Draußen war wieder lautes Klopfen zu hören. „Frau Müller? Katharina?“, rief die Stimme erneut. „Wir wollen wirklich nur reden. Es geht um den Hof.“
Ich drückte auf Pause. Jonas’ Gesicht fror mitten im Satz ein. Für einen Moment stand ich zwischen zwei Welten: der, in der mein toter Mann mir aus der Vergangenheit erklärte, warum er diesen Hof zurückgekauft hatte und der, in der drei lebende Männer mit seinem Nachnamen versuchten, jetzt die Kontrolle darüber zu übernehmen.
Ich atmete tief durch. Dann stellte ich den Laptop leise zu, schob ihn mitsamt der Rose ein Stück weiter in die hintere Ecke des Schreibtisches und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
„Reiß dich zusammen, Katharina“, murmelte ich. „Du bist hier nicht als Gast. Du bist die Eigentümerin.“
Wieder klopfte es, diesmal noch energischer. „Frau Müller, hier ist auch die Polizei!“, rief jetzt eine zweite Stimme. „Bitte öffnen Sie die Tür!“
Polizei? Ich erstarrte, ging dann vorsichtig zum Seitenfenster und schob den Vorhang ein Stück zur Seite. Vor der Treppe standen nun nicht nur die drei Brüder, sondern auch ein Streifenwagen der Landespolizei. Ein junger Beamter in Uniform unterhielt sich mit Robert, dem Ältesten, der ihm offensichtlich irgendwelche Papiere zeigte.
Etwas in mir wollte sich verkriechen, die Tür verschlossen halten, die Zeit zurückdrehen. Ein anderer Teil – der, den Jonas immer „deinen eisernen Kern“ genannt hatte – richtete sich auf.
Ich trat zur Tür, ließ mir aber bewusst Zeit. Erst als das Klopfen zum dritten Mal ertönte, drehte ich den Schlüssel um und öffnete.
Der junge Beamte nahm sofort Haltung an. „Guten Tag, Frau Müller. Polizeiinspektion L…“, stellte er sich vor. „Dürfen wir hereinkommen?“
Hinter ihm standen Robert, Arne und David in einer Reihe. Robert wirkte gepflegt wie aus einem Prospekt: graue Schläfen, dunkler Mantel, selbstbewusster Blick. Arne sah aus wie ein gewiefter Verkäufer, mit Aktenmappe unter dem Arm. David stand etwas weiter hinten, die Hände in den Taschen, der Blick aufmerksam, aber verschlossen.
„Worum geht es genau?“, fragte ich, ohne die Tür ganz zu öffnen.
Robert setzte sein mildestes Lächeln auf. „Katharina, endlich sehen wir uns persönlich. Zunächst einmal – mein Beileid. Jonas war mein kleiner Bruder. Wir sind alle sehr betroffen.“
Es klang nicht so. Es klang wie ein Satz, den er schon öfter gesagt hatte und immer mit demselben Tonfall.
„Danke“, erwiderte ich kühl. „Was führt Sie her?“
Der Polizist hob die Mappe, die er inzwischen in der Hand hielt. „Die Herren Müller haben eine einstweilige Anordnung eines Nachlassgerichts dabei. Es läuft ein Erbschaftsstreit. Mir wurde gesagt, es ginge nur um eine formale Besichtigung des Grundstücks und der Gebäude.“
Natürlich. Sie hatten es eilig, sich einen Überblick zu verschaffen, bevor ich überhaupt verstanden hatte, was Jonas alles vorbereitet hatte.
„Darf ich die Anordnung sehen?“, fragte ich.
Der Beamte reichte mir das Dokument. Ich ging einen Schritt zurück, ließ die Tür offen und überflog die ersten Zeilen. Es war tatsächlich ein Schreiben des Amtsgerichts in einer Kleinstadt, von der ich noch nie gehört hatte. Keine Durchsuchung, kein Betretungsverbot – nur die Formulierung, man erwarte „Kooperationsbereitschaft“ beider Parteien und erlaube eine Besichtigung „im Einvernehmen mit der aktuellen Besitzerin“.
