Die Stunde der Ziegen | Als seine Hündin starb, rückte die Ziegenherde näher und offenbarte ein uraltes Geheimnis

Manchmal ändert ein Atemzug die Ordnung eines ganzen Hofes.

Noch bevor der Morgen graut, hält etwas Unsichtbares die Tiere zusammen.

Ein leiser Blick, den nur, wer lange trauert, erkennt.

In der Stille liegt eine Bitte, die keiner ausspricht.

Und irgendwo im Dunkeln wartet eine alte Hündin.

🐾 Teil 1: Die Stille vor dem Sturm

Der Januar hing schwer über der Rhön. Feuchte Kälte sickerte aus den Hecken und legte sich auf die Holzstufen des kleinen Hauses am Rand von Wechterswinkel. In der Küche roch es nach geröstetem Roggenbrot und nach Wolle. Kaspar Lewerenz stand am Fenster und zählte automatisch die Rücken der Ziegen, die wie dunkle Wellen im grauen Hof ruhten.

Alma schlief an der Türschwelle. Dreizehn Jahre trug sie dieser Hofhündin schon im Fell. Ihre Schnauze war gesprenkelt, ihr Blick wach, aber matt. Man hörte das Herz an manchen Tagen, als spräche es im eigenen Takt mit dem Wind. Wenn sie aufstand, tat sie es langsam, als lausche sie zuerst, ob die Welt dafür bereit sei.

Kaspar streifte sich die Wachstuchjacke über. Er nahm den kleinen Messingglöckchenkranz vom Nagel, den einst seine Frau Helma aus einem aufgegebenen Klosterhof in der Rhön mitgebracht hatte. Es war ein leises Ding, die Schälle zitterten mehr, als dass sie klangen. Für Kaspar war es die Stimme eines anderen Winters, das letzte Geschenk, das Helma lachend in der Küche ausgepackt hatte. Seither hing der Kranz wie eine Zusage neben der Tür.

Er öffnete und die Luft roch nach feuchter Erde. Alma hob den Kopf, ihre Ohren zuckten. Die Ziegen, sieben an der Zahl, Thüringer Waldziegen mit schmalen Köpfen und hellen Flanken, standen enger beieinander als sonst. Vesper war die Älteste, acht Jahre, klug und eigensinnig. Daneben die zierliche Kaja, die stets als erste zum Melkstand sprang.

Miro, ein kräftiger Bock mit ruhigem Blick. Und die drei Junghasen, so nannte Kaspar die zweijährigen Schwestern, die noch das Ungestüme im Schritt hatten. Hinten hielt sich die kleine Sorella, die im Herbst eine Bronchitis gehabt hatte und jetzt wieder ordentlich fraß.

Kaspar trat in den Hof. Alma folgte, der Schritt kurz, die Pfoten sacht auf dem nassen Boden. Etwas war anders. Die Ziegen lösten sich nicht wie üblich auseinander. Sie rückten zusammen, als formten sie einen Schutz. Vesper trat vor, schnupperte an Almas Stirn. Alma blinzelte langsam, als erkenne sie etwas Bekanntes. Kaja legte den Kopf schief. Miro senkte die Hörner, nicht drohend, eher prüfend.

Kaspar hielt inne. Er kannte die Muster dieses Hofes. Er wusste, wann die Schwalben kamen, wann der Schatten der Birke die Milchkanne traf, wann die alte Pumpe im Hof zu pfeifen begann. Dieses neue Bild passte in keines seiner Muster. Ziegen hielten Abstand, wenn es ihnen zu eng wurde. Heute schoben sie sich wie Wasser an Steinen entlang, bis sie Alma berührten.

Er ging zum Stall. Das Holz kroch unter den Fingern. Der Melkstand war kalt. Er stellte die Eimer bereit, prüfte das Kraftfutter, das er sparsam nutzte. Milch war in diesen Wochen weniger. Der Winter fraß sich durch jede Rechnung. Kaspar hatte gelernt zu zählen, seit Helma nicht mehr da war. Er zählte nicht wie ein Händler, er zählte wie einer, der Atemzüge aufhebt.

Als er die erste Ziege hereinführte, drehte Alma sich schwerfällig und legte sich so, dass sie den Eingang im Blick behielt. Vesper ließ sich melken, schweigsam, nur ein gelegentliches Kauen, das im Stall wie ein Takt klang. Kaspar strich über den warmen Leib und spürte ein kleines Zucken. Er dachte an die Zeit, als Helma noch an der anderen Seite stand, ihre Hände schneller als seine, ihr Lachen ein helles Licht am frühen Morgen.

