Die Bank am Fluss atmete, wenn niemand hinsah.
Ein Blick ins Wasser, und die Jahre antworteten leise.
Jemand kam täglich, langsam, mit einem Schatten an der Leine.
Die Enten wussten es zuerst, bevor Worte es konnten.
Als das Atmen schwerer wurde, blieb die Bewegung.
🐾 Teil 1: Die Tage am Ufer
Der September legte ein fahles Licht über die Elbwiesen von Laubegast. Die Luft roch nach nassem Gras und Herbstlaub, und die Fähre nach Niederpoyritz ließ ein fernes Rumpeln zurück, das im Bauch der Uferböschung weiterzitterte.
Gertrud Neschke setzte sich auf die zweite Latte der alten Bank, so wie immer, ein klein wenig schräg, damit die Hüfte ruhig blieb.
Neben ihr sank die Schäferhündin nieder. Mira legte die Stirn auf die Pfoten und atmete breit, als müsste sie die Welt darunter warm halten. Ihr Fell hatte jenes matte Braun, das wie Moorerde wirkte, und um den Fang lag ein Staub aus grauem Winter, der nie mehr weichen würde.
Gertrud streichelte die Stelle hinter dem linken Ohr, wo sich ein kleines kahles Dreieck zeigte, seit einem Sommer mit viel Mücken. Ihre Finger kannten den Weg von selbst. Sie spürte, wie das Ohr zuckte und die alte Hündin mit den Augen eine Antwort gab, die in keine Sprache passte.
Die Bank stand ein wenig abseits. Eine Weide warf hier ein zitterndes Gitter aus Schatten und Licht auf das Holz. Auf der Rückenlehne war, kaum sichtbar, ein eingeritztes G. Es war ein G von damals, als alles neu gewesen war.
Günter hatte es mit einem Taschenmesser geschnitten, und sie hatte gescholten und gelacht, beides zugleich.
Das Wasser trug Enten heran. Es war derselbe kleine Trupp, der jeden Nachmittag aus der flachen Bucht unterhalb der Fährrampe auftauchte. Ein alter Erpel führte sie, der Schnabel wirkte leicht schief und hatte eine helle Schramme, als sei er einmal hart an einen Stein geraten.
Gertrud hatte ihn insgeheim Stipprich genannt, weil er beim Landen kurz stakste, als wäre der Boden noch nicht zu Ende.
Sie holte aus der Tasche ein Tuch mit Haferflocken und ein paar Erbsen. Brot brachte sie kaum noch mit. Die Jahre hatten ihr beigebracht, dass es satt machte und doch nicht gut war. Die Enten wussten nichts davon, aber sie nahmen, was sie bekamen. So ist es bei Tieren und Menschen manchmal nicht anders.
Mira hob den Kopf, als der alte Erpel näher kam. Die Augen waren bernsteinfarben, tief und klar. In ihnen lag der stille Schatten der Müdigkeit, die nicht mehr weicht, und doch ein Funken, der aus Gewohnheit weiterglühte. Sie roch das nasse Gefieder, roch den Algenrand, roch den Fuß von Gertrud, der an Regentagen nach altem Leder und linierter Socke duftete.
Es war das dreizehnte Jahr mit Mira. Der Frühling hatte ihr Knie steif gemacht, der Sommer hatte die Treppen schwer werden lassen. Nun zog der Herbst an, und Gertrud zählte heimlich die Tage, die noch gut sein konnten. Zählen ist eine Art zu lieben, wenn man weiß, dass die Zahl enden wird.
Die Bank war zum Anker geworden. Morgens das leise Klacken der Tassen in der Küche, das Scharren von Miras Pfoten auf dem Linoleum.
Dann der Weg durch die stille Holbeinstraße, an den Schrebergärten vorbei, die jetzt leerer wurden, weil die Tomaten aufgegeben hatten. Am Ufer das leichte Rollen der Kiesel, wenn das Wasser eine Hand ausstreckte und sie ordnete.
