Das Licht, das mir entgegenflutete, war weich wie an einem Frühlingstag, obwohl draußen noch der kalte Wind der Küste wehte. Einen Moment lang stand ich einfach nur da, eine Hand an der Türklinke, die andere um den kleinen Silberschlüssel geschlossen, unfähig, auch nur einen Schritt zu machen.
Dann trat ich ein und die Welt wurde still.
Der Raum war größer, als ich erwartet hatte. Hohe Decken, weiß gekalkte Wände, ein breites Fensterband, das den Blick über die Weiden freigab. Die Morgensonne stand tief und malte lange goldene Streifen auf den Boden. Doch das Beeindruckendste war nicht das Licht, sondern der Inhalt des Raumes.
Es war ein Atelier.
Ein richtiger Künstlerraum, so liebevoll eingerichtet, dass mir die Knie weich wurden. Entlang der Wände standen Staffeleien, neue und alte, daneben Regale voller Farben, Pinsel, gespitzter Bleistifte, Blöcke. Auf einem großen Arbeitstisch lagen Tuben in ordentlichen Reihen sortiert. Neben ihnen stand ein Keramikbecher, in dem bereits Pinsel steckten – als hätte Jonas sie gestern ausgewählt.
Und an der hinteren Wand, über einem schmalen Regal, hing ein einzelnes Bild.
Ich ging langsam darauf zu, als würde ich etwas Heiliges stören, wenn ich mich zu schnell bewege. Als ich davorstand, erkannte ich es sofort: Es war das Foto, das ich vor vielen Jahren auf einem Urlaub an der Nordsee gemacht hatte – der Friese, der mit fliegender Mähne durch den Regen galoppierte. Aber Jonas hatte das Foto nicht nur ausgedruckt. Er hatte es gemalt. In Öl. In jener kräftigen, doch zugleich zarten Art, die ich früher manchmal benutzt hatte, wenn ich genug Mut gehabt hatte, nicht nur Aquarelle zu malen.
Meine Hand hob sich wie von selbst und berührte den Rahmen. Ein Zittern ging durch meinen ganzen Körper.
Jonas hatte das hier geschaffen. Jonas, der Ingenieur, der Mann der klaren Linien, der logischen Abläufe, der Pläne. Und er hatte es gemacht, weil ich es nie getan hatte.
„Du Blödmann“, flüsterte ich. „Du wunderbarer, unverbesserlicher Blödmann.“
Tränen liefen mir über die Wangen, aber das war egal. In diesem Raum fühlte ich mich zum ersten Mal seit Wochen nicht schwach, sondern seltsam vollständig.
Auf dem Tisch lag ein weiterer Umschlag mit meinem Namen, wieder in Jonas’ Handschrift. Ich öffnete ihn vorsichtig. Drinnen lag eine Karte, nichts weiter. Darauf stand:
Wenn du das hier liest, hast du die Tür geöffnet.
Du hast immer gesagt, das Leben sei zu voll, zu laut, zu dringlich für Kunst.
Ich sage: Dein Blick auf die Welt ist Kunst.
Und ich wollte dir ein Zuhause dafür geben.
Dieser Raum ist nicht für mich.
Er ist für die Frau, die du warst, bevor die Welt dich vernünftig gemacht hat.
Ich setzte mich auf den kleinen Hocker vor der Staffelei und hielt die Karte lange in den Händen. „Jonas…“, murmelte ich. „Warum hast du nicht mehr erzählt? Warum musste ich all das erst jetzt finden?“
Aber ich wusste die Antwort. Weil er mich kannte. Weil er wusste, dass ich mich im Alltag verlieren konnte, dass ich für andere lebte – für Schüler, für Kollegen, für ihn, für Lisa. Und weil er wusste, dass ich nichts nur für mich allein getan hätte, solange es ihn noch gab. Es war seine letzte, vielleicht größte Geste: mir einen Raum zu geben, in dem ich niemandem etwas beweisen musste.
