Sie hatte aufgehört, in Spiegel zu schauen.
Die Welt draußen war zu laut, zu schnell und innen drin war nichts mehr.
Bis sie diesem Hund begegnete.
Narben. Kahle Stellen. Ein Blick wie aus der Vergangenheit.
Was heilt zuerst: das Fell oder die Seele?
🐾 Teil 1: Die Stille im Erdgeschoss
Ulrike Hansen wohnte im Erdgeschoss eines schmalen Plattenbaus am Rand von Zwickau. Drei Zimmer, davon zwei leer. Das Fenster zur Straßenseite war seit Monaten mit dicken Gardinen zugezogen. Die Pflanzen auf der Fensterbank waren vertrocknet. Der Rollladen im Schlafzimmer klemmte halb herunter.
Es war Anfang November. Das Jahr hatte sich grau eingepackt.
Ulrike war 54. Pflegehelferin auf Station C2 gewesen. Früher. Seit dem Tag, an dem Frau Mettner ihr unter den Fingern gestorben war, hatte sie sich krankgemeldet. Danach war der Antrag auf Teilzeit gekommen. Dann der auf Frührente. Es ging alles schneller, als sie gedacht hatte. Der Brief vom Amtsarzt war nicht einmal ein Schock – eher eine Erleichterung.
Sie stand früh auf, aus Gewohnheit, machte Kaffee, trank ihn nicht. Manchmal setzte sie sich ins Bad und drehte das Wasser an, nur um Geräusche zu haben. Geräusche waren leichter zu ertragen als Gedanken.
Ulrike war niemandem böse. Nicht einmal sich selbst. Nur leer.
Sie hatte das Wort „Depression“ nie gemocht. Es klang wie ein Modewort aus dem Fernsehen. Etwas, was andere bekamen. Junge Leute in Berlin vielleicht. Aber nicht sie. Sie hatte immer funktioniert. Bis sie es eben nicht mehr tat.
Einmal pro Woche verließ sie die Wohnung. Immer mittwochs. Immer derselbe Weg: 300 Meter bis zum Lidl, immer mit Kapuze und großem Beutel. Kein Blickkontakt. Kein Small Talk. Und wenn jemand „Na, Frau Hansen!“ sagte, dann nickte sie nur und ging weiter.
An diesem Mittwoch begann alles anders.
Sie hatte vergessen, Eier zu kaufen. Merkte es erst an der Kasse. Und weil eine zweite Runde durch den Laden zu viel war, entschied sie: Dann eben ohne.
Draußen nieselte es. Ein grauer, feiner Regen, der nicht fiel, sondern schwebte.
Sie ging den Umweg am Tierheim vorbei. Nicht aus Interesse – eher aus Reflex. Früher hatte sie dort manchmal ausgeholfen. Damals, als sie noch lachen konnte.
Am Zaun stand ein Schild: „Ein Herz für Streuner gesucht.“
Darunter war ein laminiertes Foto getackert. Ein Hund mit weißem Fell, das aussah wie gerupft. Narben am Ohr. Die rechte Körperhälfte kahl. Und doch diese Augen.
Ulrike blieb stehen. Zum ersten Mal seit Wochen.
Sie las den Text:
Name: Bolle
Geschlecht: Rüde
Alter: ca. 6 Jahre
Fundort: Nähe Chemnitzer Autobahn
Besonderheiten: Hautprobleme, Narben, traumatisiert – aber menschenfreundlich. Sucht dringend ruhiges Zuhause ohne Kinder.
Ulrike starrte auf das Foto. Etwas an dem Blick machte sie unruhig. Der Hund wirkte… nicht bemitleidenswert. Sondern wie jemand, der etwas wusste.
Sie wollte weitergehen, tat es aber nicht.
Stattdessen drehte sie um und ging zum Eingang des Tierheims. Ihre Hand zitterte, als sie klingelte.
Eine junge Frau öffnete. Rote Haare, Gummistiefel, freundliches Gesicht.
„Hallo, kann ich helfen?“
Ulrike räusperte sich.
„Der Hund… Bolle. Ist der noch da?“
„Ja. Sie wollen ihn sehen?“
Sie nickte. Wortlos.