Gertrud redete nicht viel. Sie hatte Worte in den Jahren verbraucht, in denen Günter noch da gewesen war. Seine Stimme hing manchmal noch im Vorhang, wenn die Sonne durch die Spitzen fiel, als fange sie etwas ein, das nur noch als Muster existierte.
Die Bank war ein Ort, an dem die Stimmen der Vergangenheit nicht spukten, sondern saßen, die Mützen in den Händen, bereit, einfach still zu sein.
Stipprich kam näher, neugierig und ohne Hast. Gertrud warf eine kleine Hand voll Hafer, die Körnchen fielen wie Regen. Mira beobachtete, die Nase leicht vibrierend. Sie machte keine Bewegung, wie es alte Hunde tun, die gelernt haben, in den Dingen zu ruhen.
Doch als eine junge Ente mit zu viel Tatendrang zu nah kam, hob die Hündin den Kopf und zeigte die ruhige Grenze einer souveränen Königin. Ein Blick genügte. Das Küken wich aus, als hätte jemand leise Pardon gesagt.
Ein Junge fuhr mit einem rostigen Rad den Uferweg entlang. Sein Mantel war zu dünn für das, was bald kommen würde. Er hob die Hand, und Gertrud nickte zurück. Gesichter bleiben, Namen zerfallen. Das wusste sie schon lange.
Manchmal sprach sie leise mit Mira. Es waren Sätze ohne Fragezeichen. Du bist gut. Du hast Geduld. Du bist mein Takt im Tag. Man kann das einem Menschen nicht so sagen, ohne dass er zurückfragt. Ein Tier nimmt es an wie Regen.
Die Tierärztin hatte im Juli etwas von Herz und Alter gesagt. Ein sanftes Geräusch beim Abhören, ein kleines Stolpern. Ein Medikament am Morgen, ein anderes am Abend. Bewegung ja, aber keine Stufen, keine Sprünge. Und darauf achten, wie sie atmet. Gertrud achtete, als wäre Atmen eine Kunst, die man lernen kann, wenn man hinsieht.
Als die Fähre wieder anlegte, rollte eine Welle an den Rand der Wiese. Die Enten ließen sich darauf tragen, als wäre die Welt für einen Moment federleicht.
Mira hob sich, als wolle sie den Wellen hinterhersehen, und da war ein Zucken in der Hinterhand, klein und unentschieden. Gertrud sah es und spürte, wie ihr Herz das stolperige Geräusch der Juli Sprechstunde nachahmte.
Sie legte die Hand auf den Rippenbogen der Hündin. Mira atmete ruhig, doch der Blick suchte ihren. Es war ein kurzer Blick, der sagte, dass ein Weg länger geworden war, ohne dass sich die Karten geändert hätten. Hinter ihnen raschelte die Weide. Ein Blatt löste sich und landete auf Miras Rücken, als wollte es verweilen.
Der Himmel zog zu. Ein Schauer ging über den Fluss, nicht ernsthaft, eher ein Hinweis. Gertrud erhob sich langsam. Sie nahm das grün graue Wolltuch aus der Tasche, band es Mira locker um den Hals.
Es war einst ihr Halstuch gewesen, ein Geschenk aus einer Zeit, in der Geschenke noch dauerhafte Dinge waren, nicht Erlebnisse und Gutscheine. Jetzt war es ein kleines Signal an die Welt. Achtung, hier ist jemand, dem kalt werden darf.
Der erste Schritt tat Mira schwer. Die junge Ente hüpfte erschrocken beiseite. Stipprich neigte den Kopf, als würde er schauen, ob der Boden sich bewegt hatte. Gertrud wartete.
Warten ist die geheime Form der Liebe im Alter. Dann der zweite Schritt, und der dritte, und für einen Moment sah es aus, als trüge die Bank sie an den Rand des Weges zurück.
