Jemand hat die alte Emailletasse wieder neben den Brunnen gestellt.
Im Wasser spiegelt sich ein grauer Himmel, als hätte er etwas verschluckt.
Aus dem Treppenhaus weht ein Geruch von feuchtem Fell und kaltem Stein.
Jemand flüstert den Namen, ohne ihn zu wagen, laut zu sagen.
Und etwas antwortet mit einem Blick, der länger bleibt als der Tag.
🐾 Teil 1: Der erste Schatten im Brunnenhof
Spätherbst 2018 in Mannheim, Neckarstadt-West. Der Hof ist ein Viereck aus Mauern, an deren Mitte ein Brunnen steht, seit Jahrzehnten blind und stumm. Neben dem Brunnentrog steht eine emailweiße Tasse mit blauem Rand. Manche nennen das Viereck den Brunnenhof, manche nur Hinterhof. Wer hier wohnt, teilt die Geräusche wie Brot.
Greta hat gelernt, die Schritte zu zählen. Zwölf Stufen vom Erdgeschoss bis zur ersten Plattform. Zwei Stufen, die im Winter glitschig werden. Sie ist eine mittelgroße Hündin mit einem Gesicht, das an alte Weidenrinde erinnert. Zwölf Jahre alt, sagt Aylin Sönmez, die im zweiten Stock lebt und in der Klinik am Neckar Nachtdienste schiebt. Ein rotes Tuch um den Hals, ausgeblichen wie ein Blatt, das zu lange am Fenster hing.
Greta gehört niemandem allein. Offiziell gehört sie Maris Dannenfeld aus dem Erdgeschoss, Buchhändlerin, oft unterwegs. Inoffiziell gehört Greta allen, die morgens die Mülltonnen an den Rand schieben, die Wäsche klopfen, die Fenster putzen, die rauchen.
Erwin Laux füttert sie manchmal mit kleinen Brocken Leberwurst und sagt dabei kaum etwas. Ilsebeth Ramm stellt ihr im Sommer Wasser hin, auch wenn der Brunnen nicht läuft. Immanuel Struwe, ehemaliger Lehrer, spricht leise Sätze, als würde er Gedichte üben.
Seit einigen Wochen bewegt Greta die Hinterläufe vorsichtiger. Sie steigt nicht mehr auf die Bank, auf der sie sonst die Sonne beobachtet. Im Hof fällt das auf wie ein fehlender Schlüssel. Aylin kniet sich hin, tastet die Hinterhand ab und spürt die Wärme eines Körpers, der zu viel leistet. Im Fell klebt Herbststaub. Greta atmet ein wenig schneller als früher.
Der Hof hat eigene Tiere. Ein Kaninchen, das Wenzel Polak aus dem dritten Stock eigentlich auf dem Balkon hält, macht manchmal Ausflüge. Wenzel hat es Quast genannt, weil sein Fell am Rücken zerzaust ist. Zwei Stadttauben, die Struwe Tarn und Quendel getauft hat, landen jeden Vormittag auf der Querstange des Wäschegerüsts. Und aus Ilsebeths Küche hört man Silex, einen sechsjährigen Wellensittich, der mit Vorliebe die Tonfolge vom Eiskratzen imitiert.
An einem Sonntag im November kommt Nieselregen schräg in den Hof. Maris steht im Türrahmen und hält das rote Tuch. Greta bleibt auf der Matte liegen. Der Blick ist wach, aber kurz. Als Aylin gegen Nachmittag heimkommt, liegt die emailweiße Tasse neben dem Brunnen und ist leer. Der Brunnen schweigt. Aylin füllt Wasser nach. Greta trinkt zwei Schlucke, mehr nicht.
Erwin rückt eine Kiste unter den Sims, damit es nicht zieht. Struwe legt eine alte Decke aus, die nach Kreide riecht. Ilsebeth bringt Haferflocken, obwohl niemand genau weiß, ob Hunde das brauchen. Jemand erzählt, dass es am Neckartor eine Tierärztin gebe, Dr. Rieke Neuffer, gut bei alten Hunden. Maris nickt, als müsse sie den Mut erst aus der Tasche ziehen.
