Der Hund im Briefkasten | Ein Zettel, ein Hund, ein alter Briefkasten und eine Reise in die eigene Vergangenheit

Ich hatte zwanzig Jahre lang Briefe zugestellt.

Aber auf das, was eines Morgens in meinem eigenen Briefkasten lag, war ich nicht vorbereitet.

Ein Knäuel aus Fell, Blut und etwas, das nach Hoffnung roch.

Daneben ein Zettel, der mir den Atem nahm: „Ich habe niemanden mehr.“

Und plötzlich begann die Suche, nicht nur nach dem Absender, sondern nach allem, was ich verloren glaubte.

🐾 Teil 1: Der Zettel im Regen

Roselinde Krause war früh wach an diesem Märzmorgen. Nicht aus Gewohnheit, sondern weil der Wind an den Fensterläden zerrte wie ein Kind, das ins Warme wollte.

Sie schob die schwere Wolldecke zur Seite und tappte auf Strümpfen zur Tür. Der Regen hatte über Nacht eingesetzt. Feiner Niesel, wie man ihn nur im März in der Altmark kennt, kalt genug für Frost, nass genug für Kummer.

Roselinde lebte allein am Rand von Gardelegen. Ein kleines Backsteinhaus mit Garten, verwildert wie ihr Kalender, der noch immer auf Dezember stand. Seit ihrer Pensionierung vor drei Jahren hatte sie keine Briefe mehr gebracht. Niemand schrieb. Niemand rief.

Sie öffnete die Haustür. Frischer Kaffeeduft lag in der Luft, drinnen, wo’s noch Wärme gab. Draußen nur das Plätschern der Dachrinne und ein seltsames Geräusch, als hätte etwas in ihrem alten Briefkasten gescharrt.

Der Kasten war alt, noch aus DDR-Zeiten. Grün lackiert, mit einem rostigen Klappdeckel. Die meisten Werbezettel fielen inzwischen einfach durch. Doch heute war etwas anders. Heute zitterte der Kasten.

Roselinde trat näher. Vorsichtig hob sie den Deckel an.

Ein Schock durchfuhr sie.

Darin lag ein kleiner Hund. Eingewickelt in eine alte, beige Daunenjacke. Zitternd, nass, mit blutverkrusteten Pfoten. Die Augen halb geschlossen, der Körper schmal wie ein Kaninchen. Ein Geruch nach Angst, Erde und etwas Süßlichem stieg auf.

Neben der Jacke lag ein Zettel. Schmierpapier, feucht, aber noch lesbar:

„Ich habe niemanden mehr.“

Roselinde rührte sich lange nicht.

Sie hatte in ihrem Leben viele Briefe gelesen. Letzte Worte, Mahnungen, Glückwünsche. Aber dieser Satz war wie ein stilles Messer. Er schnitt durch ihre Brust, dort, wo seit Jahren nur noch Routine gewohnt hatte.

Sie holte den Hund vorsichtig heraus. Er wimmerte leise, kaum hörbar. Die Jacke war mit einem fremden Waschmittel parfümiert, blumig, fast billig.

„Du armes Ding“, murmelte Roselinde.

Drinnen legte sie ihn auf ein altes Handtuch vor den Kamin. Das Tier war zu schwach zum Aufstehen. Sie sah jetzt deutlicher: Ein Welpe, vielleicht drei Monate alt. Vermutlich ein Mischling, irgendwas zwischen Dackel und Border Collie. Die Ohren zu groß, die Pfoten zu schmal. Doch da war etwas Kluges in seinem Blick, trotz aller Müdigkeit.

Sie wählte die Nummer der Tierärztin in der Stadt – Dr. Freiling.

„Ich habe hier… also… jemand hat mir einen Hund dagelassen. Er ist verletzt. Können Sie…?“

Die Tierärztin versprach zu kommen.

Roselinde kochte Haferflocken. Nicht für sich. Für den Hund. Löffelweise fütterte sie ihn, bis er leicht mit dem Schwanz zuckte. Sie sprach leise mit ihm. Ganz automatisch, wie früher mit den alten Damen in der Gartenkolonie.

Als es an der Tür klingelte, lag der Welpe bereits zusammengerollt im Korb, eingekuschelt in das Jackenfutter.

Dr. Freiling war klein, streng und pragmatisch.