Ich atmete tief ein. Der Geruch von frischer Leinwand, von Pigmenten und Holz mischte sich zu etwas, das ich seit Jahren nicht mehr gefühlt hatte: Möglichkeit.
Gerade als ich aufstehen wollte, hörte ich Schritte im Flur. Ich zuckte zusammen, dann klopfte es leise an der Tür. Elias’ Kopf erschien in der Öffnung.
„Entschuldigen Sie“, sagte er vorsichtig. „Ich wollte nicht stören. Aber… Sie sollten wissen, dass ein Auto am Tor steht. Es ist nicht einer der Brüder.“
Mein Herz zog sich zusammen. „Wer ist es?“
„Eine Frau“, antwortete Elias. „Mitte zwanzig vielleicht. Blonde Haare. Sie hat gesagt, sie heiße Lisa.“
Meine Tochter.
Ich spürte, wie mir schlagartig die Kehle eng wurde. In den Wochen seit Jonas’ Tod hatten wir kaum miteinander gesprochen. Sie war im Studium, hatte ihre eigene Trauer, ihren eigenen Zorn, und ich hatte ihr nicht sagen können, dass ich manchmal kaum wusste, wohin mit meinem Schmerz. Unsere Telefonate waren kurz, gestresst, voller Missverständnisse. Und jetzt stand sie hier, ungeplant, vor dem Hof ihres Vaters.
„Ich… ich komme sofort“, sagte ich und legte die Karte behutsam zurück auf den Tisch.
Elias nickte und verschwand wieder.
Ich stand einen Moment unschlüssig in der Mitte des Ateliers. Sollte ich Lisa diesen Raum zeigen? Oder war das hier noch zu frisch, zu heilig, zu sehr ein Teil von Jonas, den ich selbst kaum verstanden hatte?
Aber es blieb keine Zeit zum Grübeln.
Ich schloss die Tür sanft hinter mir und eilte nach unten.
Als ich durch die Haustür trat, stand Lisa vor dem Tor, die Hände tief in die Taschen ihrer Jacke vergraben. Ihr blondes Haar wehte im Wind, und ihr Gesicht war so vertraut und zugleich so fremd, dass mir die Luft wegblieb. Sie sah nicht wütend aus wie zuletzt, sondern… erschöpft.
„Mama.“ Nur das eine Wort. Aber darin lag eine Sehnsucht, die ich seit Wochen vermisst hatte.
Ich ging langsam auf sie zu. „Wie bist du…?“
„Ich habe den Brief vom Anwalt gesehen“, sagte sie und sah sich um. „Den über den Hof. Ich musste herkommen. Ich wollte wissen, was Papa die letzten Jahre ohne uns gemacht hat.“ Sie schwieg kurz, dann fügte sie leise hinzu: „Und warum er uns das alles nicht erzählt hat.“
Ich blieb vor ihr stehen. „Ich weiß es auch nicht. Noch nicht ganz. Aber er hat mir Videos hinterlassen. Jeden Tag eins. Er wollte alles erklären.“
Lisas Augen füllten sich mit Tränen. „Er hätte es zu Lebzeiten erklären sollen.“
„Ja.“ Ich streckte die Hand nach ihr aus. „Ja, das hätte er.“
Zu meiner Erleichterung nahm sie die Hand. Fest.
„Komm rein“, sagte ich. „Ich zeige dir den Hof. Und… vielleicht auch etwas, das Papa für mich gebaut hat.“
Ich lächelte schief. „Und vielleicht wollte er, dass du es auch siehst.“
Lisa nickte langsam. „Zeig mir alles, Mama.“
Wir gingen gemeinsam zur Haustür, und während der Wind durch die Birken rauschte, spürte ich zum ersten Mal, dass dieser Hof vielleicht nicht nur ein Vermächtnis war – sondern eine Chance. Für mich. Für Lisa. Vielleicht sogar für uns beide zusammen.
Und irgendwo im Haus wartete Jonas’ nächstes Video.
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