Die Nacht senkt sich wie eine Hand. Geräusche werden schwer. Greta hebt den Kopf, wenn der Treppenhausflur knackt. Aylin sitzt daneben und zählt Atemzüge. Sie verpasst fast, wie Silex im Küchenfenster eine melodische Schleife dreht, die leiser ist als der Regen. Quast huscht in den Hof und legt ein Blatt Löwenzahn ab, das er irgendwo durch ein Gitter gezerrt hat.
Kurz vor Mitternacht versucht Greta aufzustehen. Die Hinterläufe gehorchen ungern. Ein Laut entweicht, kein Jaulen, eher etwas, das man in der Kehle spürt. Maris greift nach dem roten Tuch. Erwin sagt zum ersten Mal seit Stunden den Namen. Aylin steht schon, der Schlüssel für die Klinikjacke noch in der Tasche. Und in diesem Moment, als alle Hände nichts mehr Unnötiges tun, kippt etwas.
Aus der Hausdurchfahrt leuchtet plötzlich ein grelles Weiß. Blaue Buchstaben im Glas. Jemand hat die Tierarztpraxis angerufen, aber niemand hat den Hörer aufgelegt. Die Tür zum Hof steht offen, als atmete das Haus zu groß. Und Greta macht einen Schritt, der kein Schritt sein will, dann sinkt sie seitlich ab.
Der Brunnenhof hält die Luft an.
🐾 Teil 2: Nächte im Kreis der Nachbarn
Aylin trägt, Maris stützt, Erwin hält die Tür. Man bewegt sich wie durch dicken Schnee. Draußen riecht die Stadt nach nassem Beton und gebrannter Kastanie vom Kiosk an der Ecke. Das Taxi kommt, weil niemand ein Auto hat. Der Fahrer ist schweigsam, doch er fährt, als wüsste er die Dringlichkeit in Knochen und Gasfuß.
Die Praxis am Neckartor hat warmes Licht. Dr. Rieke Neuffer ist eine Frau mit ruhigem Blick, der nicht ausweicht. Sie fragt wenig, tastet viel. Greift unter die Rippen, prüft Reflexe, hört das Herz. Greta bleibt still, nur an der Stirn zuckt ein Muskel, wenn die Kälte der Metallplatte durch das Fell kriecht. Rieke spricht schließlich von Alter und Kraft, die sich neu verteilt. Kein Satz klingt wie ein Urteil, und doch liegen sie nebeneinander, die Möglichkeiten.
Maris nickt, aber ihre Finger umklammern das rote Tuch. Aylin stellt Fragen, die professionell klingen, und merkt doch, dass sie heute nicht in der Klinik ist, sondern im eigenen Herzen. Erwin sitzt auf dem Stuhl, der für wartende Menschen gemacht ist, und betrachtet die Körnung der Wandfarbe. Als Dr. Neuffer Schmerzmittel und eine sanfte Entzündungshemmung empfiehlt, wirkt es wie eine Schale unter kaltem Wasser. Plötzlich hält etwas.
Auf dem Rückweg ist die Stadt stiller. Im Hof warten Lichter hinter Gardinen. Struwe hat Thermoskannen gebracht. Ilsebeth hat Silex’ Käfig ans Fenster gerückt. Wenzel hält Quast auf dem Schoß, weil der graue Fellball immer dann ruhiger wird, wenn Hände schwer sind. Tarn und Quendel drehen droben eine Runde, als ob ihre Flügel den Hof abzirkeln.
Greta liegt wieder auf der Decke. Die Augen sind weniger verkrampft. Die Hinterläufe ruhen, als hätten sie gelernt, nichts zu beweisen. Aylin erklärt, wie die Tabletten zu geben sind. Maris hört zu und hält den Blick auf das emailweiße Bechlein gerichtet, das neben dem Trog steht. Jemand hat es mit lauwarmem Wasser gefüllt. Jemand hat es in Richtung der Pfote geschoben.
