Sie sah mich an, und in diesem Blick war so viel, dass es mich gleichzeitig tröstete und schämte. Dann streckte sie die Hand aus und legte sie auf meine, kurz, zögernd, als dürfte sie nicht zu viel verlangen.
„Dann komm einfach“, sagte sie. „Nicht groß. Nicht geschniegelt. Einfach… komm.“
Als wir später wieder im Flur standen, die Kinder halb müde, halb aufgedreht, hielt meine Mutter sich am Türrahmen fest. Draußen war es dunkler geworden, und die Laterne warf ein kaltes Licht auf ihre Wangen.
Meine Frau umarmte sie länger als sonst. „Wir sehen uns bald“, sagte sie. „Wirklich.“
Meine Mutter nickte und beugte sich zu Mia. „Du hast mir heute den Abend gerettet“, flüsterte sie.
Mia grinste. „Papa hat gesagt, wir sollen nicht warten.“
Meine Mutter sah mich an, und ich wusste, dass sie nicht fragte, was ich damit meinte. Sie verstand es einfach.
Im Auto, auf dem Rückweg, schlief Leon sofort ein, den Kopf gegen den Sitz gelehnt. Mia schaute aus dem Fenster und malte mit dem Finger Muster in den beschlagenen Dunst.
Meine Frau sagte schließlich: „Und der Junge? Johannes?“
Ich hielt kurz an einer roten Ampel, die im Regen wie ein glühender Punkt flackerte. „Ich weiß nicht“, gab ich zu. „Aber ich… ich kann ihn nicht vergessen. Nicht heute.“
„Moosach“, sagte sie ruhig. „Das ist nicht weit.“
Ich nickte, und mein Herz machte diesen seltsamen Sprung zwischen Pflichtgefühl und echtem Drang. „Besuchszeiten“, murmelte ich. „Er hat gesagt, sie sind streng.“
„Dann morgen“, sagte sie. „Morgen ist Samstag.“
Das Wort „morgen“ klang plötzlich nicht wie Aufschub, sondern wie eine zweite Chance.
Am nächsten Morgen war der Himmel immer noch grau, aber der Regen hatte nachgelassen. Der Schnee lag in schmutzigen Haufen am Straßenrand, wie vergessene Gedanken.
Ich stand früh auf, noch bevor die Kinder wach wurden. Ich machte Kaffee und setzte mich an den Küchentisch, als wäre ich ein Fremder in meiner eigenen Routine.
Dann nahm ich das Handy und suchte die Adresse des Pflegeheims in Moosach, die Johannes erwähnt hatte. Ich schrieb mir die Route auf, nicht weil ich sie nicht kannte, sondern weil ich etwas Festes brauchte, einen Plan, der nicht aus Ausreden bestand.
Meine Frau kam im Schlafanzug dazu, rieb sich die Augen und sah mich an. „Du meinst es wirklich.“
„Ja“, sagte ich. „Nicht als Held. Nicht als… Aktion. Einfach, weil—“ Ich brach ab, weil es schwer ist, Liebe in eine Begründung zu pressen.
Sie nickte nur. „Ich komm mit.“
Eine Stunde später fuhren wir los, mit einem neuen Strauß auf dem Beifahrersitz. Keine riesigen Rosen diesmal, sondern einfache, robuste Blumen, die nach Frühling aussahen, obwohl es draußen Winter war.
Das Pflegeheim in Moosach war ein sachlicher Bau, hell, sauber, mit einem Empfang, der nach Desinfektionsmittel roch. Im Flur hingen Bilder von Ausflügen und Bastelgruppen, fröhlich, als würden sie das Vergessen übermalen wollen.
An der Rezeption saß eine junge Frau mit müdem Lächeln. „Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?“
„Wir suchen Johannes“, sagte ich, und mir wurde bewusst, wie absurd es klingt, in einem Pflegeheim nach einem 17-Jährigen zu fragen. „Er hat… seine Oma hier. Geburtstag. Gestern.“
Die Frau blätterte kurz in einem Ordner. „Johannes“, wiederholte sie, dann nickte sie. „Er ist oft hier. Vielleicht im zweiten Stock. Zimmer…“ Sie nannte eine Nummer, sachlich, als wäre Liebe ein Eintrag im System.
Wir fuhren mit dem Aufzug hoch. In der Kabine spiegelte sich mein Gesicht, und ich sah auf einmal älter aus als sonst. Nicht wegen Falten, sondern wegen Einsicht.
Im Flur war es ruhig. Türen, Namensschilder, leises Fernsehrauschen. Hinter einer Tür hörte man jemanden singen, brüchig, aber mit Überzeugung.
Dann sah ich ihn.
Johannes saß auf einer Bank am Fenster, die Daunenjacke an, obwohl es drinnen warm genug war. Neben ihm stand der riesige Strauß von gestern, inzwischen ein wenig auseinandergefallen, als hätte er die Nacht nicht ganz überstanden.
Er schaute auf, als wir näher kamen, und seine Augen wurden groß, diesmal nicht erschrocken, sondern verwundert. „Sie… Sie sind der Mann vom Blumenladen.“
„Ja“, sagte ich und blieb stehen, als wollte ich ihm Raum lassen. „Ich hab Sie nicht vergessen.“
Er schluckte, und für einen Moment sah er wieder aus wie gestern: ein Junge mit zu viel Verantwortung in den Schultern. „Ich wollte Ihnen schreiben… aber ich hatte nur…“ Er hielt kurz inne, als wäre es ihm peinlich, zuzugeben, dass er keine Visitenkartenwelt hat.