Am Kiesweg knickte die Hinterhand ein. Nicht tief, aber unerwartet. Mira setzte sich zu schnell und schnappte leise nach Luft. Der Blick glitt über den Fluss und verlor einen Anker.
Gertrud kniete, so weit ihr Knie es erlaubte, und spürte, wie sich die Zeit in den Nacken setzte. Auf dem Wasser formte sich ein dunkler Streifen. Die Fähre war abgedampft, die Welle kam später.
Mira versuchte aufzustehen und blieb doch sitzen. Ein feines Zittern lief über ihre Flanke. Gertrud hörte nichts als dieses Zittern, obwohl die Weide rauschte und irgendwo ein Fahrrad klingelte. Sie legte die Stirn an Miras Kopf. Die Hündin schloss die Augen, als würde sie in dieser Berührung ein Ufer finden.
Stipprich trat näher, so nah, wie Enten selten kommen, wenn sie nicht gezähmt sind. Der schiefe Schnabel glänzte vom Regen. Ein Tropfen hing daran, rund und unentschieden, und fiel dann auf Miras Pfote. Es klang nicht. Es war nur Wasser.
Gertrud dachte an die Juli Sprechstunde, an das kleine Geräusch, an die Tablettenreihe auf dem Küchentisch. Die Hand zitterte plötzlich, und das Tuch rutschte ein Stück tiefer. Sie flüsterte etwas, das eher ein Atem war als ein Wort.
Miras Brust hob sich und senkte sich, als suche sie einen Rhythmus, der ihr gehörte und doch entglitt.
Dann sah Gertrud, wie die Hündin den Kopf leicht zur Seite legte, in einer Bewegung, die neu war. Es war kein Schmerz darin, eher ein Lauschen in den Körper hinein, als würde er plötzlich eine fremde Melodie spielen. Das Zittern wurde feinkörnig, und der Himmel kam näher.
Gertrud rief leise nach Hilfe. Nicht laut, nicht wie in Filmen, sondern wie jemand ruft, der weiß, dass Hilfe manchmal nur ein zweiter Atem ist. Eine Gestalt blieb stehen. Schritte näherten sich. Die Enten rückten ab, bis auf den alten Erpel, der noch einen Moment blieb, als müsse er etwas zu Ende sehen.
Der Kies unter Miras Pfote knirschte, und in diesem Knirschen lag eine Frage, die niemand aussprechen wollte.
Das Zittern hörte nicht auf.
🐾 Teil 2: Die Wege in den Morgen
Der Mann, der stehen geblieben war, hieß Raimund Zaschke. Er trug die Jacke der Stadtgärtnerei und den Geruch von nassem Holz. Sein Gesicht war schmal, doch die Augen hatten etwas Warmes, das wie ein Winterofen war, der nicht prahlt und doch alles hält.
Er kniete sich neben Gertrud und fragte nicht viel. Er legte einen Arm unter Miras Brust und den anderen unter die Hüfte. Zu zweit hoben sie die Hündin an, so wenig ruckartig wie möglich.
Gertrud spürte das Gewicht, das nicht nur aus Knochen bestand. Es war das Gewicht von Jahren, von Gewohnheiten, von all den Wegen, die sich in dieses Fell eingeschrieben hatten.
Sie trugen Mira bis zur Bank zurück. Die Hündin lag da, die Flanke hob sich. Ein wenig Speichel glänzte am Mundwinkel. Gertrud wischte ihn mit dem Saum des Tuchs ab. Sie nickte kurz, um sich Mut zu holen.
Raimund fragte, ob er jemanden anrufen solle. Gertrud nannte die Nummer der Tierärztin in Niederpoyritz. Dr Ragna Fellhauer meldete sich mit einer Stimme, die Ruhe konnte, ohne laut zu werden. Sie versprach, in einer halben Stunde mit dem Wagen zu kommen. Bis dahin warm halten, nicht drängen, nur da sein.