Nach dem Melken brachte er die Eimer in die Küche. Auf dem Tisch stand die Emaillekanne mit der blau umlaufenden Kante, eine Schramme an der Seite, wie ein Erinnerungszeichen. Er strich den Dampf zur Seite. Alma blieb in der Tür liegen, die Ziegen stellten sich im Hof in Hufeisenform, mit dem offenen Ende zur Schwelle. Es war, als hätten sie eine Grenze gezogen, die Menschen nicht sehen.

Gegen Mittag kam Dr. Brygida Merten die Dorfstraße hinauf. Sie fuhr einen alten Kombi, dessen Motor in der Kälte so klang, als huste er um Luft. Merten war seit Jahren die Tierärztin in den verstreuten Höfen zwischen Oberelsbach und Fladungen. Ihr Name war so selten wie ihr Lächeln. Sie sprach nie mehr als nötig, doch wenn sie eine Pfote hob, tat sie es mit einer Zärtlichkeit, die nicht gesucht war.

Im Haus roch es nach Heu und nach Kaffee. Kaspar ließ sie eintreten, Alma hob sich auf die Ellenbogen, die Ziegen im Hof drängten dichter. Merten kniete neben der Hündin und legte zwei Finger an den Hals. Sie hörte das Herz, das keuchte, als trüge es Lasten aus vergangenen Jahren. Sie schaute in die Augen, die klüger waren als alle Worte, die im Raum hätten stehen können.

Alma atmete flach. Die Tierärztin horchte mit dem Stethoskop, das Metall kalt auf dem Fell. Sie nickte kaum merklich, eine Bewegung, die in Kaspar einsank. Er dachte an den Sommer, als Alma die entlaufene Sorella vom Feldrand zurückgeführt hatte, behutsam, ohne zu drängen. Er dachte an den Herbst, als Alma nachts wach lag und die Schritte entlang des Zauns zählte, als lausche sie auf die Rückkehr eines Menschen, der nicht mehr kam.

Merten sagte leise, das Herz sei schwach. Die Klappen undicht, das Alter unnachgiebig. Es gebe Medikamente, die helfen könnten. Keine Heilung, aber Zeit. Zeit sei etwas, das man benutze wie warmes Wasser. Man müsse es halten, solange die Hände es hielten.

Kaspar nickte. Er hatte vor Monaten aufgehört, nach großen Lösungen zu fragen. Er fragte nur noch nach Dingen, die er tragen konnte. Er nahm die Tabletten, die Merten aus der Tasche zog, kleine weiße Monde in einer Folie. Dosierung morgens und abends. Schonung. Ruhe. Wärme.

Als Merten ging, stand der Hof still. Kaspar hörte die Ziegen atmen. Er setzte sich auf die Stufe an der Tür, Alma legte den Kopf auf seinen Fuß. Vesper trat näher und stieß die Hündin sacht mit der Nase an. Ein leises Meckern, beinahe ein Wort. Die anderen rückten nach, eine halbe Kreisbewegung, als hielten sie Wache.

Die Dämmerung kam früh. Nebel streifte die Kuppen der Rhön. Kaspar entzündete die Stalllampe. Er trug Alma ihr altes Wolltuch, das Helma für kalte Nächte gestrickt hatte, über den Rücken. Die Hündin ließ es geschehen. In ihren Augen lag etwas, das über Müdigkeit hinausging. Es war eine Art Einverständnis mit der Kälte, eine Annahme dessen, was man nicht mehr ändert.

In der Nacht wachte Kaspar auf, weil der Hof zu leise war. Selbst die Pumpe schwieg. Er trat hinaus. Die Ziegen standen geschlossen vor der Stalltür, wie ein dunkler Gürtel, in dem einzelne Atemwolken aufstiegen. Alma lag auf der Schwelle und atmete schwer. Die Lampe war erloschen. Aus dem Nebel klang ein fernes Rufen, vielleicht ein Vogel, vielleicht nur der Wind.

Kaspar kniete. Er hielt seine Hand auf Almas Brust und fühlte das unruhige Klopfen. In der Ferne heulte eine Sirene, sehr weit, ein menschliches Geräusch in einer Nacht, die nur für Tiere gemacht war. Alma öffnete die Augen. In ihnen lag ein ruhiges Ufer. Vesper meckerte kurz, ein heller Riss in der Stille.

Dann stockte Almas Atem.