Die Tierpflegerin führte sie über den Hof. Es roch nach nassem Laub und Desinfektionsmittel. Aus einer der Hütten bellte es, aber nicht laut. Eher müde.
Dann blieb die Frau stehen. „Da ist er.“
Bolle lag auf einer alten Decke, der Kopf zwischen den Pfoten. Als er Ulrike sah, hob er den Kopf, nicht hektisch, sondern prüfend. Seine Augen waren bernsteinfarben. Tief, wach, vorsichtig.
Sein Fell war stumpf. Die kahlen Stellen wirkten wie alte Geschichten auf vergilbtem Papier.
Ulrike kniete sich langsam hin.
„Hallo, Großer…“
Keine Reaktion. Kein Knurren. Kein Schwanzwedeln.
Nur ein Blick. Offen. Direkt.
„Er frisst gut, aber er lässt sich nicht gern anfassen“, sagte die Pflegerin leise. „Wahrscheinlich schlechte Erfahrungen. Wir wissen nicht viel.“
Ulrike hörte kaum zu. Sie spürte nur diesen Sog. Etwas in ihr, das nicht denken, nur fühlen wollte.
„Kann ich mit ihm raus?“
„Ich hol die Leine.“
Sie gingen bis zum Fluss. Der Weg war matschig, Ulrikes Schuhe wurden nass, aber sie merkte es nicht. Bolle ging neben ihr, ohne Zug, ohne Eile.
Kein Bellen. Kein Winseln. Nur Stille. Und Schritte.
Nach zwanzig Minuten setzte sich Ulrike auf eine Bank. Bolle blieb stehen, dann legte er sich neben sie. Mit dem Rücken zu ihr, aber nicht weit entfernt.
So saßen sie.
Minutenlang. Wortlos. Ohne Erwartung.
Dann hörte Ulrike sich flüstern:
„Ich weiß, wie das ist. Wenn keiner mehr was mit einem zu tun haben will.“
Der Hund bewegte sich nicht. Doch seine Ohren zuckten leicht.
Sie wusste in diesem Moment: Das war kein Besuch.
Das war ein Anfang.
Als sie zurückkamen, sagte sie: „Ich will ihn mitnehmen.“
Die Pflegerin wirkte überrascht.
„Wollen Sie nicht noch eine Nacht überlegen? Wir brauchen eh eine Vorkontrolle, Verträge…“
„Nein. Ich hab Platz. Und Zeit.“
Sie schaute ihr in die Augen. Ruhig. Klar.
Die junge Frau nickte. „Okay. Kommen Sie morgen? Dann bereiten wir alles vor.“
Ulrike nickte.
Auf dem Rückweg regnete es stärker. Sie ließ die Kapuze unten.
Die Luft roch nach Erde. Ihre Hände waren kalt. Aber ihr Herz pochte wieder.
Nicht schnell. Aber spürbar.
Zu Hause legte sie die Leinentasche auf den Tisch. Dann stand sie minutenlang im Flur.
Zum ersten Mal seit Monaten zog sie die Gardinen auf.
Bolle hatte Narben, aber Ulrike hatte welche, die niemand sehen konnte.
🐾 Teil 2: Ein Platz auf der Decke
Der nächste Morgen begann früher als sonst. Ulrike war schon um sechs wach, obwohl der Wecker nicht mehr klingelte.
Sie saß auf dem Rand ihres Bettes, die Hände im Schoß. Im Wohnzimmer lag eine alte Wolldecke, frisch gewaschen, auf dem Boden ausgebreitet. Daneben ein leerer Hundenapf und eine Schüssel mit Wasser.
Sie hatte nicht geschlafen, aber sie war nicht müde.
Gegen halb neun machte sie sich auf den Weg zum Tierheim. Der Nebel hing tief über der Stadt, und ihre Schritte klangen gedämpft auf dem feuchten Asphalt.
Am Tor stand dieselbe junge Pflegerin wie gestern.
„Guten Morgen, Frau Hansen. Alles bereit?“
Ulrike nickte.
In einem kleinen Büro musste sie den Übernahmevertrag unterschreiben. Der Zettel war feucht an ihren Fingern. Dann bekam sie eine Tüte mit Bolles Medikamenten, eine kurze Anleitung für das Futter und einen Zettel mit einer Telefonnummer.
