Die Bank im Regen | Ein alter Hund, eine Bank im Regen und das Geheimnis, das niemand vergessen konnte

Jeden Tag lag ein fremder Hund auf der Bank ihres verstorbenen Mannes.

Immer zur gleichen Uhrzeit. Immer am gleichen Ort.

Sie dachte, es sei Zufall bis er eines Tages ein Kind rettete.

Und damit ein Versprechen brach, das nie ausgesprochen wurde.

Was sie dann erfuhr, änderte alles…

🐾 Teil 1: Der Hund im Aprilregen

(Litzendorf bei Bamberg, April 2024)

Der April kam spät in diesem Jahr. Der Winter hatte sich lang gemacht, klammerte sich an Fensterläden und Weidenäste, als wollte er nicht gehen. Nun lag ein feiner Regen über den Gärten, kein Sturm, kein Donner, nur dieser stille Niesel, der sich wie Schleier über die Welt legte.

Johanna Feldmann, 78 Jahre alt, war wie jeden Morgen um kurz nach sechs aufgestanden. Der Rücken schmerzte, das rechte Knie machte beim Aufstehen wieder „klack“, und der Tee schmeckte bitterer als sonst. Aber das war egal. Seit vier Jahren ging jeder Tag gleich los. Erst die Wärmflasche aus dem Bett nehmen, dann langsam zur Küche, Wasser aufsetzen, Radio an – BR Heimat – leise genug, um den Erinnerungen nicht im Weg zu stehen.

An diesem Morgen war etwas anders.

Als Johanna zum Fenster trat, um einen Blick in den Garten zu werfen, blieb ihr die Luft weg.

Da lag ein Hund.

Nicht irgendwo im Gras, nicht auf dem Weg – nein. Auf der Bank. Friedrichs Bank.

Diese alte Holzbank unter der Markise, auf der ihr Mann fast jeden Morgen gesessen hatte. Zeitung, Kaffeetasse, Pfeife. Immer auf der linken Seite, Rücken zur Mauer, Blick Richtung Apfelbaum.

Der Hund lag genauso da.

Groß war er. Mager. Grauschwarz im Fell, mit Tropfen, die langsam von seinem Kinn tropften. Das linke Ohr war eingerissen, der Schwanz zitterte leicht, aber er bewegte sich nicht. Kein Bellen, kein Winseln nur dieser Blick: wach, ruhig, unaufdringlich.

Johanna fröstelte.
Sie öffnete die Haustür einen Spalt.

„Was machst du da draußen?“, fragte sie, eher zu sich selbst.

Der Hund hob leicht den Kopf. Blickte zu ihr. Und blieb.

Johanna schloss die Tür wieder. Sie setzte sich an den Tisch. Trank ihren Tee. Schaute immer wieder zum Fenster.


Der Hund verschwand irgendwann. Ohne Laut. Einfach weg.

Aber am nächsten Morgen lag er wieder dort. Und am übernächsten auch.

Am dritten Tag stellte Johanna ihm eine alte Metallschale mit Wasser hin. Und ein Stück Brot, das vom Frühstück übrig geblieben war. Er trank. Das Brot rührte er nicht an. Stattdessen beobachtete er sie. Ohne Angst. Ohne Forderung.

„Ich nenne dich Mika“, sagte sie plötzlich.

Woher der Name kam, wusste sie nicht. Er war einfach da. Wie der Hund.

Mika. Kurz. Ruhig. Wie ein Schatten, der sich an keine Tür klopfte, sondern einfach neben einem zu sitzen begann.


Am fünften Tag regnete es wieder stärker. Johanna holte ihre alte Regenjacke aus dem Schrank, ging hinaus und kontrollierte die Dachrinne. Mika lag wie immer auf der Bank. Klitschnass. Aber ohne zu murren.

„Du bist sturer als Friedrich“, murmelte sie.

Der Hund hob den Kopf. Nur kurz. Dann legte er ihn wieder auf die Pfoten.

An diesem Abend sprach sie mit ihm. Richtig. Nicht nur Sätze. Geschichten.

Über den Tag, an dem sie Friedrich im Krankenhaus kennenlernte, er war gerade am Blinddarm operiert worden, sie war die junge Stationsschwester mit den roten Zöpfen.
Über ihre Hochzeit im Winter 1968, mit verschneiter Kirche und heißem Kakao statt Wein.
Über den kleinen Baum, den sie 1972 im Garten gepflanzt hatten, und der nun fast höher war als das Dach.

Mika bewegte sich kaum. Aber er hörte zu. Johanna wusste das. Wie sie es früher bei Friedrich wusste, auch wenn er beim Zuhören immer vorgab, Zeitung zu lesen.


Am sechsten Tag kam der Sturm. Kein Gewitter, aber der Regen peitschte quer über die Dächer. Die Apfelblüten flogen wie Schnee durch die Luft.

