Morgens um vier | Die Frau an der Bushaltestelle und der Hund, der ihre Vergangenheit kannte

Manchmal begegnet man einer Seele, die kein Wort sagt und trotzdem alles erzählt.

Er stand jeden Morgen dort, als würde er auf jemanden warten, der nie kam.

Seine Augen waren dunkel wie nasses Holz, und doch glomm darin etwas Unauslöschliches.

An jenem einen Tag war die Bank leer, der Platz still und etwas in mir brach auf.

Es gibt Begegnungen, die dein Leben leise, aber für immer verändern.

🐾 Teil 1: Morgens um vier

Eisenhüttenstadt, Winter 1998.
Der Schnee kam in feinen Flocken, fast waagerecht, als drängte er sich zwischen Häuser und Zäune.
Martha Kelling zog den Schal enger um den Hals und sah auf ihre Uhr. Vier Uhr zwölf.
Der Bus würde wie immer in acht Minuten kommen.

Sie war Putzfrau im Altenheim „Am Oderblick“. Seit zwölf Jahren derselbe Arbeitsweg. Dieselbe Haltestelle, derselbe kalte Metallmülleimer neben der Bank. Nur der Hund war neu gewesen, vor knapp einem Jahr.

Das erste Mal hatte sie ihn im Frühling gesehen. Er saß da, als hätte er schon immer dazugehört.
Groß, kräftig gebaut, mit einem dichten, rauen Fell, das in der Morgendämmerung zwischen Grau und Braun changierte. Ein Ohr stand kerzengerade, das andere hing leicht schief, als hätte das Leben selbst es so geformt.
Sein Name stand nicht am Halsband, denn er trug keins. Also gab Martha ihm in Gedanken einen: Borax.

Warum Borax, wusste sie selbst nicht genau. Vielleicht, weil es nach etwas Altem klang, etwas, das man früher kannte und heute kaum noch hörte.

Anfangs hatte sie Abstand gehalten. Hunde waren unberechenbar, und dieser hier wirkte, als hätte er schon einiges durchgemacht. Narben zogen sich dünn über seine linke Flanke, und sein Blick war wachsam, aber nicht feindselig.

Nach einigen Tagen begann sie, ihm ein Stück von ihrem morgendlichen Brötchen hinzuhalten.
Er nahm es nie direkt aus der Hand, wartete, bis sie es auf die Bank legte und sich wieder zurückzog. Erst dann schnappte er es sich mit einer Zartheit, die so gar nicht zu seinem kräftigen Körper passte.

So wurde es zur stillen Routine.
Jeden Morgen um vier Uhr zwölf sah sie ihn. Immer an derselben Stelle, immer mit diesem leicht gesenkten Kopf, als erwarte er etwas Bestimmtes.

Martha war 56 und lebte allein. Die Kinder waren weggezogen, der Mann schon lange fort.
Das Altenheim war ihr Broterwerb, aber nicht ihr Leben.
Manchmal dachte sie, Borax sei der einzige, der ihre Ankunft bemerkte.

An diesem Morgen jedoch war etwas anders.
Sie bog um die Ecke und die Bank war leer.

Zuerst dachte sie, er sei vielleicht hinter den Sträuchern, oder er käme noch.
Aber die Minuten vergingen, und mit jeder Sekunde breitete sich in ihr eine seltsame Unruhe aus.

Der Bus kam. Sie stieg ein, setzte sich ans Fenster, suchte mit den Augen den Straßenrand ab. Kein Hund.

Im Altenheim roch es wie immer nach Bohnerwachs und gekochtem Gemüse.
Martha arbeitete schweigend, doch in ihrem Kopf blieb der leere Platz an der Bushaltestelle.

Gegen Mittag, auf dem Rückweg, ging sie denselben Weg zu Fuß. Der Schnee war inzwischen nass und schwer geworden, klebte an den Stiefeln. Sie schaute unter Autos, in Hauseingänge, sogar in den Hinterhof der alten Bäckerei. Nichts.

An der Bank setzte sie sich kurz, der kalte Stahl zog durch den Mantel. Sie konnte nicht sagen, warum es sie so traf.
Vielleicht, weil er Teil dieser stummen Ordnung geworden war. Eine Gewissheit in einer Welt, die sonst wenig verspricht.

Drei Tage vergingen.
Kein Borax.

