Die restliche Sonne kroch langsam hinter den Birken weg, während Jonas’ Video endete. Ich saß noch immer da, den Blick auf den schwarzen Bildschirm gerichtet, als würde mein Mann gleich wieder erscheinen, wenn ich nur lange genug warte.
„Juristisch wasserdicht“, hatte er gesagt. „Für dich, Katha.“
Ich strich über den Laptopdeckel, als wäre es seine Wange.
Irgendwann zwang mich die Müdigkeit hoch. Ich suchte mir im Obergeschoss ein Schlafzimmer – nicht das größte, sondern eines mit Blick über die Weiden. In der Kommode lagen frische Bettlaken, ordentlich zusammengelegt. Jemand hatte diesen Hof nicht nur renoviert, sondern auch vorbereitet, als würde er auf Gäste warten. Oder auf mich.
In dieser ersten Nacht im Birkenwinkel schlief ich unruhig. Immer wieder wachte ich auf, hörte den Wind um die Hausecken, das leise Knacken des Holzes, einmal ganz deutlich ein Wiehern aus der Ferne. In jedem Geräusch glaubte ich eine Bedeutung zu erkennen, eine Botschaft aus Jonas’ Vergangenheit.
Als der Himmel sich schließlich grau färbte, gab ich auf. Ich zog eine dicke Strickjacke über den Schlafanzug, machte mir in der großen Küche einen Kaffee – Jonas hatte sogar meinen bevorzugten Bohnenkaffee im Schrank hinterlassen und trat schließlich vor die Haustür.
Die Luft war kühl und klar. Ein Schwarm Krähen zog schimpfend über die Felder, irgendwo rief ein Hahn. Ich folgte dem Kiesweg in Richtung der Nebengebäude. Jetzt, im Morgenlicht, sah man noch besser, wie viel Arbeit in diesem Hof steckte: Die Dächer neu gedeckt, die Holztore frisch gestrichen, überall sorgfältig angelegte Beete.
Die Ställe lagen etwas abseits, ein langer Backsteinbau mit großen Schiebetüren. Als ich näher kam, hörte ich gedämpftes Scharren und ein tiefes Schnauben. Mein Herz klopfte schneller. Pferde hatte ich mein Leben lang geliebt – als Kind Reitstunden, später Bücher, Ausflüge auf Bauernhöfe, wann immer es ging. Aber aus „wenn ich mal Zeit habe“ war nie mehr geworden.
Ich schob die Tür auf. Der Geruch traf mich sofort: eine Mischung aus Heu, Leder, Pferdeschweiß – vertraut und tröstlich. In den Boxen standen Tiere, wie ich sie sonst nur aus Bildbänden kannte.
In der ersten Box ein großer schwarzer Friese, glänzend wie lackiert, der den Kopf hob und mich neugierig ansah. Daneben eine schneeweiße Stute mit freundlichen Augen, die leise in ihrem Heu kaute. Ein kräftiger Fuchs, ein Brauner mit auffälliger Blesse, ein gesprenkeltes Pferd mit weichen Augen – sechs Boxen, sechs eindrucksvolle Tiere.
„Guten Morgen“, sagte eine Männerstimme hinter mir.
Ich zuckte zusammen und fuhr herum. In der Stallgasse stand ein Mann um die sechzig, mit wettergegerbtem Gesicht und grauen Haaren, die im Nacken zu lang waren, um ordentlich zu wirken. Er trug eine abgenutzte Weste über einem karierten Hemd, in der Hand einen Besen.
„Entschuldigung“, stammelte ich. „Ich wollte hier nicht einfach… also… ich bin…“
Er lächelte schmal. „Sie sind Frau Müller.“ Es klang nicht wie eine Frage. „Ich bin Elias. Ihr Mann hat mich vor drei Jahren eingestellt, um mich um die Pferde und die Weiden zu kümmern.“
„Er hat… von mir erzählt?“ fragte ich vorsichtig.
Elias nickte und stellte den Besen an die Wand. „Oft. Und ausführlich. Vor allem, wenn es um Pferde ging. Er hat gesagt, Sie hätten ein Auge für Tiere und einen weicheren Sitz im Sattel als jeder Mensch, den er je gesehen hat.“ Ein Schatten von Humor huschte über sein Gesicht. „Er hat auch gestanden, dass er selber eher wie ein Mehlsack auf dem Pferd saß.“
Mir entwich ein überraschtes Lachen, das irgendwo zwischen Rührung und Schmerz hing. „Das klingt nach Jonas.“
„Er war jeden Monat hier“, fuhr Elias fort. „Manchmal nur für ein Wochenende, manchmal länger. Er hat jede Entscheidung selber getroffen – keine Abkürzungen, kein Pfusch. Er wollte, dass alles perfekt ist, wenn Sie irgendwann kommen.“
„Perfekt“, wiederholte ich leise und strich über das Holz der Boxentür. „Und seine Familie? Waren die auch hier?“
Elias’ Ausdruck verdüsterte sich. „Einmal. Letzten Herbst. Sie kamen ohne Anmeldung, fuhren hier vor, als würde ihnen alles gehören.“ Er zog die Stirn kraus.
