„Fahr niemals zu dem Hof, Katharina. Versprich es mir.“
Diese Worte, ungewöhnlich hart und eindringlich, gehörten zu den wenigen Forderungen, die mein Mann Jonas in unserer 24-jährigen Ehe je an mich gestellt hatte. Normalerweise war er der Ausgleichende, der Ruhige, derjenige, der Diskussionen glättete, nicht anheizte.
Und vielleicht gerade deshalb hatte ich dieses Versprechen immer gehalten – auch dann, wenn meine Neugier an mir nagte, sobald er aus seiner Kindheit irgendwo „auf einem Hof in Norddeutschland“ erzählte, den er längst hinter sich gelassen hatte.
Jetzt war Jonas tot. Ein Herzinfarkt, aus heiterem Himmel, wie die Ärzte sagten. Mit 52 war ich Witwe geworden, mit einer wütenden, verletzten Tochter und einem Loch in der Brust, dort, wo früher Gewissheit gewohnt hatte.
„Frau Müller?“ Die Stimme von Jonas’ Anwalt riss mich aus meinen Gedanken. Wir saßen zwei Wochen nach der Beerdigung in seinem holzvertäfelten Büro in Hannover, und die Endgültigkeit des Todes war plötzlich nur noch Papier, Aktenordner und Unterschriften.
Herr Kramer, ein schlanker Mann mit grauen Schläfen, räusperte sich. „Es gibt da noch einen letzten Punkt.“
Er schob mir eine kleine Schachtel über den Schreibtisch. Darin lag ein alter Messingschlüssel an einem Anhänger in Birkenblattform und ein versiegelter Umschlag mit meinem Namen, in Jonas’ ordentlicher, fast pedantischer Handschrift.
„Was ist das?“ fragte ich und drehte den schweren Schlüssel in der Hand. Er fühlte sich kalt und endgültig an.
„Ihr Mann hat vor drei Jahren ein Grundstück in Mecklenburg-Vorpommern gekauft“, erklärte Kramer. „Nach seinen Anweisungen sollten Sie erst nach seinem Tod davon erfahren. Die Besitzurkunde ist bereits auf Ihren Namen umgeschrieben. Die Grundsteuer ist für die nächsten fünf Jahre im Voraus bezahlt.“
Ein Grundstück? In Norddeutschland? Nach allem, was ich wusste, besaß Jonas nichts außer unserem Reihenhaus in der Nähe von Hannover.
„Es heißt Hof Birkenwinkel“, fuhr Kramer fort. „Laut Unterlagen war es sein Elternhof, ist aber in den letzten Jahrzehnten mehrmals den Besitzer gewechselt, bevor er es zurückgekauft hat.“
Der Hof. Der Ort, den er mir immer verboten hatte. Der Ort, bei dessen bloßer Erwähnung sein sanftes Gesicht hart wurde, als würde ein alter Schatten durch seine Augen ziehen.
„Frau Müller, noch etwas.“ Die Stimme des Anwalts wurde leiser. „Das Grundstück ist in den letzten Monaten sehr im Wert gestiegen. Es gab bereits mehrere Anfragen von Investoren.“
„Aber… es ist doch nur ein Hof“, sagte ich hilflos. Ich sah rote Backsteine, ein paar Kühe, vielleicht ein verfallener Stall.
„Eigentlich ja“, nickte er. „Aber in der Region ist ein großes Wind- und Solarprojekt geplant. Eine Firma – Nordlicht Energie GmbH – möchte dort einen Teil ihres Parks errichten. Ihr Mann hat mehrere Angebote ausgeschlagen.“
Mir wurde schwindlig. Jonas hatte nie von Geld, Investments oder Grundstückskäufen gesprochen. Wir hatten von seinem Ingenieursgehalt und meinem Einkommen als Deutschlehrerin immer ordentlich, aber nie luxuriös gelebt. Wie hatte er sich diesen Kauf leisten können und warum hatte er mir nie davon erzählt?
Mit zitternden Fingern öffnete ich den Umschlag.
Meine liebste Katharina,
wenn du diesen Brief liest, bin ich früher gegangen, als ich wollte. Es tut mir leid. Es gibt vieles, was ich dir hätte erzählen sollen und nie geschafft habe. Der Hof gehört jetzt dir. Die letzten drei Jahre habe ich damit verbracht, ihn aus dem dunklen Ort meiner Kindheit in etwas Helles zu verwandeln. Etwas, das deiner würdig ist.
Ich weiß, ich habe dich schwören lassen, nie dorthin zu fahren. Von diesem Versprechen entbinde ich dich hiermit. Im Gegenteil: Ich bitte dich, wenigstens einmal hinzufahren, bevor du entscheidest, was mit dem Hof geschehen soll.