Am vierten Tag nahm sie sich vor, früher zu gehen und ein Stück in die Richtung zu laufen, aus der er sonst kam.
Die Straßen waren um diese Uhrzeit leer, nur ab und zu das ferne Grollen eines LKWs.

Hinter der Brücke über den Kanal sah sie es: ein dunkler Fleck am Straßenrand, kaum zu erkennen im Zwielicht.
Ihr Herz schlug schneller.
Es war kein Hund, nur ein alter Sack, den der Wind gegen den Bordstein geweht hatte.

Sie blieb stehen, atmete tief durch und hörte plötzlich ein leises, raues Bellen.

Es kam von einem Grundstück auf der anderen Straßenseite, hinter einem halb eingefallenen Zaun.
Zwischen Gestrüpp und einer verrosteten Regentonne stand er.
Borax.

Sein Fell war schmutzig, und er humpelte leicht. Als er sie sah, blieb er still, als versuche er zu verstehen, was sie hier machte.

„Na, alter Junge“, sagte sie leise, als könnte lautes Sprechen ihn vertreiben.
Sie ging ein paar Schritte näher, spürte, wie der Schnee unter den Schuhen knackte.

Da öffnete sich die Tür des kleinen Hauses neben dem Zaun.
Ein Mann trat heraus, vielleicht Ende sechzig, in einem verschlissenen Parka. Sein Blick war misstrauisch.

„Suchen Sie was?“
Martha zögerte. „Den Hund… ich seh ihn sonst morgens an der Haltestelle.“

Der Mann verzog den Mund. „Der ist nicht Ihrer, oder?“

„Nein… aber…“ Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte.

„Lassen Sie ihn. Der kommt schon klar.“
Er drehte sich um, ging zurück ins Haus und schlug die Tür zu.

Borax stand noch immer da, bewegte sich nicht. Nur seine Augen folgten ihr.

Martha spürte, wie etwas in ihr fest wurde.
Sie konnte nicht einfach zurückgehen. Nicht jetzt, da sie wusste, wo er war und dass er verletzt war.

Sie trat an den Zaun, beugte sich leicht vor. „Ich komm wieder, Junge“, flüsterte sie.

Der Bus, den sie nehmen musste, würde in fünfzehn Minuten fahren.
Sie wandte sich zum Gehen, doch in ihrem Rücken hörte sie ein leises Winseln.

Es war kein Laut, den man vergisst.

Und in diesem Moment wusste sie, dass dies nicht nur um einen Hund ging.
Es ging um mehr. Um etwas, das schon lange gefehlt hatte.


Als sie an diesem Abend im Bett lag, hörte sie das Winseln noch und wusste, dass der nächste Morgen nicht wie jeder andere sein würde.

🐾 Teil 2: Ein Versprechen im Schnee

Der Morgen kam still.
Martha stand noch früher auf als sonst. Sie trank den Kaffee hastig, zog den Mantel über und verließ die Wohnung, bevor der Radiowecker in der Nachbarwohnung zu piepen begann.

Die Luft roch nach Frost. Ein fahles Licht lag über den Straßen von Eisenhüttenstadt, so früh, dass selbst die Straßenlaternen noch nicht erloschen waren.

Sie nahm nicht den direkten Weg zur Haltestelle. Stattdessen bog sie über die Brücke ab, dorthin, wo sie Borax am Vortag gesehen hatte.

Ihr Herz pochte, als sie den halb eingefallenen Zaun erreichte.
Der Hof war leer. Keine Spur von ihm.

Sie rief nicht nach ihm. Ein Hund wie Borax kam nicht, wenn man ihn rief.
Also wartete sie.

Nach einer Minute bewegte sich etwas hinter der alten Regentonne.
Er trat hervor, vorsichtig, als prüfe er den Boden unter seinen Pfoten. Das Humpeln war deutlich.

Martha kniete sich hin und zog aus der Manteltasche ein Stück Brot hervor. Der Geruch schien ihn zu locken. Er kam ein paar Schritte näher, stoppte, sah sie lange an, dann wieder auf das Brot.

Er nahm es nicht.
Stattdessen setzte er sich, als wolle er sagen: Ich habe Zeit.

Da öffnete sich wieder die Haustür. Der Mann von gestern trat heraus.
„Was machen Sie hier?“ Seine Stimme war schneidend.