Johanna blieb drinnen. Ihr rechtes Bein war geschwollen, sie band es mit einem alten Wolltuch ein.
Sie kochte Kartoffelsuppe, setzte sich ans Fenster, ließ die Teetasse auf dem Fenstersims stehen. Draußen – alles grau. Alles leer. Keine Bewegung.

Aber dann —
Gegen Abend, als sie zum dritten Mal aufstand, um das Licht im Flur auszumachen, sah sie es:

Mika.

Er lag auf der Bank. Triefend nass. Zitternd, aber aufrecht.

Johanna öffnete die Haustür. Nur einen Spalt.

„Bist du verrückt, da draußen zu sitzen?“, rief sie. Doch ihre Stimme war weich.

Mika hob den Kopf. Die Augen glänzten im Licht der Lampe. Dann senkte er sie wieder.

Es war still.

Sie stand da, barfuß auf den kühlen Fliesen, hörte den Regen prasseln, spürte, wie etwas in ihr zerbrach und zugleich warm wurde.


Sie flüsterte durch den Spalt:
„Wenn du morgen wiederkommst… dann darfst du rein. Hörst du, Mika?“


Ein einzelner Donner grollte in der Ferne. Mika blinzelte. Dann legte er den Kopf auf die nassen Pfoten und blieb liegen. Wie ein Versprechen.

🐾 Teil 2: Mika bleibt draußen

(Litzendorf bei Bamberg, Anfang Mai 2024)

Der Morgen nach dem Regen war still.
Die Vögel sangen zögerlich, als wollten sie erst prüfen, ob die Welt noch da war. Die Erde dampfte leicht, und an den Fensterscheiben perlte das Kondenswasser wie Tränen.

Johanna Feldmann trat langsam zur Tür. Der Stock in ihrer rechten Hand klopfte leise auf den Fliesenboden.

Der Hund war weg.

Die Bank war leer, nass, ein dunkler Fleck dort, wo sein Körper gelegen hatte. Ein Abdruck von Stille.

Johanna seufzte.
Sie stellte die Schale mit Wasser unter das Vordach, dazu ein Stück gekochte Kartoffel vom Abendessen. Nicht für ihn, sagte sie sich. Einfach so. Gewohnheit vielleicht.

Dann machte sie, was sie jeden Tag machte: Sie hakte Unkraut zwischen den Platten, goss die Stiefmütterchen, wechselte die Nistkästen aus.

Aber sie sprach nicht.


Er kam am Abend.
Ganz still, wie immer.
Kein Laut, kein Hecheln. Nur dieser Schatten, der über den Kiesweg glitt, sich auf die Bank legte und die Augen schloss.

Johanna trat auf die Terrasse. In ihrer Hand dampfte ein Becher Fencheltee. Der Hund hob kurz den Kopf, dann legte er ihn zurück.

Sie stellte den Becher ab.

„Ich hab gesagt, du darfst rein“, sagte sie, fast streng.

Mika reagierte nicht. Oder doch er öffnete kurz die Augen, blinzelte, dann schloss sie wieder. So, als wollte er sagen: Noch nicht. Noch nicht heute.


Die Nacht war ruhig. Und am Morgen lag Mika wieder auf der Bank. Noch bevor Johanna ihre Wollsocken gefunden hatte.

Sie ließ die Tür offenstehen.
In der Küche bereitete sie das Frühstück vor: Schwarzbrot mit Quark und ein gekochtes Ei. Zwei Scheiben legte sie auf einen Teller und stellte ihn auf die Fensterbank draußen.

Mika schnupperte. Aber er rührte das Brot nicht an. Nur das Ei nahm er, vorsichtig, wie ein Geschenk. Dann legte er sich wieder hin.


Drei Tage vergingen.
Und so wurde daraus ein Rhythmus.
Johanna redete wieder. Viel. Mehr als in den letzten vier Jahren zusammen.

Nicht immer laut. Manchmal nur in Gedanken, aber Mika war da.
Er begleitete sie bis zum Komposthaufen, wartete geduldig beim Geräteschuppen, schnupperte an den Rosenstöcken, als könne er Friedrichs Hand noch darin riechen.

Und doch er trat nicht über die Schwelle.


Die Nachbarin, Frau Reimers, blieb eines Morgens am Zaun stehen.

„Der Hund da… Ihrer?“, fragte sie mit dem Tonfall von Leuten, die gern kontrollieren.

„Er gehört sich selbst“, sagte Johanna ruhig.

Frau Reimers zog die Stirn kraus. „Kein Halsband. Vielleicht bissig. Sie wissen ja, was neulich in Walsdorf passiert ist.“

Johanna nickte. Sagte aber nichts weiter.
Als Frau Reimers gegangen war, drehte sich Mika kurz um. Blickte zur Straße. Und dann wieder zu Johanna. Als wüsste er genau, was passiert war.

