80 Cent im Schneeregen: Wie ein Junge mich zurück zu meiner Mutter führte

Zehn Minuten nachdem Johannes im Gedränge verschwunden war, stand ich immer noch am Marienplatz, als hätte mir jemand den Boden unter den Schuhen weggezogen.

Die 80 Cent klebten plötzlich an allem, was ich dachte: an meinem Anzug, an meiner Uhr, an meinem „Ich habe keine Zeit“.

Der Schneeregen machte aus den Lichtern der Station ein verschwommenes Aquarell. Menschen drängten an mir vorbei, Schulter an Schulter, alle in Eile, alle mit diesem Blick, der nirgends hängenbleibt.

Ich steckte die Lilien fester unter den Arm, zog das Handy wieder hervor und schaute auf die Nummer, die ich gerade gewählt hatte. Meine Frau hatte „Hallo, Schatz?“ gesagt, und ich hatte so getan, als wäre das alles ganz leicht.

„Du bist sicher?“, fragte sie jetzt, ihre Stimme leise zwischen Küchenklirren und Kinderlachen im Hintergrund.

„Ja“, sagte ich. „Ich bin gleich da. Pack nur Jacken ein. Und… lass die Hausaufgaben heute Hausaufgaben sein.“

Als ich auflegte, merkte ich, dass meine Hand zitterte. Nicht vor Kälte, sondern vor etwas anderem, das ich lange nicht mehr gespürt hatte: Scham, die nicht zerstört, sondern antreibt.

Ich ging gegen die Menschenmenge zurück zur Rolltreppe, die hinauf zur Straße führte. Unten blieb alles gleich: Werbung, Durchsagen, Schritte, dieses dauernde „Achtung, bitte zurückbleiben“. Nur in mir war etwas verrutscht.

Draußen schlug mir der Wind ins Gesicht, als wolle er prüfen, ob ich es ernst meinte. Ich nahm ein Taxi, nannte die Adresse, und während wir durch das nasse München glitten, sah ich die Stadt auf einmal anders.

Die Schaufenster waren warm, die Gehwege kalt, die Gesichter angespannt. Ich fragte mich, wie oft ich selbst so ausgesehen hatte, ohne es zu merken.

Wir fuhren an einem Spielplatz vorbei, auf dem die Rutsche glitzerte wie Glas. Ich dachte an Johannes, wie er gerannt war, den riesigen Strauß wie einen Schild vor der Brust, gegen die Zeit, nicht gegen Menschen.

„Schlimmer Verkehr“, brummte der Taxifahrer und tippte ans Lenkrad. „Freitag halt.“

„Ja“, sagte ich, und es klang plötzlich wie eine Ausrede aus einem fremden Mund.

Zu Hause stand meine Frau schon im Flur, Mantel halb zu, die Haare noch feucht vom schnellen Kämmen. Die Kinder – Mia und Leon – hüpften in ihren Stiefeln, als wäre „zu Oma“ ein Abenteuer und nicht ein Nachholen.

Meine Frau sah die Lilien, dann mein Gesicht. Ihr Blick blieb einen Moment länger, als sonst.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

Ich atmete aus, als hätte ich den ganzen Tag Luft angehalten. „Ich erzähl’s im Auto.“

Wir stiegen in meinen Wagen, und als die Türen zufielen, wurde es stiller, wie in einem kleinen, fahrbaren Beichtstuhl. Die Scheiben beschlugen sofort, und ich wischte mit dem Ärmel drüber, als könnte ich auch das in mir wegwischen.

„Da war ein Junge“, begann ich, während ich vom Bordstein rollte. „Im Blumenladen am Marienplatz. 17 vielleicht. Er hatte Pfandbon und Kleingeld. Ihm fehlten 80 Cent für eine Rose.“

Mia, neun Jahre alt und mit diesem unbarmherzigen Sinn für Gerechtigkeit, zog die Stirn kraus. „Nur 80 Cent?“

„Nur“, wiederholte ich und hörte, wie hohl das Wort sein kann. „Die Verkäuferin… sie war hart. Und dann—“ Ich erzählte von der Rose, von der Demenz, vom Pflegeheim in Moosach, von diesem Blick unter der Laterne.

Meine Frau sagte eine Weile nichts. Dann legte sie ihre Hand kurz auf meinen Unterarm, so, als würde sie prüfen, ob ich wirklich da war.

„Vielleicht brauchtest du genau das“, sagte sie leise.

Ich nickte, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Der Schneeregen zog Streifen über die Windschutzscheibe, als würde die Nacht selbst weinen, aber ordentlich, im Takt der Scheibenwischer.

Die Kinder wurden ruhiger, je weiter wir rausfuhren. Münchens Mitte blieb hinter uns, und mit ihr dieses Tempo, das einen glauben lässt, man sei wichtig, nur weil man rennt.

Meine Mutter wohnte in einem Vorort, in einem kleinen Reihenhaus, das sie nach dem Tod meines Vaters nie verlassen wollte. „Hier hab ich jeden Kratzer selbst gemacht“, hatte sie immer gesagt, als wären Kratzer Beweise für ein gelebtes Leben.

Als wir vorfuhren, brannte Licht im Wohnzimmer. Ein warmes, gelbliches Rechteck hinter Gardinen, die schon ein bisschen aus der Mode waren und genau deshalb tröstlich wirkten.

Ich stieg als Erster aus und spürte, wie mir die Kälte in die Schuhe kroch. Meine Hand zögerte einen Augenblick an der Klingel, als hätte ich Angst vor dem, was ein einfaches „Ding-Dong“ auslösen konnte.