„Nicht gechippt“, sagte sie nach dem Abtasten. „Aber kein Straßenhund. Die Verletzungen sind frisch. Vielleicht wurde er irgendwo eingeklemmt.“

„Und ausgesetzt?“ fragte Roselinde.

Die Tierärztin zuckte mit den Schultern.

„Wenn man nicht mehr weiterweiß, lässt man manchmal einfach los.“

Den ganzen Tag über ließ Roselinde den Zettel nicht aus den Augen.

„Ich habe niemanden mehr.“

Wer schreibt so etwas?

Wer nimmt eine alte Jacke, wickelt ein Lebewesen hinein und legt es still in einen Kasten? Das war kein Akt der Gleichgültigkeit. Das war Verzweiflung – verpackt in Wärme, versteckt in der Hoffnung, dass jemand wie Roselinde noch da wäre.

Am Abend lag der Hund auf einem alten Sofakissen. Er hatte getrunken, ein wenig gegessen. Roselinde nannte ihn „Muck“.

„Nur vorläufig“, sagte sie, „bis wir rausfinden, wo du hingehörst.“

Doch in ihrem Innersten wusste sie, dass dieser Name bleiben würde.

In der Nacht träumte sie von Briefen.

Von Händen, die sie nie gesehen hatte. Von Absendern, die ihr Gesicht nicht kannten. Von Sätzen, die durch ihre Hände geglitten waren, ohne dass sie je erfahren hätte, ob sie angekommen waren – nicht im Briefkasten, sondern im Herzen.

Am nächsten Morgen holte sie die Jacke aus dem Wäschekorb. In einer der Taschen steckte ein zerknickter Einkaufszettel. Auf der Rückseite, fast übersehen, stand in Druckbuchstaben:

„Altmarkstraße 17, Wust-Fischbeck.“

Ein Ort, 40 Kilometer entfernt.

Roselinde starrte lange auf die Schrift.

Dann zog sie ihren alten Regenmantel an, legte Muck in eine Reisetasche mit Decke – und machte sich auf den Weg.

Nicht, weil sie neugierig war.

Sondern weil jemand, irgendwo, vielleicht genau das gehofft hatte.

Und weil es nicht nur Mucks Geschichte war, die dort begann, sondern vielleicht auch ihre eigene.


Was Roselinde an der Altmarkstraße finden würde, hatte mehr mit ihr zu tun, als sie zu ahnen wagte.

🐾 Teil 2: Die Tür mit den rostigen Zahlen

Die Straße war schmal und leer, flachgezogen zwischen Feldern und kahlen Alleen. Wust-Fischbeck war eines dieser Dörfer, die man überfährt, ohne sie zu bemerken. Kein Bäcker, kein Gasthof, nur ein altes Bushäuschen, das mehr Moos als Holz kannte.

Roselinde parkte ihren Opel Corsa vor einem Haus, das früher einmal grün gewesen sein musste. Die Hausnummer war nur noch schemenhaft zu erkennen. „17“ stand da, verwaschen, mit rostigen Nägeln befestigt. Der Putz bröckelte, die Vorhänge dahinter hingen schief. Aber jemand wohnte hier. Das verriet der Blumentopf auf der Fensterbank mit einer einzigen verblühten Geranie.

Muck rührte sich in der Tasche.

„Gleich sind wir schlauer, mein Kleiner“, sagte Roselinde leise und stieg aus.

Sie klopfte. Nichts.

Dann klingelte sie. Ein krächzender Ton, wie aus einer alten Türglocke.

Stille.

Sie wollte sich gerade abwenden, da hörte sie ein Geräusch, langsame, schleppende Schritte. Die Tür öffnete sich einen Spalt.

Ein Mann, vielleicht Ende siebzig, mit eingefallenen Wangen und einem Blick, der irgendwo zwischen Misstrauen und Müdigkeit hing. Er trug ein Hemd mit fehlenden Knöpfen und hielt sich an der Türklinke fest, als bräuchte er Halt für mehr als nur sein Gleichgewicht.

„Ja bitte?“

„Guten Tag. Mein Name ist Roselinde Krause. Ich… ich glaube, Sie haben etwas verloren.“

Er runzelte die Stirn. Dann wanderte sein Blick zur Tasche.

„Der Hund?“

„Er lag in meinem Briefkasten. In einer Jacke mit dieser Adresse.“

Der Mann öffnete die Tür weiter. Ein Geruch aus alter Suppe und kaltem Rauch drang heraus.