Und in derselben Sekunde trat Miro aus dem Kreis der Ziegen und stellte seine Vorderhufe mitten in das Licht der Tür, als wolle er etwas aufhalten, das bereits den Hof betreten hatte.

🐾 Teil 2: Das schwache Herz

Kaspar kniete noch auf den kalten Steinen, die Hände auf Almas Brust, als das erste Licht des Morgens durch den Nebel brach. Ihr Atem hatte wieder eingesetzt, flach, zögerlich, als hätte die Nacht sie fast davongetragen. Miro stand noch immer an der Tür, unbeweglich, der Blick streng, als sei er der Wächter einer Schwelle, die kein Mensch verstand.

Die Ziegen hielten ihre Position, dicht gedrängt, wie ein einziger Körper. Kaspar spürte, dass hier etwas geschah, das über die Gewohnheit eines Hofes hinausging. Er hätte schwören können, dass sie nicht Alma bewachten, sondern etwas Unsichtbares, das sich in ihre Mitte gesenkt hatte. Vielleicht die Angst, vielleicht das Wissen, dass das Ende nahe war.

Er hob die Hündin vorsichtig an und trug sie ins Haus. Ihr Körper war leichter geworden, als hätte er in der Nacht einen Teil von sich abgegeben. Auf der Holzbank neben dem Ofen legte er sie nieder. Alma öffnete die Augen, kurz, ein matter Glanz. Sie suchte sein Gesicht, dann die Tür. Als müsse sie sicher sein, dass die Ziegen noch da waren.

Kaspar legte Holz nach. Das Knistern im Ofen war das einzige Geräusch. Er saß still, das Gesicht in die Hände gedrückt. Vor Jahren hatte er sich geschworen, niemals vor Tieren zu weinen. Doch in diesem Moment liefen ihm Tränen über die Finger. Er hörte sie tropfen, wie Tropfen von Regen, die niemand mehr bemerkte. Alma drehte den Kopf, als lausche sie. Dann schloss sie die Augen, und für einen Atemzug schien es, als beruhige sie die Schwäche seines Weines.

Am Vormittag kam Nachbarin Selinde Markwart vorbei. Sie brachte ein Glas eingekochte Pflaumen, stellte es auf den Tisch, ohne viele Worte. Selinde war eine Witwe wie er. Sie kannte das Schweigen, das bleibt, wenn einer geht. Ihr Blick fiel auf Alma, die kaum den Kopf heben konnte. Dann wanderte ihr Blick zum Fenster, wo die Ziegen im Hof standen, ungewöhnlich still.

„Sie halten bei ihr“, sagte Selinde leise. „Manchmal wissen Tiere mehr, als wir ihnen zutrauen.“ Kaspar nickte, unfähig zu antworten. Sie blieb eine Weile, sprach von Kleinigkeiten, dem Wetter, den Preisen für Heu. Doch ihre Worte prallten ab wie Regentropfen von Glas. Als sie ging, blieb der Raum wieder leer, erfüllt nur vom Atem des Hundes und der Wärme des Feuers.

Am Nachmittag gab Kaspar Alma die erste Tablette. Sie schluckte widerstandslos, trank ein wenig Wasser, leckte dann kurz über seine Hand. Ein alter Reflex, zärtlich und vertraut. Er erinnerte sich an den Tag, als er sie als Welpen aus einer kleinen Zucht in Dermbach geholt hatte. Helma hatte damals gelacht, weil das Tier sofort an ihrem Rockzipfel genagt hatte. „Die bleibt“, hatte sie gesagt, und sie war geblieben. Dreizehn Jahre lang.

Draußen bewegten sich die Ziegen kaum. Sie knabberten nicht wie sonst an der Rinde, sie sprangen nicht über den Zaun. Sie standen dicht zusammen, das Gesicht zur Tür. Kaspar trat hinaus, um Futter zu streuen. Doch statt sich darauf zu stürzen, blieben sie bei Alma. Nur Vesper hob kurz den Kopf und sah ihn an. Es war ein Blick, der weniger bat als vielmehr mahnte. Kaspar verstand ihn nicht ganz, doch er fühlte sich getroffen.

Die Stunden vergingen schwer. Als die Dunkelheit zurückkehrte, saß Kaspar noch immer auf der Bank, den Blick auf Alma. Draußen hörte er das rhythmische Stampfen von Hufen. Nicht wild, nicht panisch. Ein gleichmäßiger Schritt, fast wie eine Wache. Er stand auf, öffnete die Tür. Die Ziegen bewegten sich im Kreis um den Stall, langsam, jede in ihrem eigenen Takt, doch zusammen ein Bild, das fremd und alt wirkte. Kaspar erinnerte sich an Geschichten von Herdenschutz, von uralten Bräuchen, in denen Tiere Zeichen setzten, die Menschen nicht mehr verstanden.

