Der letzte Hund | Als der letzte Hund ging und ein anderer kam, leise wie der Wind am Westzaun

Sie hatte ihn draußen am Westzaun begraben, direkt neben den anderen und diesmal wischte sie sich die Tränen nicht mehr aus dem Gesicht.

Der Boden war noch halb gefroren, der Frühling kam nur langsam, wie ein alter Mann, der sich durch matschigen Schnee schleppte. Hannelore Berger war wie immer vor Sonnenaufgang aufgestanden. Nur heute war alles anders.

Kein leises Winseln an der Tür. Kein Kratzen der Pfoten auf dem Flur. Keine wachsamen Augen, die sie beim Kaffeetrinken beobachteten, als wäre es ein heiliges Ritual.

Bruno war tot.

Der Letzte.

Er war in der Nacht gegangen, ganz still, zusammengerollt unter der Holzbank im alten Schuppen. So, wie sie alle gegangen waren. Zwölf Jahre war er alt geworden. Hannelore war neunundsiebzig.

Sie stand mit der Schaufel in der Hand, die Gummistiefel schwer vom lehmigen Matsch. Der Wind von der Rhön wehte ihr durch den Mantel, der mehr Löcher als Knöpfe hatte. Sie hatte sich seit Jahren keinen neuen gekauft – wozu auch? Alles geht kaputt: Mäntel, Knochen, Jahreszeiten, sogar die Erinnerung.

Sie sah auf das Leintuch hinab, in das sie Bruno gewickelt hatte.

„Du warst gut, Junge. Richtig gut.“

Bruno kam nach Felix. Der kam nach Bella, die nach Max, der wiederum nach Bärbel. Davor waren da Rex, Lotti und der erste, Wotan. Allesamt Schäferhunde, ausgebildet und loyal, einer klüger als der andere. Als ob sie den Takt des Landes von Geburt an kannten – wann sie hüten mussten, wann sie still sein sollten, wann sie Hannelore einfach nur die Hand lecken sollten, ohne dass sie etwas sagte.

Sie waren keine Haustiere. Sie waren Kollegen. Vielleicht sogar Familie.

Viel hatte sich verändert seit Wotan. Der Feldweg hinterm Haus war asphaltiert worden. Die alte Molkerei war jetzt ein Supermarkt. Die Nachbarn grüßten nicht mehr. Kinder halfen nicht mehr bei der Heuernte. Und die alten Höfe? Verkauft. Entkernt. Zu Ferienwohnungen umgebaut.

Sogar die Dorfkirche hatte man vor zwei Jahren geschlossen.

Aber die Hunde?

Die hatte sie noch gehabt. Jedenfalls bis jetzt.

Sie kehrte vom Begräbnis zurück. Steif. Müde. Die Hände wund. Die Knie knirschten bei jedem Schritt. Das Haus war still.

Diese Art von Stille, die summt.

Die dir sagt, wie lang es her ist, dass jemand mit dir gesprochen hat und nicht nur, weil ein Arzt es musste.

Sie setzte sich an den Küchentisch. Neben dem Fenster stand ein Foto: Sie mit vielleicht dreißig Jahren, kräftig, klarer Blick, eine Gießkanne in der Hand, ein junger Hund an ihrer Seite, und das satte Sommerlicht über dem Haunetal.

Sie erinnerte sich am besten an Bella.

Bella war ihr erster Hund gewesen – ein Geschenk ihres Mannes zur Hochzeit 1966. Ein drahtiges Tier mit bernsteinfarbenen Augen und einem Herz aus Gold. Sie konnte die Schafe lenken wie ein Dirigent sein Orchester. Nie musste man ihr sagen, was zu tun war.

Als das Hochwasser 1970 kam, war es Bella, die die sieben Lämmer in den oberen Stall trieb. Ohne Kommando. Nur mit Instinkt.

Hannelore hatte nie einen Menschen so bewundert wie dieses Tier.

Nicht mal ihre Kinder, und das war kein Vorwurf. Der Sohn lebte in Hamburg – Stadtverwaltung, irgendwas mit Verkehr. Die Tochter schickte Karten aus Mallorca. Absender: „Sybille & Thomas, Ferienresidenz Son Vida“.

„Du bist zu weich“, hatte ihr Mann Karl oft gesagt, wenn sie die Namen der Hunde in kleine Holzschilder schnitzte und am Zaun befestigte, jedes Mal, wenn einer ging.