„Du brauchst dich nicht zu erklären“, sagte sie.
„Die Welt hat Angst vor dem, was schweigt.“


Am Nachmittag fiel ein altes Fotoalbum aus dem Regal. Johanna hatte es seit Jahren nicht mehr geöffnet.

Die Bilder: Friedrich mit langen Koteletten, lachend am Baggersee. Johanna im Blümchenkleid, mit einer Ente auf dem Arm. Das Haus damals noch mit Wellblechdach.
Und mittendrin ein Foto, das sie beinahe überblättert hätte:

Ein Hund.
Schwarz, mit hellem Fleck auf der Stirn. Der erste Hund der Familie: Basko. 1975.

Sie erinnerte sich, wie er am Zaun wartete, wenn Friedrich vom Spätdienst kam. Wie er bellte, wenn der Milchwagen zu nah ans Haus fuhr.
Und wie still es war, als er nicht mehr da war.

Sie ließ das Album offen liegen.
Mika lag auf der Bank und schlief.


Am nächsten Morgen hatte Johanna Schmerzen im Knie. Stärker als sonst. Der Weg zur Tür war mühsam, jeder Schritt ein pochender Takt in der Hüfte.

Als sie sie öffnete, war Mika nicht da.

Die Bank – leer. Der Napf – unangetastet.

Sie wartete bis zum Mittag. Nichts.

Am Nachmittag setzte sie sich auf die Bank selbst, mit einer Decke um die Schultern. Der Platz neben ihr war kalt.
Sie schloss die Augen.


Er kam erst in der Dämmerung.

Sein Fell war schmutzig, voller kleiner Dornen. Am Ohr eine neue Schramme. Aber in seinem Maul… ein alter Gartenschuh.

Friedrichs Schuh.

Johanna schnappte nach Luft.

Sie war sich sicher, sie hatte beide Paare vor Jahren entsorgt. Alte, löchrige Dinger. Und doch, der Riss an der Seite, der abgetretene Absatz, das war sein.

Mika legte ihn vorsichtig ab. Und sah sie an.


Sie ging in die Küche. Ohne ein Wort.

Kochte zwei Kartoffeln, zerdrückte sie mit etwas Butter.
Stellte die Schale an die Tür.
Und dann, dann ging sie ein paar Schritte zurück, ließ die Haustür einen Spalt offen.

Mika blieb sitzen.

Sie setzte sich wieder auf die Bank.
Stille. Nur der Wind raschelte durch den Fliederbusch.

„Du willst es mir zeigen, nicht wahr?“, sagte sie.
„Etwas, das ich vergessen habe. Oder verdrängt.“

Mika bewegte sich nicht.

Aber als es dunkel wurde, stand er auf.
Trat an die Schwelle.
Schnupperte.

Dann ging er nicht hinein, sondern legte sich quer vor die Tür. Den Rücken zur Nacht. Den Blick zum Wohnzimmer.

Wie ein Wächter.


Kurz vor Mitternacht hörte Johanna ein Geräusch draußen.
Ein Rascheln. Dann ein Winseln.
Als sie die Tür öffnete, stand Mika da mit etwas Kleinem, Nassem ein totes Tier?
Nein. Es bewegte sich. Ein lebendes Bündel Fell.

🐾 Teil 3: Der Welpe im Maul

(Litzendorf, Mai 2024 – Nacht zur Monatsmitte)

Es war kurz vor Mitternacht.
Das Haus war dunkel, nur das schwache Glimmen der Küchenlampe spiegelte sich auf den Fliesen. Johanna lag wach. Sie hatte die Geräusche schon vor zehn Minuten gehört – das Kratzen an der Tür, ein leises Winseln, dann etwas Schwereres, dumpfer.

Nun stand sie da, die Hand am Türgriff. Zögernd.
Ein Teil von ihr hatte Angst. Nicht vor Mika. Sondern vor dem, was nun kam.
Denn irgendetwas war anders.

Langsam öffnete sie die Tür.

Der Nachtwind roch nach feuchtem Gras und Pfingstrosen. Und nach Tier.

Mika stand direkt vor der Tür. Tropfnass. Die Brust voller Dreck und kleiner Ästchen.
In seinem Maul – ein zitterndes, klatschnasses Bündel.

Nicht tot.

Es bewegte sich.

Ein Welpe.


Johanna wich einen Schritt zurück. Mika trat nicht ein. Legte den Welpen vorsichtig auf die Fußmatte. Ein kurzer Blick – fragend, fast bittend – dann ein leises Winseln.

„Du hast ihn gefunden…“, flüsterte Johanna. „Oder…?“

Sie kniete sich langsam hin. Die Gelenke knackten, das Herz hämmerte.
Der Welpe – hellbraunes, fast goldenes Fell, die Augen halb geschlossen, zu jung zum Laufen, zu schwach zum Jaulen.