Alma hob im selben Moment den Kopf und lauschte. Ihre Augen glänzten im Feuerschein, ein letztes Aufflackern. Sie wollte hinaus. Kaspar zögerte, doch dann legte er ihr das Wolltuch wieder über und trug sie in den Hof. Die Ziegen hielten sofort inne. Miro trat vor, senkte den Kopf, als wolle er ihr den Weg freimachen. Kaspar setzte sie auf das Heu am Rand, wo der Wind vom Berg her wehte. Alma schloss die Augen, als wäre sie angekommen.

Die Tiere bildeten einen engen Kreis. Kein Laut, kein Sprung, kein Drängen. Nur ihre Atemwolken im Licht der Lampe. Kaspar stand mitten in ihnen, sein Herz schlug schneller, als müsste er mit ihnen atmen. Er verstand plötzlich, dass er nicht allein war. Dass dieser Hof, so klein und still er schien, mehr trug als die Arbeit seiner Hände.

Die Nacht sank tiefer. Der Nebel legte sich auf die Felder, schwer wie ein Tuch. Kaspar blieb neben Alma sitzen, die Ziegen unbeweglich um sie herum. Ein uraltes Bild, das niemand sah außer ihm. In der Ferne schlug die Kirchturmuhr von Wechterswinkel zehnmal. Alma öffnete noch einmal die Augen, als lausche sie dem Klang.

Dann geschah es. Vesper stieß ein langes, klagendes Meckern aus, das durch die Stille schnitt wie ein Messer. Alma atmete schwer und legte den Kopf zurück. Kaspar spürte, wie sein Herz sich verkrampfte. Und er wusste, dass dies erst der Anfang einer Nacht war, die ihn an den Rand seiner Kräfte bringen würde.

🐾 Teil 3: Die Nacht des Kreises

Die Nacht war lang, und der Hof hielt den Atem an. Kaspar hatte das Gefühl, die Zeit sei dicker geworden, als flösse sie nicht mehr wie Wasser, sondern wie Honig. Jeder Schlag der Uhr in Wechterswinkel klang wie aus weiter Ferne. Er saß im Kreis der Ziegen, die dicht an Alma gedrängt standen, und spürte, dass dieser Hof in etwas hineingezogen war, das größer war als sein eigenes Leben.

Alma lag still, die Brust hob und senkte sich mühsam. Kaspar legte das Wolltuch enger um sie. Ihre Augen waren geschlossen, doch manchmal zuckten ihre Ohren, als lauschten sie auf Stimmen, die niemand außer ihr hören konnte. Miro stand so dicht, dass Kaspar das raue Fell an seiner Schulter spürte. Die anderen Ziegen hatten sich niedergelegt, ein Kreis aus Körpern, die Wärme gaben. Es wirkte wie eine alte Ordnung, als hätten sie diese Rolle schon lange gekannt.

Kurz vor Mitternacht begann es zu schneien. Erst nur ein paar Flocken, dann dichter, bis der Hof weiß überzogen war. Das Licht der Stalllampe spiegelte sich in den Kristallen, und die Atemwolken der Tiere verschwammen mit dem fallenden Schnee. Kaspar dachte an Helma. Wie sie früher an solchen Nächten an der Tür gestanden hatte, den Schal eng um die Schultern, die Hände verschränkt. „Man muss den Winter nehmen, wie er kommt“, hatte sie gesagt. Und er wusste, dass er den Winter nie anders nehmen konnte.

Einmal setzte sich Vesper neben Alma und legte die Schnauze auf ihren Rücken. Alma öffnete die Augen einen Spalt, als erkenne sie die Geste. Kaspar sah dieses Bild und musste sich abwenden, weil die Tränen ihm wieder in die Kehle stiegen. Es war, als schützten die Ziegen nicht nur die Hündin, sondern auch ihn, der zu schwach geworden war, das Unausweichliche allein zu tragen.

Als der Morgen graute, war die Welt stiller geworden. Schnee bedeckte den Zaun, die Scheune, die Äste der alten Birke. Kaspar trug Alma zurück ins Haus, legte sie neben den Ofen. Sie war noch da, aber ihr Blick war tiefer, als reichte er an Orte, die Kaspar nicht betreten konnte. Er kochte Haferbrei, doch er aß kaum. Er hörte auf jedes Geräusch der Hündin, auf jedes Atemholen, als hänge sein eigenes Leben daran.