„Ich… wollte nur sehen, ob es ihm besser geht.“

Der Mann zog den Parka enger. „Der Hund gehört nicht mir. Er läuft hier rum, seit Monaten. Ich geb ihm manchmal was, mehr nicht.“

„Er ist verletzt.“

Der Mann zuckte die Schultern. „Dann ist das halt so. Ist ja kein Zierhund.“
Er ging ein paar Schritte und spuckte in den Schnee. „Wissen Sie, es gibt hier genug Hunde, um die sich keiner kümmert. Einen mehr oder weniger…“

Martha stand auf. „Und wenn er erfriert?“

Der Mann blickte sie lange an, dann wandte er sich ab. „Nicht mein Problem.“
Die Tür fiel ins Schloss.

Borax hatte den Blick nicht von ihr genommen.
In seinen Augen lag keine Bitte, eher ein stilles Wissen.

Sie sah auf die Uhr. Der Bus war längst weg.
Also ging sie zu Fuß zur Arbeit, das Bild des Hundes im Kopf.


Im Altenheim war der Vormittag wie immer: Böden wischen, Eimer ausleeren, die Fenster von Kondenswasser befreien. Die älteren Damen grüßten sie mit einem Lächeln, einige kannten ihren Namen.

Aber an diesem Tag spürte sie, wie die Arbeit mechanisch aus ihren Händen floss, während ihr Kopf bei Borax blieb.

Gegen Mittag fasste sie einen Entschluss.
Auf dem Heimweg würde sie beim kleinen Laden an der Ecke halten, Fleisch und Verbandszeug kaufen.


Der Laden war fast leer. Frau Riedel, die Verkäuferin, blickte auf, als Martha hereinkam.
„Ach, Sie so spät? Haben Sie heute frei?“

„Nein, ich brauch nur ein paar Sachen.“
Martha nahm eine Packung Rinderhack, ein Stück Seife und Mullbinden.

Frau Riedel hob die Augenbrauen. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Ja… ich helfe nur einem Hund.“

Die Verkäuferin lächelte schmal. „Dann passen Sie auf. Manche Hunde beißen, wenn man ihnen helfen will.“


Der Schnee hatte aufgehört, als sie wieder den Hof erreichte.
Borax lag diesmal neben der Regentonne, den Kopf auf den Pfoten. Als er sie kommen sah, hob er den Kopf, blieb aber liegen.

Sie kniete sich hin, öffnete die Tüte und zog ein Stück Hackfleisch heraus. Der Geruch ließ seine Ohren zucken.

Langsam kam er näher, setzte jede Pfote bedacht.
Diesmal nahm er das Futter aus ihrer Hand. Vorsichtig, fast ehrfürchtig.

Sie nutzte den Moment, um näher hinzusehen. An der linken Hinterpfote zog sich eine tiefe Schramme entlang. Kein frisches Blut, aber die Wunde war verkrustet und sah entzündet aus.

„Du brauchst Hilfe, Junge“, flüsterte sie.

Er ließ sich nicht anfassen. Kaum dass ihre Hand die Flanke berührte, wich er zurück.
Also legte sie die Mullbinden beiseite. Das würde Zeit brauchen.

„Ich komme morgen wieder.“ Sie stand auf, klopfte sich den Schnee von den Knien.

Er blieb stehen, als sie ging, und sah ihr nach, bis sie um die Ecke verschwand.


In dieser Nacht träumte sie von einer Bushaltestelle ohne Schnee, vom Geruch nach Sommer und vom warmen Fell unter ihren Händen.
Als sie erwachte, war es kurz nach drei. Sie konnte nicht mehr einschlafen.


Am nächsten Morgen kam sie wieder früher.
Borax war nicht da.
Sie wartete. Minuten vergingen.

Gerade wollte sie gehen, da hörte sie hinter sich das leise Klirren von Metall.
Er kam um die Ecke, einen rostigen Schlüsselring im Maul.

Sie lächelte. „Na, was hast du denn da?“
Er ließ den Ring fallen, schnüffelte am Boden.

Es war ein seltsames Bild. Ein Hund, der Dinge brachte, als wollte er etwas mitteilen.

Martha hob den Schlüsselring auf. Zwei alte Wohnungsschlüssel hingen daran, und ein verblichener Anhänger mit einem Namen: Gundlach.

Sie kannte niemanden mit diesem Namen in Eisenhüttenstadt.

Borax setzte sich wieder hin, als habe er seine Aufgabe erfüllt.
Martha steckte die Schlüssel in die Tasche.