„Kommen Sie rein“, sagte er.

Roselinde zögerte, trat dann über die Schwelle. Der Flur war schmal, die Tapete wellig. Fotos hingen an den Wänden – verblasst, manche schief, eines auf den Boden gefallen. Darauf ein Junge mit roten Locken und Sommersprossen, vielleicht zehn Jahre alt.

„Setzen Sie sich“, sagte der Mann und zeigte auf einen abgewetzten Sessel im Wohnzimmer.

Sie ließ die Tasche mit Muck auf dem Teppich stehen. Der Welpe steckte vorsichtig die Nase heraus.

„Ich heiße Georg. Georg Brinkmann“, sagte der Mann nach einer Weile. Seine Stimme war trocken, als hätte sie lange nicht gesprochen.

„Ist das Ihr Hund?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nicht direkt. Er gehörte… meinem Enkel.“

Roselinde hob die Augenbrauen.

„Ihr Enkel?“

„Tom. Zehn Jahre alt. Er lebte bei mir, bis… na ja, bis vor ein paar Tagen.“

Georg stand auf, ging zum Fenster, blickte hinaus, als könnte die Landschaft ihm helfen, Worte zu finden.

„Seine Mutter, meine Tochter, ist vor zwei Jahren gestorben. Krebs. Der Vater ist irgendwo in Bayern. Seitdem war Tom bei mir.“

Er drehte sich um. Die Stimme brüchig.

„Ich hab’s nicht geschafft. Mit ihm. Mit dem Hund. Mit allem.“

Roselinde sagte nichts. Manchmal war Schweigen mehr Trost als Worte.

Georg fuhr fort: „Ich dachte, wenn ich den Hund weggebe, würde es Tom nicht mehr so wehtun. Dass es vielleicht besser wird. Aber er hat’s gesehen. Hat geschrien. Ist abgehauen. Und jetzt ist er weg.“

Ein Kloß stieg Roselinde in den Hals.

„Wie lange ist das her?“

„Vier Tage.“

Sie sah ihn an. Alt, erschöpft, voller Schuld. Und plötzlich verstand sie, warum jemand den Hund nicht einfach irgendwo ausgesetzt, sondern in einem Briefkasten abgelegt hatte. Warum er eingewickelt war. Warum der Zettel nicht wütend war, sondern ehrlich.

„Ich hätte ihn ins Tierheim bringen können“, sagte Georg leise. „Aber das hätte sich schlimmer angefühlt. Unmenschlich. Also hab ich gehofft… dass ihn jemand findet, der es besser macht als ich.“

Roselinde beugte sich zu Muck, der jetzt vorsichtig auf allen vieren stand. Er wackelte zur Mitte des Raums, schnupperte, blieb dann vor einem Paar Kinderschuhe stehen, das unter dem Tisch lag.

Georg bemerkte es.

„Er sucht ihn. So wie ich.“

Roselinde seufzte.

„Ich werde Ihnen helfen.“

„Wie?“

„Ich bin dreiundsechzig. Ich habe Zeit. Ein kleines Auto. Und ich kann lesen, was zwischen den Zeilen steht. Vielleicht hat er sich nicht weit entfernt. Gibt es einen Ort, den er mochte? Einen Baum? Einen Hof? Irgendeine Hütte?“

Georg dachte kurz nach.

„Den alten Güterbahnhof. Da hat er oft gespielt. Züge beobachtet. Vielleicht…“

Roselinde nickte.

„Dann fahren wir hin.“

Der Güterbahnhof lag am Rand des Ortes, hinter stillgelegten Gleisen. Verrostete Waggons standen da wie Mahnmale. Eine verfallene Lagerhalle. Zerbrochene Fenster. Aber keine Spur von Tom.

Muck schnupperte, lief ein paar Schritte, wedelte leicht mit dem Schwanz, aber keine Spur führte weiter.

Sie suchten stundenlang. Fragten an Haustüren. Zeigten das Foto aus Georgs Wohnzimmer. Niemand hatte den Jungen gesehen. Die meisten schüttelten nur den Kopf oder machten schnell die Tür zu.

Gegen Abend standen sie wieder vor Georgs Haus. Die Schatten wurden länger, das Licht blasser.

„Vielleicht will er nicht gefunden werden“, murmelte Georg.