Der Regen zog sich zurück. Die Enten hatten sich in einen Halbkreis gebracht, der in seiner Unordnung eine Art Ordnung war. Stipprich stand am nächsten und blinzelte langsam. Es wirkte, als hielte das Wasser für einen Moment den Atem an.
Gertrud redete leise auf Mira ein. Worte sind Brücken, auch wenn sie nur das Ufer wechseln. Sie erzählte von dem Pflaumenkuchen gestern, der zu süß geraten war, und von dem Brief vom Energieversorger, der sie erschreckt hatte. Sie erzählte von Günters Mütze, die sie heute im Kleiderschrank gefunden hatte, in der alten Schachtel mit den Wandkalendern.
Mira hob einmal die Augenbrauen, als erkenne sie den Namen, der in den Wänden wohnte.
Raimund stand ein wenig abseits, damit er nicht störte. Er sah zum Fluss und rückte dann doch näher, als er das Zittern sah, das nicht vergehen wollte. Er legte die Handfläche auf die Banklehne, als könne Holz Wärme weitergeben. Vielleicht konnte es das.
Der Wagen der Tierärztin bog ohne Hupen in den Uferweg ein. Dr Fellhauer war eine Frau mit schmalen Handgelenken und einem Blick, der genau traf und nie verletzte. Sie kniete sich wie jemand, der betet, ohne Kirche zu brauchen. Ihr Stethoskop war kalt und schnell wieder weg. Die Worte kamen behutsam und doch klar.
Herz. Alter. Vielleicht etwas im Rückenmark, was Wege schmaler macht. Keine akute Lebensgefahr im Moment, doch der Körper rufe deutlich, leiser zu treten. Ein Medikament für die Atmung, eines für den Rhythmus. Und eine Bitte an den Tag, keine Treppen zu verlangen.
Gertrud nickte. Sie hörte die Anweisungen und sah dazwischen Bilder. Mira als junge Hündin am Körnerweg. Mira mit Schnee am Schnauzenrand. Mira, die einmal durch den Garten gerannt war, weil ein Igel so roch, als trage er ein Geheimnis im Stachelkleid. Bilder sind die Sprache, wenn zu viele Fakten gleichzeitig sprechen.
Die Spritze, die die Atmung beruhigen sollte, kam wie ein leiser Segen. Mira entspannte sich. Das Zittern verlor seine Kanten. Dr Fellhauer strich ihr über den Rücken, prüfte die Reflexe der Hinterläufe, vorsichtig, als wären sie mit Papier umwickelt.
Raimund bot an, eine alte Holzkarre aus dem Geräteschuppen zu holen. Damit könne man Mira die wenigen Meter bis zum Hauseingang bringen, ohne sie zu tragen. Gertrud nickte dankbar. Dankbarkeit kann schwer sein, wenn man sie selten gewohnt ist. Heute war sie leicht.
Als Raimund die Karre brachte, standen die Enten wieder näher am Ufer. Stipprich zog einen Halbkreis, als wolle er Abschied proben, obwohl niemand wegging. Gertrud sah hinüber und hob die Hand. Die Geste galt ihnen und ein wenig auch dem Fluss, der alles sah und nichts erzählte.
Sie legten eine alte Decke auf die Karre, das graugrüne Wolltuch darüber. Mira ließ sich heben, ohne zu murren. Die Augen suchten Gertruds Gesicht. Dort fand sie etwas, das wie eine Leitung war. Keine Elektrizität, eher ein stiller Strom, der ohne Funken auskommt.
Der Weg nach Hause war kurz und doch lang. Jeder Kiesel war ein einziger Schritt. Oben im Flur roch es nach Bohnerwachs und frisch gelüfteter Stille. Mira legte sich auf den Teppich vor der Balkontür, wo mittags ein Streifen Sonne lag. Gertrud setzte sich daneben und hielt die Zeit am Arm fest.
