Als die Männer mit den roten Helmen die Tür eintraten und einen stummen Jungen im Dunkeln fanden

„Herr Neumann, ich verstehe, dass Sie helfen wollen, aber…“

„Haben Sie den Brief gelesen?“, fragte ich.

„Ich… habe ihn vorliegen, ja. Aber so funktioniert das nicht. Wir können Kinder nicht einfach Menschen geben, die ihre Mutter zufällig ausgesucht hat.“

„Zufällig?“ Ich musste aufpassen, nicht laut zu werden. „Sie hat uns monatelang beobachtet. Sie hat entschieden, dass wir ihm guttun. Besser als die Leute, vor denen sie geflohen ist.“

Frau Petersen seufzte. „Er hat immer noch Familie. Der Großvater väterlicherseits hat sich bereits gemeldet.“

„Der Mann, der zugesehen hat, wie sein Sohn Frau und Kind terrorisiert hat?“

„Wir können nicht einfach…“

Ich sah, wie zwei Reporter mit Kamera im Flur auftauchten.
Jemand hatte gesprochen.
Natürlich.

Sie kamen direkt auf uns zu.

„Herr Neumann? Stimmt es, dass Sie einen Jungen in einer verlassenen Wohnung gefunden haben? Mit einem Abschiedsbrief der Mutter?“

Frau Petersen hob abwehrend die Hände. „Keine Kommentare!“

Ich dachte an Miriam im Keller. An ihr „Bitte“ am Ende des Briefs.

Dann schaute ich in die Kamera.


„Ja“, sagte ich. „Ich habe Jonas gefunden. Und ich habe seiner Mutter einen letzten Wunsch versprochen.“

„Was für einen Wunsch?“, fragte der Reporter.

„Sie hatte Angst, dass ihr Sohn nach ihrem Tod wieder in die Gewaltfamilie seines Vaters zurückmuss. Also hat sie ihn dort zurückgelassen, wo sie die Menschen gesehen hat, die helfen, wenn sonst niemand kommt: bei unserem Verein, den ‚Roten Helmen‘.“

Ich hielt den Brief hoch.

„Sie hat geschrieben, wir seien raue Männer mit weichen Herzen. Dass sie uns monatelang beobachtet hat. Sie wollte, dass ihr Junge bei Leuten aufwächst, die anpacken, statt wegzuschauen.“

„Heißt das, Sie weigern sich, Jonas dem Jugendamt zu überlassen?“, fragte der Reporter.

„Das Jugendamt gehört dazu“, sagte ich. „Aber eins sage ich klar: Wir werden nicht tatenlos zusehen, wie Jonas in ein Umfeld zurückgeschickt wird, vor dem seine Mutter sogar im Sterben noch Angst hatte.“

Frau Petersen sah mich streng an, aber in ihren Augen war auch etwas anderes.
Mitleid.
Oder vielleicht Erleichterung, dass jemand laut sagte, was sie dienstlich nicht durfte.


Die Geschichte verbreitete sich schneller, als ich mir je vorgestellt hätte.

In den Nachrichten sprach man vom „Jungen aus dem Kellerhaus“.
Im Internet tauchte der Hashtag #RettetJonas auf.
Jemand hatte den Brief – vorsichtig anonymisiert – ins Netz gestellt.

Die Menschen stritten.
War Miriam egoistisch? War es mutig?
Durfte sie überhaupt entscheiden, wer ihren Sohn großzieht?

Zwischen all den Meinungen stand eins fest:
Niemand wollte, dass Jonas wieder in ein gewalttätiges Umfeld zurückmusste.

Die Familie des Vaters meldete sich plötzlich sehr laut zu Wort.

„Wir sind seine leibliche Familie“, sagte der Großvater in einem Fernsehinterview. „Dieses… Männertrüppchen mit den roten Helmen hat kein Recht, uns unser Blut wegzunehmen.“

Niemand erwähnte im Beitrag, dass er zweimal wegen Körperverletzung angezeigt worden war.
Niemand erwähnte, dass sein Sohn, Jonas’ Vater, im Gefängnis saß.

Aber das Internet schwieg nicht.
Es gibt immer Leute, die nachfragen, nachlesen, nachhaken.


Nach drei Tagen meldete sich eine Anwältin bei mir.