„Hier steht nirgends, dass Sie ohne meine Zustimmung das Haus betreten dürfen“, sagte ich ruhig und gab dem Beamten das Papier zurück. „Und ich bin – laut Grundbuch – die Eigentümerin. Bis ein Gericht etwas anderes entscheidet.“
Der junge Polizist wirkte einen Moment verunsichert. Offensichtlich hatte er mit weniger Widerstand gerechnet. „Nun ja, formal… äh… wäre es natürlich sinnvoll, wenn…“
Robert trat einen Schritt näher. „Wir wollen keinen Streit“, sagte er mit einer Stimme, die genau das Gegenteil verriet. „Wir wollen nur sichergehen, dass hier nichts verändert oder beiseite geschafft wird, bevor alles geklärt ist.“
In meinem Kopf klickte etwas. Im Schreibtisch ist ein blauer Ordner mit allen Unterlagen, die du brauchst, hatte Jonas im Video angekündigt. Ich wusste noch nicht, wo genau dieser Ordner war, aber allein sein Hinweis gab mir Sicherheit.
„Ich habe nichts zu verbergen“, antwortete ich. „Aber ich werde auch nicht zulassen, dass Sie hier herumlaufen, als würde Ihnen alles gehören. Wenn der Herr Wachtmeister die Unterlagen sehen möchte, kann er das gerne tun. Sie bleiben draußen.“
Robert verzog kurz den Mund, als hätte er auf etwas Bitteres gebissen. Arne öffnete seine Mappe, als wollte er etwas entgegnen, doch der Polizist hob beschwichtigend die Hand. „In Ordnung“, sagte er. „Frau Müller, wenn Sie Unterlagen zur Eigentumslage haben, würde ich die gern sehen. Dann entscheiden wir weiter.“
„Geben Sie mir fünf Minuten“, sagte ich und schloss die Tür, bevor jemand protestieren konnte.
Zurück im Wohnraum atmete ich einmal tief durch. Dann zog ich zielstrebig die Schubladen des Schreibtisches auf. In der dritten, unten rechts, lag er tatsächlich: ein mittelblauer, sauber beschrifteter Ordner mit der Aufschrift Birkenwinkel – Rechtliches.
Ich musste lachen, obwohl mir eher nach Weinen war. „Typisch Jonas“, murmelte ich. „Natürlich hast du alles abgeheftet.“
Ich nahm den Ordner, ging zurück in den Flur und öffnete erneut die Tür. „Hier“, sagte ich zum Polizisten. „Das müsste alles sein.“
Wir setzten uns in den Eingangsbereich, auf eine Bank neben der Garderobe. Der Beamte blätterte konzentriert, seine Augen wurden zunehmend größer. Dahinter sah ich, wie Robert ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat.
„Hier ist der notarielle Kaufvertrag“, sagte der Polizist schließlich, „inklusive Zahlungsbelegen der Bank. Hier die Umschreibung des Grundbuchs auf Ihren Mann. Und hier das Testament mit dem Hinweis auf den Hof.“ Er sah erst mich, dann Robert an. „Das wirkt alles sehr sauber und durchdacht. Von mangelnder Zurechnungsfähigkeit sehe ich in diesen Unterlagen nichts.“
Arne beugte sich vor. „Aber unser Vater war damals krank und…“
„Ihr Vater war zu dem Zeitpunkt bereits seit Jahren verstorben“, unterbrach der Beamte, der offenbar weitergelesen hatte, als ich dachte. Er tippte auf eine Seite. „Der Verkäufer war ein gewisser Herr Petersen, der den Hof Jahrzehnte nach dem Tod Ihres Vaters erworben hatte. Es handelt sich nicht um eine Rückübertragungsvereinbarung innerhalb der Familie, sondern um einen normalen Kauf.“
Robert wurde bleich. „Das kann nicht…“
„Doch, das kann“, mischte ich mich ein. „Und es erklärt einiges. Jonas hat mir nie die Details erzählt, aber er hat den Hof ganz sicher nicht als Geschenk Ihres Vaters bekommen.“