In den folgenden Tagen entsteht eine Ordnung, die niemand beschließt. Erwin übernimmt die frühen Morgenstunden. Aylin die späten Abende nach dem Dienst. Struwe sitzt zur Mittagszeit und liest halblaut Sätze, die nicht wie Sprüche klingen. Ilsebeth singt nicht, doch Silex tut es für sie. Wenzel lässt Quast kurz laufen, damit er ein Blatt bringt, das er zu wichtig findet, um es zu fressen.
Die Nachbarn sprechen leiser, wenn sie den Hof queren. Die Mülltonnen rollen behutsamer. Kinder springen nicht, sondern gehen auf Zehen. Aus der Dachrinne tropft es in regelmäßigen Abständen. Das alte Eisen des Brunnens hat an einer Stelle noch grüne Farbe, wie ein Gedanke, der nicht weg will.
Eines Abends bringt Aylin eine Wärmelampe, die sie aus einem Schrank der Klinik ausgeliehen hat. Das Licht legt eine Insel auf die Decke. Greta dreht den Kopf zu ihr hin, nicht als wäre sie geblendet, eher, als spannten sich Fäden zwischen Wärme und Atem. Maris sitzt daneben, die Hände unter den Oberschenkeln versteckt, damit sie nicht zittern.
Dann kommt ein Brief. Dietmar Piskorski, der Hausverwalter, hat ihn in die Klemmbrettbox an der Haustür geheftet. Es gehe um den Hof, der nicht als Tierpflegestation vorgesehen sei. Es gehe um Ruhezeiten. Es gehe darum, dass Verantwortung Grenzen brauche. Die Schrift ist ordentlich, der Ton kühl. Erwin liest ihn und faltet ihn einmal zu häufig.
Niemand sagt laut, was alle spüren. Etwas von draußen hat seine Hand ins Innere gesteckt. Man spricht von Lösungen. Maris will mit Dietmar reden. Aylin kennt Paragrafen nicht, aber sie kennt Gesichter, die an Türen stehen. Struwe schlägt vor, den Vermieter anzuschreiben, Konrad Zöllig, eine Figur mit Adresse, aber ohne Stimme im Haus.
Greta schläft ruhig. Doch in der Ruhe liegt eine neue Schwere. Aylin prüft den Atem und streicht über das rote Tuch. Ilsebeth stellt die Tasse näher an die Schnauze. Silex singt eine Abfolge, die an Pfeifen im Wind erinnert. Tarn und Quendel landen auf dem Brunnensims und schauen hinab.
Und in dieser Stille, die sich über alle legt, hebt Greta den Kopf, als hätte sie jemanden rufen hören. Sie blickt zur Durchfahrt. Ihr Blick wird lang, wie wenn man etwas sieht, das man gestern verloren hat. Dann senkt sie ihn wieder. Die Frage bleibt im Hof wie eine offene Tür.
Wen hat sie gehört.
🐾 Teil 3: Das Wasser beginnt wieder zu fließen
Am nächsten Morgen ist der Hof klar. Ein schmaler Streifen Sonne stiehlt sich zwischen zwei Dachkanten und legt Licht auf das Eisenrad der Pumpenkrone. Erwin entdeckt unter dem Sims ein kleines Bündel Federn. Tarn und Quendel haben sie dort verloren oder abgelegt. Er legt das Bündel neben die Tasse, als wäre es ein Wort.
Maris telefoniert. Dietmar ist zunächst nicht zu sprechen. Die Stimme der Assistentin klingt dünn, sie verspricht Rückruf. Aylin setzt sich an den Rand der Decke und spricht zu Greta, ohne Sätze zu beenden. Manchmal enden Stimmen dort, wo Atem beginnt. Greta atmet gleichmäßig. Die Hinterläufe zucken im Schlaf, als liefen sie woanders.
Quast erscheint. Er trägt einen halben Löwenzahn wie einen Trophäenast. Seine Ohren sind wie zwei kleine Boote, die die Luft lesen. Er legt das Grün vor die Pfote der Hündin und bleibt sitzen. Seine Nase bebt. Irgendwo raschelt es. Silex im Fenster nickt im Takt eines unsichtbaren Taktes.