Im Arbeitszimmer des Haupthauses steht ein Laptop. Das Passwort ist das Datum, an dem wir uns kennengelernt haben, gefolgt von deinem Mädchennamen.
Ich liebe dich, Katha. Mehr, als du je wissen wirst.
Jonas.
Ich presste den Brief an meine Brust, die Zeilen verschwammen vor Tränen. Selbst aus dem Grab heraus schaffte Jonas es noch, mich zu überraschen.
„Ich muss mir diesen Hof ansehen“, sagte ich schließlich tonlos.
„Natürlich“, nickte Kramer. „Aber ich sollte Sie warnen: Die Familie Ihres Mannes hat Einspruch gegen das Testament eingelegt. Seine Brüder behaupten, er sei beim Rückkauf des Hofes nicht mehr zurechnungsfähig gewesen.“
„Das ist absurd. Jonas war der vernünftigste Mensch, den ich je getroffen habe.“
„Mag sein. Aber mit den geplanten Windrädern und Leitungen in der Gegend geht es plötzlich um sehr viel Geld. Da werden manche Leute kreativ.“
Ich steckte den Schlüssel in meine Jackentasche, als würde ich damit zugleich Mut einstecken. „Ich fahre hin, Herr Kramer. Noch diese Woche.“
Zwei Tage später stand ich am Steuer eines Mietwagens vor einem breiten Metalltor, auf dem in geschwungenen Buchstaben Hof Birkenwinkel stand.
Dahinter lag ein Anwesen, das weit größer und gepflegter war, als ich es mir je vorgestellt hatte. Sanfte Hügel, Birkenreihen, deren Blätter im frühen Herbstgold leuchteten, und in der Ferne ein großes Wohnhaus mit mehreren Nebengebäuden – frisch gestrichen, kein Vergleich zu dem verfallenen Hof aus meinen Albträumen.
Der Schlüssel drehte sich ohne Widerstand im Schloss des Tores. Als ich die lange, geschotterte Auffahrt hinauf fuhr, klopfte mein Herz bis zum Hals. Was hatte Jonas hier versteckt? Welchen Teil von sich selbst hatte er vor mir verborgen?
Das Wohnhaus war ein zweigeschossiger Backsteinbau mit einem breiten Holzverandavorbau und großen Fenstern. Nichts an ihm wirkte nach düsterer Kindheit. Es sah liebevoll renoviert aus, fast wie ein Haus aus einer Zeitschrift.
Meine Hände zitterten, als ich den Haustürschlüssel ins Schloss schob. Das Schloss klickte, die Tür schwang auf, und ich betrat Jonas’ geheime Welt.
Der Flur öffnete sich in einen hohen Wohnraum mit Sichtbalken und einem Kamin aus Naturstein. Doch es war nicht die Architektur, die mir den Atem raubte. Es waren die Pferde.
Überall. Keine echten, aber in jeder Form: fein gemalte Ölbilder von galoppierenden Warmblütern vor norddeutschem Himmel, Skulpturen aus Holz und Metall, Fotografien von kräftigen Kaltblütern in Schwarz-Weiß, eingerahmt in einfachen Holzrahmen.
Meine lebenslange Leidenschaft – Pferde, Reitsport, Pferdebücher – meine eine große, nie ganz erfüllte Schwäche, die Jonas immer liebevoll unterstützt, aber nie wirklich verstanden hatte, umgab mich hier wie in einer Galerie.
Und auf einem Schreibtisch am Fenster, von dem man über weite Weiden blicken konnte, stand ein silberner Laptop. Auf dem Deckel lag eine einzelne rote Rose.
Ich machte einen Schritt auf den Schreibtisch zu, als ich draußen das Knirschen von Reifen auf Kies hörte. Durch das Fenster sah ich einen schwarzen Geländewagen, der hinter meinem Mietwagen zum Stehen kam. Drei Männer stiegen aus.
Alle drei trugen diesen typischen Müller-Blick, den auch Jonas gehabt hatte: groß gewachsen, dunkelhaarig, markantes Kinn. Die Brüder meines Mannes – ich hatte sie nur auf Fotos gesehen. Ihren ernsten Gesichtern nach zu urteilen, waren sie nicht hier, um die Witwe herzlich willkommen zu heißen.
Sie gingen mit der Selbstverständlichkeit von Menschen, die sich im Recht glauben, auf die Haustür zu. Eilig zog ich die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel zu. Mein Herz schlug bis in die Fingerspitzen. Jonas’ wenige Andeutungen über seine Familie waren immer vage gewesen, aber der Unterton dabei war so deutlich wie ein Warnschild.