Der Polizist schloss den Ordner. „Für mich sieht das so aus: Frau Müller ist rechtmäßige Eigentümerin. Was die Erbstreitigkeiten angeht, ist das Sache des Zivilgerichts. Ich sehe keinen Anlass, hier heute eine erzwungene Besichtigung zu legitimieren.“
„Mit Verlaub“, sagte Robert, und seine Stimme verlor den freundlichen Ton, „Sie verstehen nicht, worum es hier geht. Dieser Hof ist seit Generationen in Familienhand. Jonas war… emotional labil. Er hat…“
„Er war mein Ehemann“, unterbrach ich ihn, und zum ersten Mal hörte ich meine Stimme so scharf, wie ich sie in all den Jahren im Lehrerzimmer nie eingesetzt hatte. „Und er war sehr klar im Kopf. Klarer, als Ihnen lieb war, scheint mir.“
Ein paar Sekunden lang war es still. Dann seufzte der Polizist. „Ich möchte Sie bitten, die Angelegenheit mit Anwälten zu klären“, sagte er zu den Brüdern. „Heute sehe ich keinen Grund, Frau Müller zu irgendetwas zu zwingen. Wenn Sie der Meinung sind, dass hier Beweise gefährdet sind, können Sie beim Gericht weitere Schritte beantragen. Aber das liegt nicht in meinem Ermessen.“
Er stand auf, reichte mir den Ordner. „Danke für Ihre Kooperation, Frau Müller.“
„Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, alles anzusehen“, antwortete ich.
Robert starrte mich an, als hätte ich ihm persönlich etwas weggenommen. „Das ist noch nicht vorbei“, sagte er leise, bevor er sich umdrehte und die Treppe hinunterging. Arne und David folgten ihm, beide mit versteinerten Gesichtern.
Ich wartete, bis der Streifenwagen und der Geländewagen das Tor wieder passiert hatten, dann schloss ich die Haustür und lehnte mich dagegen. Meine Knie zitterten plötzlich, als hätten sie erst jetzt begriffen, was gerade passiert war.
Nach einigen Minuten ging ich zurück ins Wohnzimmer, setzte mich wieder an den Schreibtisch und öffnete den Laptop. Jonas’ Gesicht auf dem eingefrorenen Videobild wirkte auf einmal anders – nicht nur liebevoll, sondern entschlossen, fast kämpferisch.
Ich drückte auf „Play“.
„…und weil ich weiß, dass meine Brüder kommen werden“, hörte ich Jonas sagen, als würde er genau an diesen Moment anknüpfen, „habe ich in der untersten Schublade des Schreibtisches einen blauen Ordner für dich hinterlegt. Darin findest du alles, was du brauchst, um ihnen klarzumachen, dass dieser Hof dir gehört. Juristisch wasserdicht.“
Ich musste lachen, diesmal ohne Tränen. „Zu spät, Jonas“, murmelte ich. „Aber danke. Es hat funktioniert.“
Er sah in die Kamera, als könnte er mich hören. „Sie werden es nicht glauben wollen“, fuhr er fort, „weil sie ihr ganzes Leben daran gewöhnt waren, dass ihnen alles zufliegt. Aber Birkenwinkel gehört nicht zu ihrem Erbe. Ich habe ihn mit meinem Geld gekauft, für dich. Nicht für sie, nicht für irgendwelche Investoren, sondern für dich.“
Draußen zog ein kühler Wind über die Birken. Drinnen saß ich in einem Haus, das mir seit wenigen Stunden gehörte, und hörte die Stimme eines Mannes, der seit wenigen Wochen nicht mehr da war. Und zum ersten Mal seit seinem Tod spürte ich neben dem Schmerz etwas Neues: einen dünnen, aber festen Faden aus Wut und Entschlossenheit.
Die Brüder mochten den ersten Angriff gestartet haben. Aber Jonas hatte längst begonnen, mich auf einen Kampf vorzubereiten, von dem ich bisher nichts geahnt hatte. Und plötzlich war ich mir sicher: Ich würde ihn nicht kampflos verlieren. Weder den Hof – noch seine Version unserer gemeinsamen Geschichte.
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