„Wenn was ist, rufen Sie an. Auch nachts, ja?“
Wieder nur ein Nicken.
Dann führten sie Bolle heran. Er lief ruhig, kein Bellen, kein Ziehen. Nur ein kurzer Blick zu ihr.
Ulrike hockte sich hin, streckte die Hand aus.
„Na, mein Großer. Jetzt geht’s heim.“
Er ließ sich das Halsband anlegen. Keine Gegenwehr.
Zuhause schnupperte er vorsichtig an der Türschwelle, als hätte er Angst, dass es wieder nur ein Übergang sei.
Ulrike hielt ihm die Tür auf.
„Ist nicht schön hier, aber es ist deins. Wenn du willst.“
Er trat ein. Schritt für Schritt.
Dann blieb er vor der Decke stehen. Rührte sich nicht.
Ulrike beobachtete ihn.
Nach einer langen Minute legte er sich nieder.
Nicht zusammengerollt, sondern ausgestreckt.
Sie atmete leise aus.
Es war ein Anfang.
In den ersten Tagen lebten sie nebeneinander her. Kein Wort, kein Befehl, kein übertriebener Versuch, Nähe zu erzwingen.
Ulrike stellte das Futter hin, stellte es später wieder weg, wenn er es nicht angerührt hatte. Sie redete nicht viel mit ihm. Nur manchmal.
„Ich kann dich verstehen, weißt du. Manchmal geht einfach nichts mehr. Auch wenn man eigentlich müsste.“
Oder:
„Die Menschen denken, man müsste immer gleich wieder funktionieren. Aber das geht nicht. Nicht, wenn’s innen drin brennt.“
Bolle hörte zu. Oder tat zumindest so.
Nach fünf Tagen kam der erste Blickkontakt. Kein langer, nur ein kurzer Moment, als er sie beobachtete, während sie Geschirr spülte.
Nach sieben Tagen folgte ein leises Winseln, als sie abends das Licht ausmachte.
Sie ließ die Tür zum Schlafzimmer offen.
Am nächsten Morgen lag er vor der Schwelle. Nicht drinnen. Nicht draußen.
Ein Wächter.
Die Spaziergänge wurden länger. Zuerst nur ein paar Meter, dann bis zur Wiese am alten Bahndamm.
Ulrike sprach kaum mit Menschen. Aber manchmal traf sie eine ältere Frau mit Dackel.
„Na, der sieht ja mitgenommen aus“, sagte die beim ersten Treffen.
Ulrike hätte früher geschwiegen. Aber diesmal antwortete sie.
„Ja. Aber er lebt.“
Ein Satz, einfach, geradeheraus. Und irgendwie war sie selbst erstaunt, dass sie ihn so gesagt hatte.
Nach zwei Wochen fing Bolle an zu fressen.
Nicht gierig. Ruhig.
Sie hörte das Kratzen der Zähne am Napfrand und lächelte.
Danach legte er sich auf seine Decke und schnaubte tief.
Es war, als hätte jemand ein Fenster geöffnet.
Ulrike begann, die Wohnung zu säubern. Nicht aus Pflicht, sondern weil der Staub sie plötzlich störte.
Sie räumte ein altes Bücherregal aus, wischte die Regalbretter, sortierte das Besteck.
Und am dritten Sonntag nahm sie zum ersten Mal wieder den Spiegel im Flur wahr.
Ihr Blick war müde. Die Haut fahl. Die Haare dünner als früher.
Aber sie wich nicht aus.
Bolle stand hinter ihr.
Sein Blick traf ihren im Spiegel.
Und sie sah darin keinen Mitleid. Nur Dasein.
Eines Morgens, es war Mitte Dezember, fand sie eine Schachtel auf der Treppe.
Darin lag ein Brief:
„Liebe Frau Hansen, wir Nachbarn haben mitbekommen, dass Sie nun einen Hund haben.
Hier ein kleines Willkommensgeschenk.
Vielleicht mag Bolle das.“
Drin lagen ein Quietschspielzeug und ein Beutel Leckerli.
Ulrike hielt die Tüte in der Hand. Ihre Finger zitterten leicht.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr zuletzt jemand einfach so etwas geschenkt hatte.