Kurz darauf hallte ein kräftiges Klopfen durch den Flur. „Frau Müller, wir wissen, dass Sie da sind. Wir sollten reden“, rief eine tiefe Stimme mit norddeutschem Einschlag.
Ich hielt den Atem an und trat einen Schritt zurück von der Tür. Instinkt sagte mir, dass ich vorsichtig sein musste. Diese Männer hatten jahrelang kein Interesse an Jonas, geschweige denn an mir, gezeigt und jetzt standen sie hier, zufällig genau dann, als die Grundversorgung für einen Windpark verhandelt wurde?
„Katharina? Ich bin Robert Müller, Jonas’ älterer Bruder. Das hier sind unsere Brüder Arne und David. Wir wollen nur über den Hof sprechen.“
Natürlich wollten sie das. Nicht über Jonas, nicht über unsere Tochter Lisa, nicht über die 24 Jahre, in denen ihr Bruder in einer anderen Welt gelebt hatte. Es ging um dieses Grundstück – plötzlich wertvoll wie Gold.
Ich warf einen Blick auf den Laptop. Wenn ich Antworten brauchte, dann vermutlich nicht auf der Veranda, sondern in diesem Gerät. Die Männer klopften noch einmal, diesmal ungeduldiger, aber ich ignorierte sie, setzte mich an den Schreibtisch, klappte den Laptop auf und tippte das Passwort ein: 12061999SCHÄFER – unser erstes Date und mein Mädchenname.
Der Bildschirm erwachte sofort zum Leben. Kein normales Startfenster, keine Programme – direkt ein Ordner auf dem Desktop mit dem Namen Für Katharina. Darin befanden sich Hunderte von Videodateien, jede mit einem Datum versehen, beginnend mit dem Tag nach Jonas’ Beerdigung und weitergehend für ein ganzes Jahr.
Mit klopfendem Herzen klickte ich das erste Video an. Jonas’ Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Nicht das blasse, müde Gesicht der letzten Monate, sondern der gesunde, lebendige Mann, den ich vor seiner plötzlichen Schwäche so geliebt hatte. Er lächelte in die Kamera, dieses schiefe Lächeln, das mich vom ersten Tag an verzaubert hatte.
„Hallo, Katha“, sagte er, und seine Stimme traf mich wie ein Schlag. „Wenn du das hier siehst, bin ich nicht mehr da und du bist trotzdem zum Hof gefahren, obwohl ich dich jahrelang gebeten habe, genau das nicht zu tun.“ Er grinste kurz. „Ich hätte es mir denken können, besonders wenn Kramer dir alles erzählt hat.“
Ich schluckte, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen, obwohl er mich nur über einen Bildschirm ansah.
„Ich habe für jeden Tag deines ersten Jahres ohne mich ein Video aufgenommen“, fuhr Jonas fort. „Ein Jahr lang begleite ich dich, erkläre dir alles, was ich zu Lebzeiten nicht geschafft habe. Fangen wir mit dem Hof an und damit, warum ich geschworen habe, niemals zurückzukehren.“
Draußen war das Klopfen verstummt. Durch das Seitenfenster sah ich, wie die drei Brüder sich an ihrem Wagen berieten, Dokumente aus einem Aktenordner zogen, telefonierten. Mein Blick kehrte zum Bildschirm zurück.
„Vor drei Jahren“, sagte Jonas im Video, „wurde bei mir eine hypertrophe Kardiomyopathie festgestellt – eine Herzmuskelkrankheit, die in meiner Familie liegt. Die Ärzte gaben mir zwei bis fünf Jahre. Ich habe mich entschieden, dir und Lisa nichts zu sagen. Ich wollte nicht, dass unsere letzten Jahre von Angst bestimmt werden. Ich wollte, dass du mich als den Jonas behältst, den du geheiratet hast, nicht als den Patienten, um den sich alles dreht.“
Ein brennender Mix aus Schock und Wut stieg in mir auf. Er hatte mir seine Diagnose verschwiegen. Er hatte Entscheidungen über unser Leben getroffen, ohne mich einzubeziehen.
„Ja, ich weiß, du bist jetzt wütend“, sagte Jonas im Video leise, fast entschuldigend. „Du hast jedes Recht dazu. Aber ich hoffe, irgendwann wirst du sehen, dass diese Lüge meine Art war, dich zu schützen.“
Ich spürte, wie mir Tränen über die Wangen liefen, während draußen vor dem Haus wieder Schritte auf der Veranda knirschten. Jonas’ Brüder hatten ihre Strategie offensichtlich noch nicht aufgegeben. Doch zum ersten Mal seit seinem Tod ahnte ich, dass Jonas mich auf diese Begegnung vorbereitet hatte – auf seine Weise, mit Plänen, die ich erst jetzt zu verstehen begann.
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