Roselinde sah ihn an.

„Oder er wartet darauf, dass jemand ihn wirklich sucht.“

In dieser Nacht schlief Roselinde bei Georg auf der durchgesessenen Couch. Muck lag zu ihren Füßen. Ein Radio in der Küche rauschte leise, wie ein alter Atem.

Und irgendwann, kurz vor Mitternacht, hörten sie ein Geräusch.

Ein Kratzen. Ein Klopfen.

Roselinde war sofort wach. Sie zog sich den Mantel über, trat in den Flur.

Georg stand schon an der Tür.

Er öffnete langsam.

Und da stand ein Junge. Mager, blass, mit schmutzigen Knien und roten Augen.

„Ich wollte nur sehen, ob er noch lebt“, flüsterte Tom.

Muck jaulte leise und lief sofort zu ihm.

Tom kniete sich hin, legte beide Arme um den Hund und begann zu weinen. Still. Ohne Schluchzen. Nur Tränen, die liefen, als hätten sie schon lange darauf gewartet.

Georg stand wie erstarrt.

Roselinde trat zu ihm. Legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Draußen regnete es wieder.

Aber diesmal war es ein anderer Regen. Einer, der wusch. Nicht nur Dächer, sondern Schuld und Scham. Einer, der etwas zurückbrachte, das fast verloren war.

Am nächsten Morgen war der Zettel verschwunden und an seiner Stelle lag etwas, das noch mehr Fragen aufwarf.

🐾 Teil 3: Das Foto im Umschlag

Roselinde war früh wach. Die Nacht war unruhig gewesen, nicht wegen des Sofas, das drückte, oder der kalten Luft, die durchs Fenster zog, sondern wegen der Gedanken, die keine Ruhe gaben.

Muck schlief zusammengerollt im Sessel, die Nase unter die Pfote gesteckt. Tom lag im Kinderzimmer, die Tür nur angelehnt. Es war still im Haus, aber nicht mehr leer. Etwas hatte sich verändert. Etwas war zurückgekommen.

Sie trat barfuß in den Flur. Der Briefkasten hing schief. Offen. Als hätte ihn der Wind in der Nacht bewegt. Drinnen lag nichts. Jedenfalls nichts, was nach einem neuen Zettel aussah.

Doch dann, auf der Fußmatte, sah sie es. Ein brauner Briefumschlag. Ohne Adresse. Ohne Absender. Nur ihr Name, mit Kugelschreiber geschrieben:

“Für Frau Krause.”

Roselinde runzelte die Stirn. Sie nahm den Umschlag vorsichtig auf. Das Papier war leicht feucht, aber intakt. Drinnen steckte ein einziges Foto. Schwarz-weiß. Alt.

Es zeigte eine Gruppe junger Frauen in Uniform. Postuniformen aus den Siebzigerjahren. Fahrräder. Brieftaschen. Und in der Mitte: sie selbst. Jünger, schlanker, mit kurzem Haar und einem Ausdruck, den sie fast vergessen hatte.

Und daneben eine Frau, die ihr das Herz stocken ließ.

Hilde Mattheus.

Roselinde starrte auf das Bild. Die Erinnerung kam nicht in Worten, sondern wie ein Sog. Wie ein alter Film, der plötzlich weiterlief.

Hilde war ihre Kollegin gewesen. Ihre beste Freundin. Ihre heimliche Vertraute. Es war eine andere Zeit gewesen. Eine, in der man über manches nicht sprach. Auch nicht über Gefühle, die über den Rand einer Freundschaft hinausgingen.

Nach der Wende hatte sich alles verändert. Hilde war gegangen. Einfach so. Ohne Erklärung. Ohne Abschied.

Und nun dieses Foto.

Roselinde setzte sich auf die Holzbank vor dem Haus, das Bild in der Hand. Die Kälte kroch durch ihren Morgenmantel, aber sie spürte sie kaum. Wer hatte das Foto gebracht? Und warum jetzt?

Georg trat aus der Tür.

„Alles in Ordnung?“ fragte er, mit diesem Tonfall, den ältere Männer benutzen, wenn sie ahnen, dass nicht alles in Ordnung ist, aber hoffen, es trotzdem sagen zu dürfen.

Sie zeigte ihm das Foto.

Er betrachtete es lange. Dann sagte er: „Die linke kenne ich. Hilde. Sie wohnte früher in Tangermünde. Meine Schwester kannte sie. Ist aber ewig her.“

Tangermünde.

