Als die Männer mit den roten Helmen die Tür eintraten und einen stummen Jungen im Dunkeln fanden

Dort stand Miriam.

Vier Tage vor ihrem Tod. Über eine Stunde lang.

Immer dann, wenn unser alter Transporter um die Ecke bog, näherten sich die roten Punkte – unsere Helme – dem Haus gegenüber.
Man sah, wie wir Kisten ausluden, Suppen verteilten, mit den Leuten redeten.

Und im Fenster gegenüber stand Miriam, den Vorhang nur einen Spalt offen.
Mal hielt sie Jonas auf dem Arm, mal stand er neben ihr.
Einmal legte sie die Stirn mit der freien Hand gegen die Scheibe.

Man konnte ihr Gesicht nicht deutlich erkennen.
Aber man sah die Haltung eines Menschen, der beobachten will, bevor er vertraut.

Die Richterin, Frau Dr. Albers, stoppte das Video und war einen Moment lang ganz still.

„Ich habe in diesem Saal schon viele Gutachten gelesen“, sagte sie dann. „Aber selten habe ich gesehen, wie eine Mutter sich so intensiv mit der Frage auseinandersetzt, wem sie ihr Kind nach ihrem Tod überlässt – und zwar nicht auf dem Papier, sondern im Alltag.“

Der Großvater stand auf. „Frau Richterin, Blut… Blut spielt doch auch eine Rolle!“

„Setzen Sie sich, Herr Keller“, sagte sie ruhig. „Blut ist wichtig. Aber Blut ohne Verantwortung ist nur Biologie.“

Sie wandte sich an mich.

„Herr Neumann, Sie sind 63, leben allein und leiten einen ehrenamtlichen Verein. Das ist nicht die übliche Beschreibung eines Pflegevaters.“

„Nein, Frau Richterin“, sagte ich. „Ich weiß.“

„Aber Sie haben Ihr Leben lang Menschen aus brennenden Häusern geholt. Und jetzt wollen Sie einen Jungen aus einer anderen Form von Feuer holen.“

Sie schlug die Akte zu.

„Ich werde gleich entscheiden.“


Die Minuten, in denen wir warteten, kamen mir vor wie Stunden.

Jonas saß draußen mit einer Betreuerin im Wartebereich und malte.
Ich spähte durch die Glastür. Er zeichnete kleine rote Helme und ein Haus mit vielen Fenstern.

Als wir wieder hineingerufen wurden, stand er plötzlich neben mir.

„Darf ich mit rein?“, fragte er.

Die Richterin nickte. „Komm ruhig. Setz dich neben deinen…“
Sie stockte kurz, lächelte dann.
„…neben Herrn Neumann.“


„Im Namen des Kindes“, begann sie, „entscheide ich wie folgt: Jonas Keller bleibt in der Obhut von Karl Neumann als Pflegevater, mit der Unterstützung des Vereins ‚Rote Helme – Nachbarn helfen‘.“

Der Großvater protestierte. „Das ist doch ein Witz! Wir sind seine richtige Familie!“

„Richtige Familie“, wiederholte die Richterin ruhig, „ist die, die ein Kind schützt. Nicht nur die, die mit ihm verwandt ist. Ihre Vergangenheit und die Ihres Sohnes sprechen eine deutliche Sprache. Die Mutter hat über Monate beobachtet, wie Herr Neumann und sein Verein leben und handeln. Sie hat ihn ganz bewusst ausgewählt. Es gibt keinen Grund, diese Entscheidung aus Liebe zu übergehen.“

Sie sah zu mir.

„Herr Neumann, Sie sind nicht mehr der Jüngste. Aber Sie haben viele Augen und Hände um sich herum – Ihre Kameraden. Sie haben mir heute gezeigt, was Gemeinschaft bedeuten kann. Ich vertraue Ihnen Jonas gern an.“

Jonas schaute zu mir hoch.

„Heißt das, ich darf bei dir bleiben?“, flüsterte er.

Ich merkte, dass meine Stimme brüchig wurde.

„Ja, Jonas“, sagte ich. „Wenn du das willst, bleiben wir zusammen.“

„Mama wäre froh“, sagte er. „Sie hat gesagt, die Engel mit den roten Helmen lassen mich nicht allein.“


Das ist jetzt ein Jahr her.

Jonas hat immer noch Albträume, aber nicht mehr jede Nacht.
Manchmal schreckt er hoch und tastet nach meiner Hand.
Wenn er sie findet, atmet er durch und schläft wieder ein.

Jeden Sonntag gehen wir zusammen auf den Friedhof.
Das Grab von Miriam liegt unter einer alten Kastanie.
Jonas stellt immer einen kleinen Stern aus Papier hin.

„Hallo, Mama“, sagt er dann. „Ich bin jetzt in der dritten Klasse. Karl sagt, ich bin gut in Mathe.“

Er erzählt ihr von den anderen aus dem Verein.
Von Tom, der ihm beigebracht hat, wie man einen Schlauch ausrollt.
Von Ralf, der mit ihm an einem alten Fahrrad schraubt.
Von Frau Gruber, die ihm heimlich Bonbons zusteckt.