Sie legte das Spielzeug auf die Decke.
Bolle schnupperte daran, nahm es ins Maul, ließ es wieder fallen.
Dann stupste er es an. Es quietschte.
Er zuckte zusammen, blickte sie an.
Sie lächelte.
„Mach ruhig. Es gehört dir.“
Er tat es. Und diesmal wedelte sein Schwanz.
Langsam.
Aber er tat es.
In der Nacht träumte Ulrike zum ersten Mal seit Monaten.
Kein Albtraum.
Sie sah sich selbst auf einer Bank am See. Neben ihr: Bolle.
Und sie hatte keine Angst.
Nicht vor der Zukunft. Nicht vor der Leere.
Am nächsten Tag regnete es.
Ulrike zog sich an. Gummistiefel. Alte Regenjacke.
„Komm, Großer. Heute schauen wir uns die Welt im Grau an.“
Bolle stand schon an der Tür.
Sie liefen bis zur Brücke.
Dort, am Geländer, blieb Bolle stehen.
Er schnupperte. Starrte nach unten.
Dann winselte er.
Ulrike trat neben ihn.
Im Matsch lag etwas. Ein altes Halsband.
Zerfetzt.
Verloren.
Sie bückte sich, hob es auf. Die Schnalle war verrostet.
Ein Namensschild hing noch daran. Die Buchstaben halb verwischt.
„Nero“
Bolle winselte wieder. Dann legte er sich hin.
Ulrike verstand nicht gleich.
Aber irgendetwas an diesem Namen, an Bolles Reaktion, ging ihr durch und durch.
Sie strich ihm über den Rücken.
„Warst du das? Früher? Nero?“
Der Hund hob den Kopf.
Sah sie an.
So klar, so durchdringend, dass sie erschrak.
Sie spürte plötzlich: Dies war nicht irgendein Fundhund.
Da war mehr.
Viel mehr.
In Bolles Augen stand eine Geschichte, die noch niemand erzählt hatte, vielleicht nicht einmal er selbst.
🐾 Teil 3: Der Name im Schnee
Zwei Tage später fiel der erste Schnee.
Kein dramatischer Wintereinbruch, nur ein stilles, leises Rieseln über den Häusern von Zwickau. Die Dächer wurden gepudert, die Straßen grau-weiß.
Ulrike trat ans Fenster, zog die Gardine zur Seite. Bolle saß schon auf seiner Decke, den Kopf zur Balkontür gedreht, als spüre er den Wechsel der Jahreszeit.
Sie öffnete die Tür. Kalte Luft drang in die Wohnung. Bolle trat hinaus, vorsichtig, die Pfoten setzten sich langsam in das unbekannte Weiß.
Er blieb stehen und blickte nach oben.
Sein Fell wirkte im Schneefall fast golden, wo es nicht kahl war. Die Narben glänzten leicht.
„Komm, wir gehen“, sagte Ulrike.
Der Weg führte sie wie immer zum Bahndamm. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen, und Bolle lief voraus. Kein Ziehen, kein Zögern.
Als sie die alte Brücke erreichten, blieb Bolle stehen. Wieder genau an der Stelle, an der sie das Halsband gefunden hatten.
Ulrike sah ihn an. „Nero…“, sagte sie leise.
Der Name schmeckte ihr fremd auf der Zunge.
Bolle drehte sich nicht um. Doch sein Schwanz bewegte sich ganz leicht.
Sie nahm das alte Halsband wieder aus der Jackentasche. Der Schnee hatte es etwas aufgeweicht, aber das Namensschild war noch lesbar.
Nero – Tel. 0375-…
Die Zahlen dahinter waren abgerieben.
Ulrike sah sich um. Kein Mensch weit und breit.
Sie hockte sich zu Bolle.
„War das dein Name? Vor Bolle?“
Der Hund leckte ihr über die Hand.
Zu Hause saß sie am Küchentisch mit dem Halsband vor sich.
Sie wusste nicht, warum es sie so beschäftigte. Vielleicht war es das Bedürfnis nach Ordnung, nach Antworten. Vielleicht war es auch etwas anderes, die Ahnung, dass Bolle nicht nur eine Vergangenheit hatte, sondern auch eine Geschichte, die es wert war, erzählt zu werden.