Die Tür ging auf, noch bevor ich ein zweites Mal klingelte. Meine Mutter stand da, kleiner als in meiner Erinnerung, im Strickcardigan, die Haare zu einem Knoten, der zu streng war für ihre müden Augen.

„Du…?“, sagte sie, und es war keine Frage, eher ein Staunen.

„Hallo, Mama“, sagte ich und hielt ihr die Lilien hin, als wären sie ein Passierschein. „Wir… wir wollten dich sehen. Heute.“

Sie starrte die Blumen an, als hätte ich ihr einen seltenen Vogel gebracht. Dann hob sie den Blick und ihr Gesicht veränderte sich, weich, erschrocken, fast kindlich.

„Jetzt?“, flüsterte sie. „Ist was passiert?“

„Nein“, sagte ich schnell. „Genau das ist es ja. Es ist nichts passiert. Und trotzdem—“ Ich brach ab, weil ich plötzlich nicht wusste, wie man erklärt, dass man zu lange gewartet hat, bis es „einen Grund“ gab.

Meine Frau trat vor. „Guten Abend“, sagte sie freundlich. „Wir haben gedacht, wir kochen nichts Großes. Wir essen einfach zusammen, wenn du magst.“

Meine Mutter schluckte und trat zur Seite. „Ja. Ja, natürlich. Kommt rein. Um Himmels willen, es ist ja nass draußen.“

Drinnen roch es nach Kartoffelsuppe und diesem alten Parfum, das meine Mutter seit Jahrzehnten trug. Der Flur war voller Bilder: ich als Kind, ich als Teenager, ich in Anzug und Krawatte bei irgendeiner Preisverleihung, als wäre das mein Beweis, dass alles gut geworden ist.

Leon lief sofort zum Schuhregal und zog eine der alten Mützen raus. „Oma, guck mal!“, rief er, als hätte er einen Schatz gefunden.

Meine Mutter lachte kurz, aber es klang abgehackt, so, als müsste sie das Lachen erst wieder üben. Dann sah sie mich an, und ich merkte, wie genau sie mein Gesicht prüfte, als würde sie nach etwas suchen, das sie nicht verlieren durfte.

Wir setzten uns in die Küche, und ich half, Teller auf den Tisch zu stellen, als wäre das eine feierliche Handlung. Meine Mutter wischte mit dem Tuch über eine Stelle, die schon sauber war.

„Du hättest nicht fahren müssen“, sagte sie. „Du bist doch immer so beschäftigt.“

Dieses „immer“ traf mich wie eine Ohrfeige, weil es nicht böse gemeint war. Es war einfach wahr.

„Ich war es“, sagte ich und hörte, wie die Worte zum ersten Mal in meinem Mund nicht wie ein Stolz klangen, sondern wie ein Fehler. „Aber heute wollte ich… anders.“

Meine Mutter nickte, zu schnell, und schenkte den Kindern Apfelschorle ein. Dabei zitterte ihre Hand minimal, so fein, dass man es leicht übersehen konnte, wenn man nicht hinsah.

Wir aßen, und es war kein großes Festessen, nur Suppe, Brot, ein Stück Käse. Aber die Küche fühlte sich an wie ein warmer Hafen, in dem man plötzlich wieder weiß, wie man anlegt.

Mia erzählte von der Schule, Leon von einem Legoturm, der „höher als Papa“ gewesen sei. Meine Mutter lachte öfter, und jedes Lachen machte ihren Blick wacher.

Ich sah sie an, während sie die Kinder betrachtete, und dachte: So sieht Liebe aus, wenn sie nicht spektakulär sein muss. Einfach ein Blick, der sagt: Du bist da. Du bist echt.

Irgendwann, als die Teller leer waren, ging meine Frau kurz ins Wohnzimmer, um die Jacken zu holen. Die Kinder folgten ihr, weil Kinder immer dorthin gehen, wo Bewegung ist.

Ich blieb mit meiner Mutter am Tisch zurück. Der Regen klopfte gegen das Fenster, und die Uhr an der Wand tickte so laut, als wolle sie sich wichtig machen.

Meine Mutter drehte ihren Teelöffel in der Tasse, immer im Kreis, immer gleich. Dann sagte sie plötzlich: „Ich vergesse manchmal Dinge.“

Ich sah auf. „Was meinst du?“

Sie lächelte, aber es war ein dünnes Lächeln, das nicht bis zu den Augen ging. „Ach, Kleinigkeiten. Wo ich den Schlüssel hingelegt habe. Namen. So was. Nichts Dramatisches.“

Ich spürte, wie mir der Magen eng wurde. Johannes’ Stimme war wieder da, ganz nah: Sie weiß nicht mehr, wer ich bin.

„Warst du beim Arzt?“, fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern, als wäre das eine Wetterfrage. „Ja. Er sagt, in meinem Alter… na ja. Man soll Rätsel machen, Sudoku, Bewegung. Und keine Sorgen.“

Sie sagte „keine Sorgen“ so, als wäre das ein Luxus, den man sich leisten muss.

„Warum hast du mir nichts gesagt?“, fragte ich leise.

Meine Mutter stellte den Löffel ab. Ihre Hand blieb einen Moment auf dem Tisch liegen, und ich sah die feinen Adern unter der Haut, diese Karte eines Lebens, das gearbeitet und getragen hat.

„Weil du dann gekommen wärst“, sagte sie. „Aus Pflicht. So wie immer. Und ich wollte nicht, dass du aus Pflicht kommst.“

Ich schluckte. Mein Hals brannte, als hätte ich wieder eine Zigarette im Mund, nur ohne Rauch.

„Mama“, sagte ich, und meine Stimme war plötzlich nicht mehr die Stimme eines Geschäftsmanns. „Ich will nicht, dass es irgendwann… zu spät ist.“

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