Am späten Vormittag kam Dr. Merten wieder. Sie hatte den Weg trotz Schnee auf sich genommen, und als sie das Haus betrat, wehte kalte Luft herein. Sie sah Alma an, dann den Kreis der Ziegen im Hof. Ihre Stirn runzelte sich, nicht aus Zweifel, sondern aus Erstaunen. Sie kniete sich nieder, prüfte den Puls. Das Herz war schwach, doch es schlug noch. Sie gab Kaspar weitere Tabletten, sprach von Schonung, von Wärme, von der Möglichkeit, dass noch Wochen blieben. Ihre Stimme war ruhig, doch in ihren Augen lag ein Wissen, das schwerer war als Worte.

Nachdem sie gegangen war, setzte Kaspar sich wieder auf die Bank. Er nahm das Glas Pflaumen von Selinde und stellte es neben sich, doch er öffnete es nicht. Er konnte keinen süßen Geschmack ertragen in einer Zeit, die nur Bitterkeit kannte. Alma atmete flach, schlief ein, erwachte, blickte ihn an, schlief wieder. Und draußen im Hof hielten die Ziegen die Stellung, als hätten sie Wurzeln geschlagen.

Am Nachmittag wagte Kaspar einen Versuch. Er öffnete die Stalltür, um die Tiere in den hinteren Teil der Weide zu führen. Doch sie gingen nicht. Sie blieben am Haus, drängten sich wieder zur Tür, wo Alma lag. Kaspar stand mit der Hand am Holzriegel, ratlos. Er hatte gelernt, dass Tiere ihre eigenen Gesetze hatten. Aber dieses Gesetz war ihm neu. Schließlich ließ er die Tür offen und sah zu, wie die Ziegen ihre Köpfe senkten, als hätten sie gewonnen.

Die Stunden flossen wieder schwer. Kaspar sprach leise mit Alma, Worte ohne Antwort, die er nur sprach, um nicht im Schweigen zu ertrinken. Er erzählte ihr von den Jahren, als sie gemeinsam die Felder bestellt hatten, von den Nächten, in denen sie wach vor dem Stall gesessen und Füchse verjagt hatte. Er erzählte, wie Helma sie immer als „Herz des Hofes“ bezeichnet hatte. Alma blinzelte, als sei jedes Wort ein kleines Licht.

Als die Dämmerung zurückkam, trat Kaspar hinaus. Der Schnee lag hoch, der Himmel war trüb. Die Ziegen standen wieder im Kreis. Plötzlich hob Miro den Kopf und stieß ein tiefes, kehliges Meckern aus. Es war kein Laut, wie Kaspar ihn kannte. Es war ein Ton, der aus der Tiefe kam, roh, beinahe feierlich. Die anderen Ziegen antworteten mit kurzen Lauten, und für einen Moment klang es wie ein Gesang, unruhig, fremd und doch geschlossen.

Kaspar spürte, wie sich ihm die Haare im Nacken aufstellten. Es war, als hielten die Tiere eine Totenwache, obwohl Alma noch atmete. Er sah in den Hof, sah den Schnee, die dunklen Gestalten der Ziegen, die Unruhe in ihren Stimmen. Und er wusste mit einem Schlag, dass dies nicht einfach ein Zufall war, kein Spiel von Instinkten. Hier geschah etwas, das tiefer reichte.

Er kehrte ins Haus zurück. Alma lag still, die Augen halb geöffnet, als lausche sie auf den Gesang draußen. Kaspar kniete neben ihr, legte seine Hand auf ihr Fell. Der Ofen knackte, und draußen klangen die Stimmen der Ziegen weiter. Er fühlte, wie eine Last schwerer wurde, aber auch, wie sie geteilt wurde.

Und dann, kurz bevor die Nacht ganz hereinfiel, stieß Vesper einen letzten, langen Laut aus, der durch den Hof schnitt. In derselben Sekunde begann Alma heftig zu zittern. Kaspar beugte sich über sie, seine Hand fest auf ihrem Brustkorb. Ihr Blick flackerte, suchte sein Gesicht. Und er wusste nicht, ob dies der Moment war, in dem er sie verlieren würde, oder der Moment, in dem er zum ersten Mal verstehen musste, was die Ziegen wirklich wussten.

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