Sie rief beim Tierheim an. Die rote Haare vom ersten Tag meldete sich.
„Hier ist Ulrike Hansen. Es geht um Bolle… also… vielleicht heißt er ja Nero?“
„Moment… Nero?“
Sie hörte das Klicken einer Tastatur.
„Hm. Nein, unter dem Namen haben wir keinen Eintrag. Warum?“
Ulrike erzählte von dem Halsband. Von der Brücke. Von Bolles Reaktion.
„Könnte Zufall sein. Oder… Sie könnten versuchen, beim Tierarzt nachfragen. Wenn er mal gechippt war, könnten die was finden.“
„Danke. Ich versuch’s.“
Zwei Tage später saß sie mit Bolle in der Tierarztpraxis an der Crimmitschauer Straße.
Der Wartebereich war voll. Eine Frau mit einem nervösen Mops. Ein Junge mit einem Karton auf dem Schoß, aus dem es piepte.
Bolle saß ruhig neben ihr. Kein Zittern, kein Bellen. Nur sein Blick wanderte durch den Raum – wach, aber nicht panisch.
Als sie aufgerufen wurde, war die junge Tierärztin erstaunt.
„Den kenn ich doch. Das ist der aus dem Tierheim, oder? Bolle?“
Ulrike nickte. „Vielleicht hieß er mal anders.“
Sie legte das Halsband auf den Tisch.
Die Tierärztin runzelte die Stirn. Dann griff sie zum Lesegerät und fuhr damit über Bolles Nacken.
Ein kurzer Piepton.
„Aha. Da ist was.“
Sie tippte etwas in den Computer.
Dann hob sie den Kopf.
„Hier steht: registriert als ‚Nero‘. Besitzer war ein Herr Gregor P. aus Meerane. Der Chip wurde 2019 gesetzt. Danach keine Updates.“
„Und dieser Mann?“
„Verstorben. 2021. Laut Vermerk an Lungenkrebs.“
Ulrike schluckte.
„Der Hund wurde nach seinem Tod nicht mehr gemeldet. Wahrscheinlich ist er weggelaufen. Oder man hat ihn ausgesetzt.“
Sie schwieg.
„Ich kann Ihnen eine Kopie der Daten mitgeben. Ist gut, das zu wissen.“
Auf dem Rückweg lag Schnee auf den Ästen. Die Stadt wirkte gedämpft, fast wie eine Erinnerung.
„Nero“, sagte sie leise.
Bolle hob den Kopf.
„Also warst du mal jemandes Hund. Und der jemand… war vielleicht gar nicht schlecht.“
Bolle lief ruhig neben ihr. Er schnüffelte an einer alten Zeitung, hob das Bein an einem Laternenmast.
Es war das erste Mal, dass Ulrike ihn so… normal sah.
Nicht wie ein gebrochener Hund, sondern wie ein Teil dieser Welt.
Zuhause legte sie das neue Dokument in eine kleine Schachtel. Daneben das Halsband.
Ein Stück Vergangenheit.
Sie setzte sich auf den Boden, neben Bolles Decke.
Er kam zu ihr, legte sich neben sie.
Sein Kopf auf ihrem Oberschenkel.
Und dann passierte es.
Zum ersten Mal seit Jahren liefen ihr die Tränen.
Nicht aus Trauer.
Nicht aus Angst.
Einfach nur, weil da jemand war, der blieb.
Der nicht fragte, nicht forderte, nicht ging.
Sie schluchzte leise.
Bolle hob den Kopf, leckte über ihre Wange.
Einmal. Sanft.
Dann blieb er einfach liegen.
Am Abend öffnete Ulrike das Fenster.
Draußen rieselte wieder Schnee.
Sie stellte sich ans Fensterbrett, atmete die kalte Luft.
„Morgen fahren wir nach Meerane. Vielleicht finde ich sein Grab.“
Sie wusste nicht, warum sie das sagte. Oder ob es eine gute Idee war.
Aber da war dieses Ziehen in der Brust.
Ein Wunsch, den Kreis zu schließen.
Nicht nur für Bolle.
Auch für sich.
Im Schnee lag nicht nur Vergangenheit, manchmal zeigte er auch, wo ein Weg enden durfte.