„Woher hast du die?“
Natürlich bekam sie keine Antwort.

Aber in ihr regte sich ein Gedanke, der sie den ganzen Tag nicht mehr losließ.
Vielleicht gehörte der Hund jemandem.
Vielleicht wartete er nicht einfach so an der Bushaltestelle.


An diesem Abend ging sie zum Postamt, um im Telefonbuch nachzusehen.
Es gab drei Einträge für „Gundlach“ im Umkreis. Zwei in Frankfurt (Oder), einer in Neuzelle.

Die Adressen schrieb sie auf einen Zettel.
Es war ein Plan.
Ein Anfang.


Als sie zu Hause ankam, legte sie den Zettel neben die Schlüssel auf den Küchentisch.
Sie setzte sich, trank Tee, und blickte lange darauf.

In ihrem Inneren hatte sich etwas verändert.
Der Hund war nicht mehr nur ein Bild an einer Bushaltestelle.
Er war jetzt Teil einer Aufgabe, die sie nicht mehr loslassen konnte.


Am nächsten Morgen würde sie nicht nur früher losgehen.
Sie würde die erste Adresse aufsuchen.

Sie wusste nicht, was sie finden würde.
Aber sie wusste, dass Borax nicht zufällig in ihr Leben getreten war.


Als sie an diesem Abend das Licht löschte, lag der Schlüsselring auf dem Tisch und Martha hatte das Gefühl, dass er mehr Türen öffnen würde, als sie ahnte.

🐾 Teil 3: Die erste Tür

Der Morgen roch nach Rauch. Irgendwo hatte jemand einen Ofen angeheizt, und der Duft von verbranntem Holz mischte sich mit dem Frost in der Luft.

Martha war früher aufgestanden als sonst. Sie hatte den Zettel mit den drei Adressen in der Manteltasche, den Schlüsselring fest in der Hand. Heute würde sie nicht auf den Bus warten. Heute würde sie gehen.

Sie bog über die Brücke ab, die zur Hauptstraße führte, und sah schon von weitem, dass Borax an der alten Regentonne lag.
Er hob den Kopf, als sie näher kam.

„Komm, wir gehen“, sagte sie leise.
Er erhob sich langsam. Das Humpeln war noch da, aber er folgte ihr, ohne zu zögern.


Die erste Adresse lag in der Nähe von Frankfurt (Oder), in einem grauen Plattenbauviertel.
Sie nahm den Bus, Borax lief nicht mit. Stattdessen hatte sie ihm am Kanal einen Platz gesucht, wo er sicher war – ein alter Schuppen, den niemand mehr nutzte. Sie hatte ihm Decken und Wasser hingestellt, das Fleisch daneben gelegt.

Der Bus war voll von Arbeitern, die nach Frankfurt pendelten. Martha saß still in einer Ecke, die Hand auf der Manteltasche, in der der Schlüsselring lag.

Als sie ausstieg, lag das Viertel wie erstarrt unter einer dünnen Schicht Schnee. Beton, graue Fassaden, Fenster, in denen nichts Persönliches zu sehen war.

Hausnummer 18.
Ein Klingelschild: Gundlach. Kein Vorname.

Sie drückte den Knopf.
Ein Summen. Dann eine Stimme, kratzig und müde. „Ja?“

„Ich… suche jemanden. Vielleicht… haben Sie einmal einen Hund gehabt?“

Stille. Dann ein Seufzen. „Kommen Sie hoch.“


Die Frau, die öffnete, war vielleicht siebzig. Dünn, mit grauem Haar, das streng nach hinten gekämmt war.
„Kommen Sie rein. Es zieht.“

Die Wohnung roch nach altem Teppich und Tee. Auf dem Couchtisch lagen Fotos in Schwarz-Weiß, manche vergilbt.

„Was wollen Sie wissen?“

Martha setzte sich auf die Kante des Stuhls. „Ich habe einen Hund gesehen… einen großen, grau-braunen, mit einem hängenden Ohr. Er hatte diesen Schlüsselring im Maul.“
Sie legte ihn auf den Tisch.

