelte, ein sanftes, wehmütiges Lächeln. „Ja. Meine Eltern haben sich scheiden lassen und sind weggezogen, jeder in eine andere Stadt. Ich bin bei Oma aufgewachsen. Aber dieses Jahr geht es ihr sehr schlecht…“

Er schluckte schwer. „Sie ist im Pflegeheim in Moosach. Sie hat Demenz. Sie weiß nicht mehr, wer ich bin. Manchmal hält sie mich für einen Fremden…“

Ein kalter Windstoß wirbelte Schneeflocken auf. Johannes blickte auf die roten Blütenblätter hinab. „Aber heute ist ihr 80. Geburtstag. Sie erzählt immer von dem Rosengarten, den Opa früher gepflanzt hat, bevor er starb. Das ist die einzige Erinnerung, die sie noch hat. Ich wollte, dass sie dieses Rot noch einmal sieht… Der Arzt sagt, es ist vielleicht ihr letzter Geburtstag.“

Seine Worte waren leise, aber sie trafen mich mit voller Wucht.

Ich – der erfolgreiche Geschäftsmann, der Blumen nur als lästige „Pflichtübung“ kaufte.

Und Johannes – ein Junge, der Pfandflaschen sammelte und jeden Cent umdrehte, nur um einem Menschen, der ihn vergessen hatte, ein Lächeln zu schenken.

„Vielen Dank. Sie haben meiner Oma den ganzen ‚Garten‘ zurückgebracht“, sagte Johannes und verbeugte sich leicht.

Dann blickte er auf die Uhr am Bahnhof. „Mist, ich muss los, die S-Bahn kommt gleich und im Heim sind sie streng mit den Besuchszeiten. Schönen Abend noch!“

Er rannte los, eine kleine Gestalt mit einem leuchtenden Blumenstrauß, und verschwand in der hektischen Menge Richtung Bahnsteig. Er rannte gegen die Zeit, nicht um Geld zu verdienen, sondern um Liebe zu schenken, bevor es zu spät war.

Ich blieb regungslos im Schneeregen stehen. Meine Zigarette war längst ausgegangen. Der teure Lilienstrauß in meiner Hand fühlte sich plötzlich bedeutungslos an.

Ich dachte an meine eigene Mutter. Sie lebte in einem Vorort, keine dreißig Autominuten entfernt. Wann war ich das letzte Mal dort gewesen? Weihnachten? Ostern? Ich war immer „zu beschäftigt“.

Aber Johannes hatte mir eine Lektion erteilt: Wir sind nie zu arm, um zu lieben. Wir sind nur manchmal zu beschäftigt, um es zu zeigen.

Ich holte mein Handy heraus und wählte eine Nummer.

„Hallo, Schatz?“, meldete sich meine Frau.

„Hör zu. Ich gehe heute Abend nicht zu dem Essen. Ich hole dich und die Kinder ab. Wir fahren zu Mama. Ich möchte heute Abend mit ihr essen.“

Ich warf die Kippe in den Mülleimer und ging entgegen der Menschenmenge zurück. Der Münchner Winter war immer noch kalt, aber in mir drin war es gerade ein ganzes Stück wärmer geworden.

Warte nicht, bis die Menschen dich vergessen haben, bevor du anfängst, ihnen Blumen zu bringen. Denn manchmal wiegen 80 Cent echte Zuneigung mehr als ein ganzes Vermögen.

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