Dr Fellhauer schrieb die Medikamente auf einen Zettel, dessen Ecken sie rund riss, weil Ecken sich manchmal wie Fehler anfühlen. Sie sprach von Schmerzskalen und Schonung, von guten Tagen und schlechteren, die doch getragen werden können, wenn man die Last teilt. Dann ging sie, und ihr Gang war ein Versprechen, wiederzukommen, wenn man rufe.
Raimund blieb noch einen Moment. Er erzählte, dass seine Frau früher Hunde gezüchtet hatte, aber nur kleine, und dass in seinem Schuppen noch eine alte Rampe stand, die man über Stufen legen könne. Wenn Gertrud wolle, bringe er sie später vorbei. Sie sagte ja, und das Ja klang, als öffne jemand ein Fenster.
Am Nachmittag wurde der Himmel klar. Das Licht hielt sich an den Rändern der Dinge, als hätten sie Namen, die man nicht vergessen sollte. Gertrud kochte Hühnchen mit Reis, ganz weich, und legte es abgekühlt in eine flache Schale. Mira schnupperte lange. Dann fraß sie langsam, als lerne sie etwas neu.
Gertrud saß dabei und spürte das eigene Herz. Es hatte in den letzten Monaten eine neue Aufgabe bekommen. Es zählte nicht nur Tage. Es zählte die guten Atemzüge. Man kann davon leben, wenn man die Zählung nicht laut führt.
Die Nacht kam ohne Geräusch. Gertrud legte das Wolltuch über Miras Schultern. Die Hündin seufzte und sank in einen Schlaf, der die Pfoten leicht zuckte, als liefen sie wieder die Elbwiese hinab. Träume sind Gnade für Tiere. Sie erinnern nicht, sie wiederholen nur, was gut war.
Am Morgen würde die Bank wieder warten. So dachte Gertrud, als sie das Licht löschte. Sie wusste nicht, dass die Elbe in den Bergen Regen gesehen hatte, der hier noch nicht angekommen war. Der Fluss wusste es, und die Enten auch. Und irgendwo im Dunkel rührte sich die Fähre in ihrer Leine.
In der Ferne rollte es leise an.
🐾 Teil 3: Als das Wasser stieg
Der nächste Tag war kühler. Ein Wind strich aus der Biegung herüber, der nach feuchter Erde roch. Als Gertrud mit Mira den Uferweg erreichte, sah sie schon von Weitem, wie die Steine an der Böschung dunkler glänzten.
Das Wasser hatte an Höhe gewonnen, nicht dramatisch, doch spürbar, als hätte jemand eine Linie verschoben, ohne zu fragen.
Die Fähre legte mit mehr Schub an. Das Geräusch wurde voll, als schlucke der Fluss. Auf der Bank lag ein Blatt, das irgendwoher kam. Es klebte an der Lehne und zeigte eine helle Ader, die wie eine Karte aussah.
Gertrud setzte sich und legte Miras Kopf auf das Tuch. Die Hündin war wach, aber die Wachheit hatte Ränder, hinter denen sich etwas Weiches breit machte.
Die Enten kamen spät. Sie hielten Abstand, weil die Strömung am Rand stärker war als sonst. Stipprich wagte sich vor, in kleinen Schritten, mit Aufmerksamkeit im ganzen Körper. Er prüfte die Kante, als sei sie neu verlegt.
Gertrud warf die Körner höher, weg vom Rand. Das Korn blieb liegen, und die jungen Enten eilten. Stipprich nahm sich Zeit. Mira sah hin und schloss einmal langsam die Augen. Es hatte etwas von Segen, wenn sie so blinzelte.
Raimund erschien mit der Rampe. Er stellte sie an die drei Stufen zum Uferweg, probierte den Winkel, hob sie wieder und senkte sie, bis es richtig war. Mira beobachtete die Bewegungen mit diesem ernsten Blick, den alte Hunde haben, wenn Menschen etwas tun, das Sinn ergibt.