„Ihr Mann war zufällig auch hier. Er hat sie vom Fenster aus gesehen und ist durch den Hintereingang verschwunden. Später hat er gesagt, er habe keine Kraft für diese Art von Familienauftritt. Noch am selben Abend hat er die Pläne geändert.“
„Die Pläne?“
„Er hat neue Zäune bestellt, eine zusätzliche Kameraanlage installiert, das alte Lagerhaus umgebaut.“ Elias zuckte mit den Schultern. „Er sagte nur: ‚Wenn sie kommen, sollen sie sich sehr sicher sein, dass sie verlieren.‘“
Ich sah zu dem schwarzen Friesen hinüber, der uns aufmerksam beobachtete. „Wie heißt er?“
„Das ist Odin“, antwortete Elias. „Ihr Mann hat ihn gekauft, weil Sie vor Jahren auf irgendeiner Ausstellung ein großes schwarzes Pferd fotografiert haben. Er hatte dieses Bild immer in seinem Handy.“
Ich erinnerte mich genau. Ein verregneter Urlaub an der Nordsee, ein Reitturnier, auf dem mir ein Friese mit flatternder Mähne den Atem verschlagen hatte. Ich hatte gelacht, Jonas das Foto gezeigt und gesagt: „Wenn ich mal im Lotto gewinne, kaufe ich mir genau so einen.“
„Ich wusste nicht, dass er das ernst genommen hat“, flüsterte ich.
„Jonas hat sich viele Dinge gemerkt“, sagte Elias ruhig. „Zu viele, würde ich sagen.“
Wir gingen noch eine Weile durch den Stall. Elias zeigte mir, wie die Pferde zugeteilt waren, wer eher ruhig, wer sensibel war. Dann blieb er stehen und sah mich offen an. „Wenn Sie möchten, bleibe ich. Ihr Mann hat für meine Stelle vorgesorgt. Aber die Entscheidung ist Ihre. Ich weiß, dass es jetzt viele Stimmen geben wird, die Ihnen sagen wollen, was Sie tun sollen.“
„Bleiben Sie“, sagte ich, ohne nachzudenken. „Bitte. Ich brauche hier Menschen, die Jonas kannten. Und die nicht versuchen, mir etwas wegzunehmen.“
Ein kurzes, ehrliches Lächeln glitt über sein Gesicht. „Dann bleibe ich.“
Zurück im Haus fühlte ich mich weniger allein. Ich machte mir einen zweiten Kaffee, setzte mich wieder an den Schreibtisch und öffnete den Laptop. Das nächste Video wartete.
Jonas saß diesmal nicht im Wohnzimmer, sondern in einem Raum, den ich noch gar nicht erkannt hatte – mit Bücherregalen im Hintergrund und einem Fenster, durch das man weit über Felder blickte. „Guten Morgen, Katha“, begann er. „Wenn alles so läuft, wie ich es geplant habe, hattest du heute deinen ersten Kaffee auf der Veranda und warst schon bei den Pferden. Elias hat dich hoffentlich nicht zu sehr erschreckt.“
Ich musste lächeln. „Zu spät.“
„Heute möchte ich dir etwas zeigen, das du vielleicht schon längst entdeckt hast – oder auch nicht“, fuhr er fort. „In diesem Haus gibt es einen Raum, der in keinem Plan auftaucht. Einen Raum, den ich für dich gebaut habe.“
Mein Herz machte einen Sprung.
„Im Schlafzimmer, das du dir ausgesucht hast, steht ein kleiner Nachttisch mit einer Schublade“, sagte Jonas. „In dieser Schublade liegt ein alter Silber-Schlüssel mit einem kleinen eingravierten Pinsel. Er gehört zu einer Tür am Ende des Ostflügels. Sie war früher zugemauert. Jetzt nicht mehr.“
Ich hielt das Video an. Ohne nachzudenken, stand ich auf und ging nach oben. Der Nachttisch, von dem er gesprochen hatte, stand neben dem Bett: weiß lackiert, mit einer Schublade, die ich am Vorabend nicht einmal ausprobiert hatte. Mein Puls beschleunigte sich, als ich den Griff anzog.
Innen lag tatsächlich ein kleiner Silberschlüssel, dessen Kopf die Form eines Pinsels hatte. Ich nahm ihn in die Hand, spürte sein Gewicht, sein kaltes Metall.
Plötzlich war ich wieder 20, Kunststudentin, mit einem Kopf voller Bilder und einem Herzen voller Pläne, die nie Wirklichkeit geworden waren. Damals hatte ich gesagt: „Ich kann später immer noch malen. Erstmal ein sicherer Beruf.“ Aus „später“ waren Jahrzehnte geworden.
Ich kehrte zum Laptop zurück und startete das Video wieder.
„Du hast dein Malen für uns aufgegeben“, sagte Jonas’ Stimme, als hätte sie meine Gedanken gehört. „Für mich, für Lisa, für all die Rechnungen und Verpflichtungen, die das Leben so bringt. Du hast nie geklagt, aber ich weiß, dass du etwas in dir vergraben hast, das mehr ist als Unterrichtsvorbereitung und Klassenarbeiten.“
Er stand auf, die Kamera wackelte kurz, dann sah ich aus seiner Perspektive einen hellen Flur, eine weiße Tür ganz am Ende, ohne Schild. „Dieser Raum gehört dir“, sagte er. „Nur dir. Und wenn du ihn nicht nutzen willst, ist das auch in Ordnung. Aber ich wollte, dass du die Wahl hast.“
Wieder stoppte ich das Video. Mein Blick wanderte zum Fenster, hinaus auf die Birken, dann zum Flur. Am Ende, kaum beachtet, stand tatsächlich eine unscheinbare Tür.
Mit dem kleinen Schlüssel in der Hand machte ich mich auf den Weg dorthin. Jede Diele knarrte lauter, als sie müsste. Vor der Tür blieb ich stehen. Zum ersten Mal seit Jonas’ Tod hatte ich das Gefühl, nicht nur in seiner Vergangenheit zu wühlen, sondern einen Schritt in meine eigene Zukunft zu machen.
Ich steckte den Schlüssel ins Schloss. Er drehte sich ohne Widerstand.
Als ich die Klinke herunterdrückte und die Tür öffnete, verschlug es mir den Atem.
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