„Schon gut“, sagte ich. „Ich bin nicht hier, um etwas einzufordern. Ich wollte nur… fragen, wie es Ihrer Oma geht.“
Johannes’ Blick wanderte zum Strauß. „Sie hat gelächelt“, sagte er leise. „Ganz kurz. Als sie die Rosen gesehen hat. Und dann… hat sie wieder gefragt, wer ich bin.“
Meine Frau trat einen Schritt näher. „Darf man kurz rein?“, fragte sie sanft.
Johannes nickte langsam. „Wenn Sie wollen. Aber… erwarten Sie nicht zu viel. Es ist… manchmal schwer.“
Wir gingen zusammen zum Zimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und drinnen roch es nach Hautcreme, Tee und dieser stillen Traurigkeit, die nicht schreit, sondern einfach da ist.
Die alte Frau lag im Bett, halb aufgerichtet, die Haare dünn, die Hände auf der Decke gefaltet. Neben ihr stand eine kleine Vase mit zwei roten Rosen, die Johannes offenbar gerettet hatte, damit der ganze „Garten“ nicht in einem einzigen großen Schlag verschwindet.
Als wir eintraten, drehte sie den Kopf. Ihr Blick wanderte über uns, suchend, als würde sie in einem Raum voller Spiegel die richtige Erinnerung finden.
Johannes ging sofort zu ihr. „Oma“, sagte er ruhig, so wie man mit jemandem spricht, der leicht erschrickt. „Ich bin’s. Johannes.“
Sie starrte ihn an. Dann verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln, das irgendwo zwischen freundlich und verloren lag. „Johannes…“, wiederholte sie, als würde sie das Wort ausprobieren. „Bist du vom Garten?“
Johannes lachte kurz auf, aber es war ein Lachen mit Tränenrand. „Ja“, sagte er. „Vom Garten.“
Die alte Frau hob langsam die Hand, tastete nach der Rose in der Vase und zog sie näher. Sie atmete ein, lange, tief, und plötzlich veränderte sich ihr Gesicht, als hätte jemand ein Licht angeknipst.
„Der Opa“, flüsterte sie. „Der Opa hat sie immer… morgens… gegossen. Mit der alten Kanne. Weißt du noch?“
Johannes erstarrte. Seine Augen füllten sich sofort. „Ja“, hauchte er. „Ich weiß es noch.“
Sie sah ihn an, und für einen Herzschlag war da Klarheit, so kostbar wie seltene Sonne im Winter. „Du bist… groß geworden“, sagte sie, und ihre Stimme zitterte. „Mein Bub.“
Ich spürte, wie mir heiß wurde, obwohl es im Zimmer kühl war. Meine Frau presste die Lippen zusammen, um nicht zu schluchzen.
Johannes beugte sich vor, nahm ihre Hand, ganz vorsichtig. „Alles wegen dir“, sagte er.
Die Klarheit hielt nicht lange. Schon im nächsten Moment wanderte ihr Blick wieder weg, als würde die Erinnerung wie ein Vogel auffliegen. Aber der eine Satz hatte gereicht, um etwas zu heilen, das man nicht sehen kann.
Wir standen noch eine Weile da, sagten nicht viel. Man redet in solchen Momenten nicht, man bezeugt.
Als wir wieder auf dem Flur waren, lehnte Johannes den Kopf kurz an die Wand, als hätte er gerade einen Marathon hinter sich. „Danke“, sagte er heiser. „Dass Sie… gekommen sind.“
„Danke“, sagte ich zurück, und diesmal meinte ich es anders als bei jeder Geschäftsfloskel meines Lebens. „Dass Sie mir gestern gezeigt haben, wie man rennt, ohne zu fliehen.“
Johannes sah mich an, und sein Blick war müde, aber fest. „Ich hab nicht viel“, sagte er. „Aber ich will nicht, dass sie geht und… ich hab’s nicht versucht.“
Ich nickte langsam. „Ich auch nicht.“
Draußen, als wir später wieder im Auto saßen, war der Himmel immer noch grau. Aber in mir war etwas, das ich lange nicht mehr gekannt hatte: eine Art Ruhe, die nicht von Urlaub kommt, sondern von richtig gesetzten Prioritäten.
Meine Frau legte ihre Hand auf meine. „Und jetzt?“
Ich startete den Motor, hörte das vertraute Brummen, das sonst immer „weiter“ bedeutet hatte. Heute bedeutete es „zurück“.
„Jetzt“, sagte ich, „fahre ich nach Hause. Wecke die Kinder. Und dann fahren wir nächste Woche wieder zu Mama. Nicht wegen Schuld. Wegen Zeit.“
Ich sah noch einmal in den Rückspiegel, auf das Pflegeheim, das hinter uns kleiner wurde. Johannes’ Gestalt stand am Eingang, die Hände in den Taschen, als müsste er sich festhalten.
Und ich dachte: Manchmal sind es nicht die großen Geschenke, die zählen. Manchmal sind es 80 Cent, die einem zeigen, dass echte Zuneigung nicht am Preis hängt, sondern daran, ob man rechtzeitig da ist.