Ein Junge blieb stehen. Er trug den Namen Lior Thal, wie Gertrud später erfuhr, und fuhr sonst immer zu schnell. Heute schob er das Rad an der Hand und sah lange auf die Hündin.
Seine Mutter arbeitete auf der anderen Elbseite. Sie war selten früh zu Hause. Lior hob die Hand und fragte, ob er die Hündin einmal streicheln dürfe. Gertrud nickte. Seine Finger waren vorsichtig, als hielten sie eine Tasse heißen Tee.
Als Lior weiterging, hörte man schon das dumpfe Klatschen, mit dem der Fluss an die tieferen Steine schlug. Die Enten zogen in die Bucht zurück. Ein grauer Himmel setzte sich über die Allee.
Gertrud fühlte einen Druck hinter der Stirn, der nicht vom Wetter kam. Sie dachte an den Zettel der Tierärztin, an die Runde der Tabletten, an die Rampe, die nun da war, als würde ein Haus nachrüsten, weil es bleiben wollte.
Sie beschloss, heute früher zu gehen. Mira stand mit Hilfe auf. Die Rampe nahm die Angst aus den Stufen. Als sie den Kiesweg erreichten, rief jemand ihren Namen. Dr Fellhauer kam entgegen, ohne Mantel, mit raschem Schritt. Ihre Augen prüften, ohne zu verletzen. Sie sagte, sie wollte nur sehen, wie der Morgen war.
Gertrud erzählte von der Nacht, die ruhig gewesen war. Von dem Fressen, das langsam, aber nicht widerwillig genommen wurde. Von der Luft, die tiefer kam, wenn sie die Hand auf die Brust legte. Die Tierärztin nickte und hörte, auch auf das, was zwischen den Wörtern stand.
Es war ein Moment, der freundlich war, als würde die Zeit einen Stuhl dazustellen. Dann passierte etwas Kleines, das groß wirkte. Mira blieb stehen, mitten im Satz, den Gertrud gerade sagte. Die Hündin drehte den Kopf minimal, lauschte in sich hinein, und auf einmal war der Blick fort. Nicht weg, aber hinter einer Scheibe, die im Licht nicht zu sehen war.
Gertrud spürte, wie ihr die Kehle trocken wurde. Sie beugte sich, sagte Miras Namen, einmal, zweimal. Die Hündin atmete, doch es war ein Zählen ohne Melodie. Dr Fellhauer kniete schon, die Finger an der Leiste, am Puls, am Sternum. Ihre Stimme blieb ruhig, doch in ihr lag nun Eile.
Die Rampe stand neben ihnen, bereit und doch nutzlos. Der Fluss schlug weiter an die Steine. Stipprich tauchte, weil Enten tun, was der Tag verlangt. Der Himmel zog noch tiefer. Raimund kam aus der Ferne und lief, ohne zu rennen.
Gertrud hielt Miras Kopf in den Händen. Das Wolltuch roch nach ihr und nach Regen. Es roch nach den Jahren und nach einem letzten Sommer, der vielleicht schon vergangen war. Die Finger fanden den kleinen Wirbel am Hals, der nie glatt lag. Sie wusste nicht, dass sie ihn suchte. Sie fand ihn doch.
Dann tat Mira einen Atemzug, der tiefer war als die anderen. Es war kein Aufbäumen. Es war, als würde ein Raum irgendwo geöffnet, in dem es wärmer war. Die Tierärztin atmete mit, einmal lang, und sagte gleich darauf, leise und fest, was als Nächstes zu tun sei.
Und in diesem Augenblick, in dem die Anweisungen zu Worten wurden, stand plötzlich Lior wieder da. Er hatte etwas vergessen am Fluss. Er sah die Szene und hob die Hand, als wollte er die Zeit anhalten.
Das Wasser stieg weiter.