Die Frau beugte sich vor, nahm den Ring in die Hand. Ihr Blick wurde weich, fast brüchig.
„Den hat mein Bruder verloren. Vor Jahren.“

„Ihr Bruder?“

„Ja. Er hieß Karl-Heinz. Hatte einen Hund, der sah so ähnlich aus, wie Sie ihn beschreiben. Er hieß Bardo.“

Martha atmete flach. „Was ist mit ihm passiert?“

„Mit wem? Mit meinem Bruder oder mit dem Hund?“

„Mit beiden.“

Die Frau stellte die Tasse ab. „Mein Bruder ist tot. Unfall auf der Baustelle, 1994. Der Hund lief danach eine Weile bei mir herum, aber er war unruhig. Eines Tages war er weg. Ich dachte… jemand hätte ihn mitgenommen.“

Sie schwieg.
Dann strich sie mit den Fingern über den Anhänger am Schlüsselring. „Das ist alles, was von meinem Bruder blieb. Ich weiß nicht, wie es zum Hund kam.“

Martha nickte langsam. „Ich glaube, er lebt noch. Er streunt in Eisenhüttenstadt herum.“

Die Augen der Frau wurden groß. „Bardo lebt?“

„Vielleicht. Er ist verletzt. Aber er kommt immer wieder an dieselbe Stelle. Ich weiß nicht, ob er mich erkennt, aber…“

Die Frau schüttelte den Kopf, als könne sie die Worte nicht fassen. „Das sind… vier Jahre. Und er…“
Sie legte die Hand auf den Mund.

„Ich wollte nur wissen, ob er jemandem gehört“, sagte Martha. „Ich kann mich um ihn kümmern. Aber vielleicht wollen Sie…“

„Nein.“ Die Frau schloss die Augen, atmete tief. „Ich bin zu alt, um mich um einen Hund zu kümmern. Aber… wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, er soll bleiben. Er ist immer gelaufen, sein ganzes Leben.“

Martha nickte.
Sie trank den Tee aus, bedankte sich und ging.


Auf dem Rückweg im Bus sah sie den Schlüsselring an.
Er war schwerer geworden, als hätte die Geschichte, die daran hing, Gewicht bekommen.

Borax oder Bardo, war also einmal jemandes Hund gewesen. Ein Hund, der vier Jahre lang durchgehalten hatte.

Als sie beim Schuppen ankam, war er noch da. Er hob den Kopf, als sie die Tür öffnete.
„Ich weiß jetzt, wer du bist“, sagte sie.
Er blinzelte nur, schien das Fleisch nicht angerührt zu haben.

„Du bist ein Läufer. Aber jetzt bleibst du.“

Sie legte sich auf die Knie, redete leise weiter. Vielleicht war es die Stimme, vielleicht der Geruch, aber diesmal ließ er zu, dass sie seine Pfote berührte.

Die Wunde war schlimmer als gedacht. Rot umrandet, heiß.
„Das muss ein Tierarzt sehen“, flüsterte sie.

Er zog die Pfote zurück, als hätte er verstanden. Doch er rannte nicht weg.


Am Abend überlegte Martha, wie sie ihn zum Tierarzt bringen sollte.
Sie hatte keine Transportbox, kein Auto. Und selbst wenn, er ließ sich nicht einfach hochheben.

Also schmiedete sie einen Plan: Morgen früh würde sie den Tierarzt anrufen, um Rat fragen.
Vielleicht könnte jemand kommen, um ihn zu sedieren.

Aber in ihrem Bauch nagte die Sorge, dass er bis dahin verschwunden wäre.


Die Nacht war unruhig.
Draußen heulte der Wind, und mehr als einmal stand sie auf, ging ans Fenster und sah auf die leere Straße hinunter.

Am Morgen nahm sie den Schlüsselring wieder in die Tasche.
Er fühlte sich inzwischen an wie ein Versprechen.


Doch als sie den Schuppen erreichte, war er leer.

Die Decken lagen zerwühlt, das Wasser war umgestoßen.
Fußspuren im Schnee führten zur Straße, verloren sich dann im festgetretenen Eis.

Martha stand lange da. Der Frost biss in ihre Wangen, aber sie spürte es kaum.

Etwas in ihr sagte, dass dies nicht das Ende war.
Borax lief. Aber er würde wiederkommen.

Sie schloss die Augen, hörte den Wind. Und in diesem Wind meinte sie, ein leises Bellen zu hören, weit entfernt, wie aus einer anderen Zeit.


Sie wusste nicht, wo er war, aber sie wusste, dass ihre Suche jetzt erst begonnen hatte.

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