Ich dachte, nach diesem Flohmarkt würde wieder der ganz normale Alltag beginnen doch zwei Wochen später steckte ein unscheinbarer Umschlag in meinem Briefkasten und riss die Erinnerung an Julia und Lina mit voller Wucht zurück.
Ich ahnte nicht, dass aus einem spontanen „Ich schenke es Ihnen“ ein Faden werden würde, der unsere Leben leise miteinander verknüpft.
Am Abend nach dem Flohmarkt saßen mein Mann und ich in der Küche.
Der Tisch war vollgestellt mit übrig gebliebenem Kram, halb leeren Kaffeetassen und einem Rest Kuchen, der niemanden mehr interessierte.
Wir waren müde, aber innerlich irgendwie hellwach.
„Du hättest ihr fast selbst hinterhergeweint“, sagte mein Mann sanft und legte seine Hand auf meine.
Ich lachte kurz, aber meine Stimme zitterte. „Hast du gesehen, wie Lina den CD-Player angeschaut hat? Als wäre es ein Schlüssel zu einer anderen Welt.“
Er nickte. „Vielleicht ist er das auch. Man weiß nie, was so ein kleines Ding in einem Kinderleben bedeutet.“
Später, als ich die letzten Kisten hineinräumte, fand ich im Korb mit den Plüschtieren etwas zwischen zwei alten Puppen eingeklemmt: das kleine Stoffreh, das Lina vorhin an sich gedrückt hatte.
Es musste beim Einladen aus ihrer Hand gerutscht sein.
Ich hielt es in der Hand, der Stoff schon etwas abgenutzt, ein Ohr leicht schief, eine Naht am Bauch grob geflickt.
Ich stellte das Reh auf das Regal im Flur, neben unsere Familienfotos.
Nicht als Deko, sondern als Erinnerung.
Als stumme Notiz an mich selbst: Du hast heute nicht nur Dinge verkauft oder verschenkt. Du hast einen Moment gesehen, in dem jemand versucht, wieder sicher zu werden.
Die nächsten Tage dachte ich öfter an sie, als ich zugeben wollte.
Wenn ich im Supermarkt am Regal mit den Kinderhörspielen vorbeiging, blieb mein Blick hängen.
Wenn ich abends die Spülmaschine ausräumte, stellte ich mir vor, wie Lina vielleicht irgendwo in diesem Moment einer Geschichte lauschte, in einem kleinen Zimmer, das nach Waschmittel und Neuanfang roch.
Und dann kam dieser Samstagmorgen.
Zwischen Reklamen und Rechnungen lag ein kleiner, cremefarbener Umschlag ohne Absender.
Meine Adresse war mit einer sorgfältigen, leicht zittrigen Schrift geschrieben.
Ich riss den Umschlag auf.
Zuerst fiel mir ein buntes Blatt entgegen – ein Kinderbild.
Ein kleines, mintfarbenes Rechteck mit Wolkenstickern, daneben ein Mädchen mit zwei krummen Zöpfen, eine Frau mit langgezogenen Armen, die bis zu dem Gerät reichten.
Über allem eine gelbe Sonne, die so groß war, dass sie fast aus dem Blatt hinausstrahlte.
Darunter lag ein zusammengefalteter Brief.
„Liebe Frau …“, begann er, mit einer Mischung aus Unsicherheit und Sorgfalt geschrieben.
„Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich Ihnen schreibe. Sie haben gesagt, wir sollen es weitergeben, wenn wir wieder fester stehen. So weit sind wir noch nicht. Aber ich wollte Ihnen erzählen, was Sie für uns getan haben.“
Ich setzte mich an den Küchentisch.
Mein Mann kam herein, sah mein Gesicht und setzte sich schweigend dazu.
Julia schrieb von ihrem Ein-Zimmer-Apartment.
Wie sie und Lina an dem Abend alles ausgepackt hatten, die Teller gespült und in das kleine Schrankfach gestellt.
Wie Lina darauf bestanden hatte, den CD-Player sofort aufzustellen – nicht im Regal, sondern mitten auf dem Boden, zwischen zwei Kissen.
„Wir haben uns zu zweit auf den Teppich gesetzt“, stand da, „die erste Hörspiel-CD eingelegt und bei geöffnetem Fenster zugehört. Draußen hat es geregnet, aber drinnen war es das erste Mal seit langer Zeit still in meinem Kopf.“
Sie erzählte, wie Lina beim Einschlafen die Hand auf den CD-Player gelegt hatte, als müsste sie sicherstellen, dass er nicht auch noch verschwindet.
Wie sie zum ersten Mal seit Monaten die Worte „Wir sind sicher“ hörte, ohne dass sie sich anfühlten wie eine Lüge.
„Es sind nur Dinge“, schrieb Julia. „Teller, Decken, der CD-Player. Aber für meine Tochter sind es Puzzleteile, aus denen langsam so etwas wie ‚Zuhause‘ entsteht. Und für mich ist Ihre Geste eine Erinnerung daran, dass nicht alle Menschen wegsehen, wenn es unbequem wird.“
Am Ende des Briefes stand:
„Ich weiß nicht, wie ich mich bedanken soll, ohne dass es zu klein klingt. Deshalb sage ich Ihnen einfach: Sie haben uns nicht nur Dinge geschenkt, sondern Zeit. Zeit, in der ich nicht rechnen, kämpfen oder erklären musste. Zeit zum Durchatmen. Danke.“
Mir wurde heiß und kalt zugleich.
Ich legte den Brief auf den Tisch, strich mit der Hand darüber, als könnte ich ihre Erschöpfung und ihre Kraft durch das Papier spüren.
„Wir sollten sie besuchen“, sagte mein Mann leise.
Ich schüttelte den Kopf. „Nur, wenn sie das möchte. Manche Neuanfänge sind zerbrechlich. Man darf sie nicht zu fest anfassen.“
Also schrieb ich zurück.
Kein langer Brief, nur ein paar Zeilen.
Ich schrieb, wie sehr mich ihr Dank berührt hatte, dass ich das Bild neben das kleine Stoffreh stellen würde.
Und dass ich hoffe, dass sie wissen: Ihre Stärke, für ihre Tochter loszugehen, sei mindestens genauso beeindruckend wie jede Hilfe von außen.
Am Ende fügte ich hinzu:
„Wenn Sie irgendwann einmal Lust auf einen Tee haben – ohne Verpflichtung, ohne Dankbarkeit, einfach nur, um zu plaudern – melden Sie sich gern.“
Wochen vergingen.
Der Alltag schob sich wieder in den Vordergrund: Arbeit, Einkäufe, Termine.
Aber jedes Mal, wenn ich am Regal im Flur vorbeiging und das Stoffreh neben der Zeichnung sah, dachte ich an das kleine Mädchen, das zu viel Ernsthaftigkeit in den Augen und trotzdem noch Platz für Wolkenaufkleber hatte.
Eines Nachmittags, als der Herbst schon in der Luft lag, stand plötzlich ein Schatten vor unserer Haustür.
Als ich öffnete, stand Julia da, ein bisschen verlegen, mit einem Kuchen in der Hand, den sie offensichtlich in einer viel zu kleinen Form gebacken hatte.
Neben ihr Lina, mit einer CD-Hülle in der Hand.
„Wir wollten nur kurz vorbeischauen“, sagte Julia. „Wir waren in der Nähe. Und… Lina wollte Ihnen etwas zeigen.“
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