Struwe erzählt, dass es einst Wasser im Brunnen gab, echtes, kaltes Wasser, das an Pfingsten nach Metall schmeckte. Ein alter Messingschlüssel müsse noch irgendwo existieren, mit dem man die Leitung prüfe. Vielleicht bei Edda Halverscheid im Nachlass, die vor Jahren in der dritten Etage starb und den Hof geliebt hat. In ihrer Küche stand die Emailletasse, die nun neben dem Trog ruht.
Ilsebeth erinnert sich. In einer Schachtel mit getrocknetem Flieder habe Edda Schlüssel aufgehoben. Die Schachtel sei bei der Entrümpelung in den Keller gewandert. Dietmar müsse wissen, wo die Kiste steht. Es ist die erste Spur, die nach vorn zeigt. Aylin nimmt ihre Jacke und verschwindet in das Treppenhaus, dessen Geruch von Farbe und Staub nie ganz weicht.
Der Keller ist ein Gedächtnis, das auf Regalbrettern liegt. Aylin findet die Kiste mit einem verblassten Zettel, auf dem Edda in geschwungenen Buchstaben ihren Namen schrieb. Zwischen Knöpfen, Garnen und Briefen liegt tatsächlich ein Messingschlüssel, schwer und glatt. Aylin trägt ihn in der Handfläche, als könnte er fallen und die Stille zerspringen.
Oben passt der Schlüssel. Dietmar kommt im selben Moment in den Hof, die Stirn in Falten, weil jemand um Rückruf bat. Er sieht den Kreis aus Menschen, den Hund auf der Decke, das Licht der Wärmelampe, das Bündel Federn. Seine Stimme will streng sein, doch sie stolpert einen Moment, als Silex eine helle Figur singt.
Mit Dietmars Hilfe öffnen sie den Verschluss. Ein langer Atemzug des Rohres hustet Rost. Dann fließt ein dünner Faden. Erwin hält die Tasse darunter. Das Wasser ist zuerst braun, dann klar. Er reicht Maris die Tasse. Maris hält sie Greta hin. Die Hündin hebt den Kopf und trinkt. Zwei Schluck. Dann noch einen. So trinkt jemand, der keinen Beweis mehr führen muss.
Dietmar sieht zu. In seinem Gesicht geschieht etwas, das selten ist, wenn Menschen Dienstpläne halten. Ein Satz wird leiser, bevor er gesagt wird. Er nickt kurz, als jemand, der die Kante eines anderen Stuhls fühlt. Er sagt, man könne über die Nutzung des Hofes sprechen, wenn Dinge geordnet seien. Er sagt, der Hof sei alt und müsse es bleiben, aber alt bedeute nicht stumm.
Als die Sonne wandert, wird es wärmer. Die Kinder malen Kreidekreise um den Brunnen, als wollten sie Boden erzählen. Greta schläft. In ihr bewegen sich Bilder von Treppen und Händen. Aylin legt das rote Tuch neu. Quast döst in der Nähe, Tarn und Quendel picken ungestört am Sims. Silex spielt einen Ton, der im Hof hängen bleibt.
Maris öffnet die Haustür, um frische Luft zu holen. In diesem Augenblick rutscht ein Ball die Stufen hinab, der niemandem gehört. Er springt in den Hof und rollt bis zum Trog. Greta hebt den Kopf, folgt dem Ball mit den Augen und steht. Sie macht zwei Schritte, dann drei. Die Hinterläufe schleifen nicht, aber sie wissen, wie man vorsichtig ist. Maris hält die Luft an.
Greta setzt die Pfote auf den Ball. Der Ball rollt unter die Bank. Greta wendet und schaut zur Durchfahrt. Dann setzt sie erneut den Fuß, als wolle sie den Rand der Welt prüfen. Sie bewegt sich zur Tür, die einen Spalt offen steht. Aylin ruft leise. Erwin streckt die Hand aus. Doch in Gretas Blick liegt etwas, das sie niemandem schuldet. Sie tritt in den Schatten der Durchfahrt und ist einen Herzschlag später nicht mehr zu sehen.
Der Hof bleibt zurück wie ein aufgeschlagenes Buch.