Neulich malte er in der Schule ein Bild zum Thema „Meine Familie“.

Er malte mich, sich selbst, und hinter uns eine ganze Reihe Leute mit roten Helmen und schiefen Nasen.
Oben am Himmel schwebte eine Frau mit langen Haaren und einem großen Stern in der Hand.

Die Lehrerin rief mich an.

„Herr Neumann, ich war ehrlich gesagt erst besorgt“, sagte sie. „So viele Erwachsene um ein Kind, und dazu eine Figur am Himmel, das sah… ungewöhnlich aus.“

Ich brachte ihr die Zeitungsausschnitte mit, in denen über seine Geschichte berichtet worden war.

Sie las schweigend, legte die Blätter dann zur Seite.

„Manchmal“, sagte sie ruhig, „haben Kinder ein besseres Gefühl für Familie als wir Erwachsenen.“


Vor ein paar Monaten kam der Großvater noch einmal zum Vereinsheim.
Mit zwei anderen Männern.

Er blieb vor der Tür stehen, verschränkte die Arme.

„Ich will meinen Enkel sehen“, sagte er.

Alle, die da waren, standen auf.
Nicht drohend.
Nur dicht. Gemeinsam.

„Jonas ist bei seiner Familie“, sagte ich. „Bei den Menschen, die seine Mutter für ihn ausgesucht hat.“

„Ich bin sein Blut“, knurrte er.

„Blut hat ihm nicht geholfen, als seine Mutter um Hilfe gebettelt hat“, sagte ich ruhig. „Jetzt ist er dort, wo er sicher ist. Und das bleibt so.“

Er sah in die Gesichter der Männer, dann in die Fenster, wo Jonas’ selbstgemalte Sterne hingen.

„Ihr werdet alt“, murmelte er.

„Ist in Ordnung“, antwortete ich. „Bis wir zu alt sind, passen wir auf ihn auf. Danach sind andere rote Helme da.“

Sie gingen.
Seitdem haben wir sie nicht mehr gesehen.


Heute wartete ich wieder vor der Schule.

„Karl!“

Jonas rannte die Treppe herunter, der Ranzen schlackerte.

„Papa!“, verbesserte er sich dann mit einem breiten Grinsen. Er war derjenige gewesen, der es eines Morgens einfach ausprobiert hatte.

Ich blieb jedes Mal ein kleines bisschen stehen, wenn er das sagte.

„Na, junger Mann“, fragte ich. „Wie war dein Tag?“

„Wir haben über Helden gesprochen“, sagte er stolz. „Bart hat gesagt, Helden hätten Superkräfte, aber Frau Schneider meinte, Helden seien die, die bleiben, wenn es schwierig wird.“

„Klingt nach einer klugen Frau“, sagte ich.

„Ich hab von dir und den Roten Helmen erzählt“, fuhr Jonas fort. „Dass ihr Mama nicht kanntet, aber trotzdem ihren Brief ernst genommen habt. Frau Schneider hat gesagt, sowas nennt man Verantwortung.“

Wir gingen zu unserem alten Bus. Kein Blaulicht, aber die Türen klemmen immer noch ein bisschen, wie früher.

„Papa?“, fragte Jonas, bevor er einstieg.

„Hm?“

„Glaubst du, Mama weiß, dass sie sich nicht vertan hat mit euch?“

Ich sah zu ihm, zu seinen grünen Augen, die so sehr an Miriam erinnerten.

Ich dachte an den Keller, an den Brief, an die Videobilder vom Fenster, an all die Sonntage am Grab, an die Nächte mit Albträumen und die Tage mit Hausaufgaben und Lachanfällen über zu weiche Pfannkuchen.

„Ja“, sagte ich. „Ich glaube, sie weiß es.“

„Woher?“

„Weil du lachst“, sagte ich. „Weil du keine Angst mehr hast, wenn jemand an der Tür klingelt. Weil du Freunde hast und Pläne für später. Mehr wollte sie nicht.“

Jonas nickte ernst, wie ein alter Mann.

Dann grinste er.

„Papa?“

„Ja?“

„Ich hab dich lieb. Mehr als alle Sterne.“

Es dauerte einen Moment, bis ich antworten konnte.

„Ich dich auch, Jonas“, sagte ich schließlich. „Mehr als alle Sterne. Und ein paar mehr dazu.“

Er kletterte in den Bus, schnallte sich ordnungsgemäß an – er war da sehr streng mit mir – und schaute aus dem Fenster.

„Meinst du, ich kann später auch mal bei den Roten Helmen mitmachen?“, fragte er.

„Wenn du willst, ja“, sagte ich. „Aber du darfst dir auch etwas ganz Eigenes suchen. Du musst niemandem etwas beweisen.“

„Doch“, sagte er. „Mama. Ich möchte ihr beweisen, dass sie Recht hatte.“

Ich legte meine Hand auf seine.

„Das tust du jeden Tag, mein Junge“, sagte ich. „Jeden einzelnen Tag.“

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