Roselinde nickte langsam. Die Puzzlestücke begannen sich zu bewegen, aber noch war das Bild zu verschwommen.

Beim Frühstück saßen sie zu dritt am Tisch. Tom hatte kaum ein Wort gesagt. Nur Muck gefüttert, ihm die Ohren gekrault. Er sah bleich aus, mit tiefen Augenringen.

Roselinde beobachtete ihn still. Wie er den Hund streichelte, wie er mit den Fingern das Marmeladenglas drehte, ohne es zu öffnen. Ein Kind, das zu schnell erwachsen werden musste.

„Weißt du noch, wer euch den Hund geschenkt hat?“ fragte sie schließlich.

Tom zögerte. Dann nickte er langsam.

„Eine Frau. Sie war alt. Hatte einen Schal mit Rosen drauf. Sie kam manchmal in den Park und hat uns zugesehen. Eines Tages hat sie Muck gebracht. Einfach so. Sie sagte, jeder Junge braucht einen Freund, der nicht wegläuft.“

Roselinde hielt den Atem an.

„Hat sie ihren Namen gesagt?“

„Nur Hilde.“

Der Löffel fiel ihr fast aus der Hand.

Georg schaute von der Zeitung hoch.

„Dann lebt sie also noch.“

Roselinde stand auf. Langsam, aber mit einem Ziel.

„Ich muss nach Tangermünde.“

Die Fahrt dauerte knapp eine Stunde. Muck schlief auf der Rückbank, Tom saß still neben ihr, mit dem Foto auf dem Schoß. Georg war zu Hause geblieben. Er hatte nichts gesagt, nur genickt.

Tangermünde lag verschlafen unter einem grauen Himmel. Die Elbe war angeschwollen vom Regen der letzten Tage. Der Marktplatz wirkte leer, als sei Sonntag, obwohl Mittwoch war.

Roselinde stellte den Wagen vor dem alten Pflegeheim ab. “Haus Elbblick” stand auf dem Schild. Sie kannte es vom Hörensagen. Ein Ort, an dem viele Menschen endeten, die keine Adresse mehr hatten.

An der Rezeption saß eine junge Frau mit bunten Fingernägeln.

„Hilde Mattheus?“ fragte Roselinde.

Die Frau nickte langsam.

„Zimmer 14. Zweiter Stock, linke Seite. Sie bekommt nicht oft Besuch.“

Das Zimmer roch nach Lavendel und Büchern. An den Wänden hingen gestickte Sprüche. Auf der Kommode stand ein Bild – vom selben Hund, nur als Welpe.

Hilde saß im Sessel, eine Decke über den Knien. Die Haare weiß, das Gesicht faltig, aber die Augen, dieselben wie damals. Wach. Hell. Unverkennbar.

Sie sah Roselinde und lächelte traurig.

„Ich hab dich nicht vergessen.“

Roselinde trat näher.

„Ich dich auch nicht.“

Es brauchte keinen langen Austausch. Keine Entschuldigungen. Nur Blicke, ein Nicken, eine stille Brücke zwischen zwei Leben.

Dann trat Tom ein, Muck auf dem Arm.

Hilde erstarrte. Dann lächelte sie warm.

„Du hast ihn behalten.“

„Ich musste. Er war mein letzter Brief.“

Sie setzten sich zu dritt. Hilde erzählte, mit leiser Stimme, vom Altenheim, vom Park, von Tom. Wie sie ihn beobachtet hatte. Wie sie erkannt hatte, was fehlte. Und wie sie gehofft hatte, dass Muck ihn nicht nur beschützen, sondern auch zurückführen würde.

„Ich habe das Foto in den Briefkasten gelegt“, sagte sie. „Ich wusste, du würdest verstehen.“

Roselinde nickte. Tränen standen ihr in den Augen.

„Es war nicht nur ein Hund“, sagte sie. „Es war der Anfang von allem.“

Sie blieben noch lange.

Als sie aufbrachen, sagte Hilde: „Kommt bald wieder.“

„Wir kommen“, versprach Roselinde.

Und sie meinte es.

Am Abend, zurück in Gardelegen, fand Roselinde einen zweiten Zettel in ihrem Briefkasten, diesmal ohne Unterschrift, aber mit einer Adresse, die sie seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte.

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