„Mag sein“, hatte sie geantwortet. „Aber sie sind geblieben.“

Langsam stand sie auf, griff zur alten Flasche Doppelkorn, die noch von Karl übrig war. Nicht um zu trinken. Nur, um das Zittern zu beruhigen. Sie goß ein wenig in ihre Tasse und ein paar Tropfen vor die Haustür. Für Bruno.

Der Wind schlug die Tür an. Klapperte. Früher hatte das Bruno auf die Palme gebracht. Er bellte, als ob der Feind kam dann sah er zu ihr hoch. Fragend. Hoffnungsvoll.

Ein Mensch weint nicht, wenn ein Hund stirbt. Nicht sichtbar. Nicht laut.

Aber heute?

Heute weinte sie.

Nicht, weil Bruno der beste war – obwohl er verdammt nah dran war.

Sondern weil es sich anfühlte, als wäre der letzte Faden gerissen.

Keine Hunde mehr.

Keine Schafe mehr.

Keine „Hannelore mit ihrem Schäferhund“.

Nur noch Hannelore.

Am Nachmittag ging sie zum alten Stall. Die Bretter waren grau, das Holz spröde. Die Tür ächzte, als wollte sie sie erkennen.

Innen war alles, wie sie es hinterlassen hatte. Die Eimer. Die alten Halfter. Und Brunos erstes Halsband – das viel zu groß für seinen Welpenhals war, damals im Winter 2012.

Sie setzte sich auf den umgedrehten Melkeimer. Genau da hatte sie früher Pause gemacht. Mit Kaffee in der Thermoskanne und einem Hund neben sich, der nur atmete, mehr nicht. Und das reichte.

Komisch. Man sagt, Hunde seien die Stillen.

Aber sie füllen Räume auf eine Weise, die kein Mensch kann.

Sie schreiben keine Briefe. Rufen nicht an.

Aber sie sind da. Immer.

Am Abend zündete sie den Ofen an. Nicht wegen der Kälte.

Wegen dem Geräusch.

Dem Knistern. Der Wärme, die sich nicht vortäuschen lässt.

Sie zog die Wolldecke über die Beine, goß noch einen Fingerbreit Korn ein, und öffnete das kleine Notizbuch aus der Schublade. Darin standen alle Namen. Alle Jahre. Kleine Erinnerungen.

Bella – 1966–1979

Hat nie gebellt, ohne Grund. Hatte die Herde besser im Griff als jeder Lehrling.

Rex – 1980–1992

Schiefes Laufen. Große Seele. Wich nie von Karls Seite, bis zu seinem letzten Tag.

Bruno – 2012–2025

Zart. Klug. Wusste, wann ich Nähe brauchte. Stand immer an der Tür, jeden Morgen.

Sie hielt kurz inne. Dann schrieb sie die letzte Zeile:

Der Letzte.

Sie legte das Buch zurück, löschte das Licht und lauschte dem Wind, wie er gegen die Scheibe klopfte.

Am Morgen stand sie am Zaun. Die Hände in den Taschen. Der Blick ins leere Feld.

Nichts bewegte sich.

Und doch gerade als der Nebel aufriss und die Sonne über den Hügel kam – glaubte sie, sie zu sehen.

Die ganzen Hunde.

Aufgereiht wie früher.

Ohren aufgestellt. Augen hell. Ruten wedelnd.

Am Rand des Feldes, bereit.

Wartend.

Vielleicht waren sie da.

Vielleicht war es nur Erinnerung, die gnädig war.

Aber eines wusste sie sicher:

Sie hatte nie allein gelebt.

Der Tag nach Brunos Begräbnis war grau. Nicht von Regen. Sondern von einer jener Farben, die man nicht benennen kann. Zwischen Staub und Erinnerung. Zwischen dem, was war, und dem, was nicht mehr kommt.

Hannelore öffnete das Fenster. Der Tau war noch auf den Büschen. Im Feld krähten zwei Raben. Sonst nichts.

Sie ging nicht gleich raus. Nicht heute. Sie wollte dem Tag Zeit geben. Zeit, sich zu entfalten, ohne sie zu überrollen.

Doch dann fiel ihr Blick auf den Westzaun.

Dort, wo die Erde noch frisch war. Wo das letzte Leintuch lag, eingebettet unter dem dunklen Matsch.

Und daneben, bewegte sich etwas.

Ein Schatten.

Scroll to Top