„Herr Neumann? Hier spricht Lena Richter. Sie kennen mich vermutlich nicht, aber ich kenne Sie.“

„Ach ja?“

„Sie haben mich vor zwölf Jahren aus einem verunglückten Auto geholt. Vor dem Tunnel an der Bundesstraße. Ich war damals schwanger.“

Langsam erinnerte ich mich. Der Regen, das zerquetschte Auto, das Baby, das später gesund zur Welt kam.

„Ja“, sagte ich. „Ich erinnere mich an den Einsatz.“

„Dann lassen Sie mich jetzt Sie aus einem Scherbenhaufen ziehen“, sagte sie. „Ich arbeite im Familienrecht. Und ich würde Jonas gern vertreten – pro bono.“


Innerhalb von zwei Wochen stand der Termin beim Familiengericht fest.
Bis dahin war Jonas in einer Bereitschaftspflege untergebracht – bei mir.

Lena hatte es irgendwie geschafft.
Mein polizeiliches Führungszeugnis war sauber, meine lange Tätigkeit in der Feuerwehr sprach für mich.
Und der Verein „Rote Helme“ hatte plötzlich dutzende Unterstützungsbriefe.

Trotzdem war es zuhause schwer.

Jonas wachte nachts schreiend auf. „Mama! Mama, ich bin hier! Du musst wiederkommen, die Engel waren da!“
Er hielt sich manchmal selbst den Fuß mit meinem Gürtel fest, wenn ich kurz in den Keller ging.

„Mama hat gesagt, ich darf nicht weg“, erklärte er einmal. „Sonst komme ich zu den Falschen.“

„Du bist jetzt bei den Richtigen“, sagte ich. „Bei mir. Bei uns.“

„Aber wenn jemand kommt und sagt, sie sind meine Familie?“

„Dann sage ich: Familie sind die, die bleiben. Nicht die, die nur reden.“

Er dachte lange darüber nach.

„Bist du Familie?“, fragte er schließlich.

„Ich möchte es gern sein.“


Die Gegenseite ließ nichts unversucht.

Der Anwalt des Großvaters nannte uns im Schriftsatz „eine Ansammlung alter Männer mit Hang zur Selbstdarstellung“.
Er sprach von „unstabilen Vereinsstrukturen“ und „unklaren finanziellen Verhältnissen“.
Sie stellten uns als launigen Hobbyclub hin, der sich aus Sentimentalität an ein Kind klammert.

Sie rechneten nicht damit, dass andere sich einmischen würden.

Der Onkologe von Miriam meldete sich freiwillig.

„Miriam Keller war eine sehr klare, sehr realistische Frau“, sagte er vor Gericht. „Sie hat ihre Diagnose von Anfang an verstanden. Es ging ihr um die Frage, was mit ihrem Sohn passiert, wenn sie nicht mehr ist. Sie hat Verantwortung übernommen, so gut sie konnte.“

„Halten Sie sie für psychisch krank?“, fragte die Richterin.

„Nein“, sagte er. „Traurig, ja. Verzweifelt, ja. Aber nicht krank. Eher verantwortlich bis zuletzt.“

Dann kam Frau Gruber, 82, die wir aus dem Küchenbrand geholt hatten.

„Die Männer mit den roten Helmen?“, sagte sie und stellte sich etwas schief vor den Richtertisch. „Die kommen, wenn alle anderen nur gaffen. Die tragen alte Leute die Treppe runter, ohne nach Geld zu fragen. Wenn Miriam denen ihren Jungen anvertraut hat, dann hatte sie ein besseres Gefühl für Charakter als mancher Aktenordner.“

Sie zwinkerte mir zu.
Ich musste husten, um nicht zu lachen – oder zu weinen.

Insgesamt meldeten sich 36 Menschen, die der Verein in den letzten Jahren unterstützt hatte.
Ein ehemaliger Alkoholiker, der durch unsere Hilfe eine Therapie gemacht hatte.
Eine junge Mutter, deren Wohnung wir nach einem Wasserschaden bewohnbar gemacht hatten.
Ein Rollstuhlfahrer, dem wir einen Lift eingebaut hatten.

Alle sagten im Grunde dasselbe:
„Diese Männer sind vielleicht laut und manchmal ungehobelt. Aber wenn sie sagen, sie passen auf jemanden auf, dann tun sie es.“


Der Wendepunkt kam, als Lena ein Video abspielen ließ.

„Das ist eine Aufnahme einer Überwachungskamera der Bäckerei gegenüber dem Haus, in dem Jonas gefunden wurde“, sagte sie.

Körniges Bild.
Man sah den Eingang zur Wohnanlage.
Und ein Fenster im zweiten Stock.

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