Ein Rüde.

Sie hob ihn vorsichtig auf, wickelte ihn in ein altes Geschirrtuch, das in der Garderobe hing.
Mika stand still. Weder drängend noch zurückweichend.


In der Küche legte sie das Bündel in einen flachen Korb mit einem alten Wollpullover.
Der Welpe zitterte unkontrolliert.

„Milch… ich habe doch noch…“

Johanna durchwühlte die Vorratskammer. Fand eine kleine Flasche Kondensmilch, leicht abgelaufen, aber noch brauchbar.
Sie verdünnte sie mit warmem Wasser, tropfte sie auf einen Teelöffel, hielt ihn an die Schnauze.

Der Welpe schleckte. Zögerlich. Dann gieriger.

Sie atmete auf.


Mika saß am Kücheneingang. Schaute nur. Wachsam.
Die Pfoten noch nass, das Fell klebte an seinem Körper.

„Willst du… willst du ihn behalten? Oder ist er dein?“

Er legte den Kopf leicht schief.
Kein Bellen. Kein Ton.

Nur dieser Blick.


In der Nacht schlief Johanna auf dem Sofa ein. Der Welpe in seiner Kiste, Mika davor wie ein Soldat auf Wache.
Und in ihren Träumen:

Ein fremder Wald. Eine Hütte. Stimmen. Rauch.
Und irgendwo das Jaulen eines Tieres. Hoch, verzweifelt, wie ein Ruf durch Jahre.


Am Morgen weckte sie das leise Fiepen des Kleinen.
Die Sonne war schon aufgegangen, Vögel zwitscherten fröhlich in der Hecke.

Mika war weg.

Sie erschrak.
Doch noch bevor sie die Tür erreichte, hörte sie es: das Knirschen von Kies.

Mika kam zurück.
Im Maul ein altes Hundehalsband.
Abgewetzt. Leder. Kein Schild. Nur ein kleiner Anhänger:
Ein Name, halb verwischt.
„…lmo“

Johanna drehte es vorsichtig in der Hand.
„Elmo? Kalmo? Talmo?“

Sie sah zu Mika.
„Ist das… der Vater? Der Bruder? Dein Welpe?“

Mika setzte sich neben den Korb.
Der kleine Rüde reckte sich, schnupperte an ihm – kein Knurren, kein Misstrauen. Nur Nähe.


Zwei Tage vergingen.
Johanna nannte den Kleinen „Fleck“, wegen des dunklen Tupfens an seiner Stirn.
Er wurde kräftiger. Trank, schlief, winselte, pinkelte auf den Teppich. Johanna fluchte, lachte – beides zugleich.

Mika wich ihm nicht von der Seite. Er fraß wenig. Schlaf kaum. Aber er bewachte.
Und nachts…
Ja, nachts winselte er leise im Schlaf.
Ein Laut, der Johanna Gänsehaut machte.


Am dritten Abend kam die Frage von ihrer Tochter.

„Mama, du redest so anders. Was ist da los bei dir? Du klingst… lebendig.“

Johanna schwieg kurz. Dann sagte sie:
„Ich habe wieder Gesellschaft.“

„Einen neuen Nachbarn?“

„Einen alten Hund. Und einen sehr jungen.“


In der folgenden Woche gewöhnte sich alles. Fast.
Johanna ging wieder früher schlafen.
Fleck wuchs – seine Augen öffneten sich, er erkannte ihre Stimme.
Und Mika… Mika wurde unruhiger.

Er verschwand öfter. Für Stunden. Kam mit kleinen Kratzern zurück, mit Gras im Fell, manchmal mit Beute – eine tote Maus, ein Knochen, einmal sogar ein abgekauter Tannenzapfen.

Und jedes Mal, wenn er zurückkam, schnüffelte er an Fleck.
Manchmal leckte er ihm über das Ohr.
Und manchmal schaute er nur still in die Ferne.
Nach Norden. Immer nach Norden.


An einem Abend, es war der 19. Mai, stand Johanna auf der Terrasse und rief Mika.
Keine Antwort.

Sie wartete. Eine Stunde. Zwei.
Der Himmel wurde dunkel, ein leichter Nebel zog vom Waldrand her.

Als sie schon fast aufgeben wollte, tauchte er auf.
Verletzt.

Das rechte Bein blutete.
Er humpelte. Langsam.
Und in seinem Maul, ein Stück Stoff.

Ein Kinderhaargummi, pink, mit einer kleinen Plastikblume.


Johanna hielt das Stück in der Hand.
Zitterte.
Nicht vor Kälte.
„Woher hast du das, Mika?“
Der Hund blickte sie an und dann, ganz leise bellte er. Nur einmal.

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