Die Tage nach dem unerwarteten Besuch der Brüder verliefen seltsam ruhig. Zu ruhig. Katharina verspürte ein unterschwelliges Ziehen im Magen, als warte das Anwesen selbst auf die nächste Welle ungebetener Ereignisse. Der Winter hatte sich endgültig zurückgezogen, und die Felder lagen in einem blassen Frühlingston, während die Schneereste langsam in den Gräben verschwanden.
An einem frühen Morgen stand Katharina mit einer Tasse dampfendem Tee am Küchenfenster und beobachtete, wie Ellis die Pferde auf die Weide führte. Sein ruhiger, zuverlässiger Gang wirkte wie ein vertrautes Gegengewicht zu allem, was sich in den letzten Monaten ereignet hatte. Die Welt mochte sich verändern, doch Ellis blieb eine Konstante.
Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht von Jenna.
„Mama, wir müssen reden. Ich habe Neuigkeiten. Heute Abend? Videoanruf?“
Katharina lächelte schwach. Jenna klang gefasst, aber etwas in der Wortwahl verriet eine Anspannung, die Katharina sofort beunruhigte. Sie schrieb zurück:
„Natürlich, ich bin da. 19 Uhr?“
Eine schnelle Bestätigung. Dann Stille.
Den restlichen Tag verbrachte Katharina damit, die ersten ernsthaften Planungen für eine kleine Ausstellung ihrer Arbeiten zu treffen. Der Gedanke daran war so surreal, dass sie sich manchmal selbst kneifen musste. Jahrelang hatte sie die Malerei verdrängt – nun füllte sie ihre Tage mit Entwürfen, Farbstudien und langen Momenten des stillen Staunens.
Gegen Nachmittag begab sie sich erneut in das versteckte Archiv unter der Scheune. Obwohl sie den Raum inzwischen kannte, verspürte sie jedes Mal eine Mischung aus Ehrfurcht und Schmerz, wenn sie die Stufen hinabstieg. Es war Jonas’ Vermächtnis – nicht in Form von Reichtum oder Besitz, sondern in der Art, wie er vorgesorgt hatte, wie er gedacht hatte, wie er geliebt hatte.
Sie öffnete einen der Kartons, die sie bisher nicht angerührt hatte. Darin lagen Tagebuchartige Notizen, aber keine klassischen Tagebücher – eher lose Gedanken, Pläne, Überlegungen. Manche Seiten waren mit Datum versehen, andere nicht. Einige waren offensichtlich während seiner letzten Besuche am Hof entstanden.
Beim Lesen traf sie plötzlich ein Eintrag mitten ins Herz:
„Wenn sie je herausfinden, dass Vater nicht das war, was er vorgab, könnte alles ins Wanken geraten. Ich habe Jahre gebraucht, um die Lügen zu entwirren. Noch mehr Jahre, um mich davon zu lösen. Aber eines weiß ich sicher: Katharina soll nie in den Strudel geraten, aus dem ich mich erst spät befreien konnte.“
Katharina legte das Blatt zur Seite. Sie kannte Jonas’ Neigung zum Understatement, und doch schien hinter diesen Zeilen ein Abgrund zu liegen, den sie bisher nur am Rande erahnt hatte. Sie nahm das nächste Blatt:
„Vielleicht wird eines Tages klar, dass ich nicht derjenige bin, für den mich alle hielten. Vielleicht kommt ans Licht, dass alles anders begann, als es endete. Es spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass Katharina und Jenna frei bleiben. Ich kenne meine Brüder. Ich weiß, wozu sie fähig sind, wenn Angst und Gier sich verbinden.“
Sie schloss die Augen und musste tief einatmen. Jonas hatte gewusst, dass seine Brüder eines Tages zurückkehren würden – nicht um zu trauern, sondern um zu fordern.
Als sie später wieder nach oben stieg, fühlte sie eine neue Schwere in den Armen. Nicht körperlich, sondern als hätte sie Ballast aufgenommen, der noch keinen Namen hatte.
Um Punkt 19 Uhr erschien Jenna auf dem Bildschirm ihres Laptops. Die junge Frau wirkte blass, aber gefasst. Hinter ihr konnte Katharina eine Küche erkennen – offenbar war Jenna noch im Büro oder bei einer Freundin.
„Mama…“, begann Jenna leise, „ich habe eine E-Mail bekommen. Von einem Mann namens Henrik Albrecht.“
Katharina runzelte die Stirn. Der Name sagte ihr nichts.
„Er behauptet…“, Jenna schluckte, „er behauptet, unser… also Papas Halbbruder zu sein.“
Katharina setzte sich abrupt gerade hin. „Er hat dich kontaktiert? Direkt?“
Jenna nickte. „Er schreibt, er habe von unseren ‚Familienverwicklungen‘ erfahren. Und er wolle… reden. Er habe Dinge über Papa und über Großvater, die wir wissen sollten.“
Katharina fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Das war schneller gegangen, als sie gehofft hatte. Jonas’ Brief, die Enthüllungen, Roberts Zustand – all das hatte die Richtung der Ereignisse verändert, doch offenbar nicht gebremst.
„Was willst du tun?“ fragte Katharina ruhig.
„Ich weiß es nicht.“ Jenna massierte ihre Stirn. „Er wirkt… höflich. Ruhig. Kein Druck. Aber er hat ein paar Angaben gemacht, die zu dem passen, was du mir über den Brief erzählt hast. Wirklich zu viel für einen Zufall.“
Katharina dachte nach. „Vielleicht… vielleicht ist dies die andere Seite der Geschichte. Jonas hat gesagt, Familie sei eine Frage der Wahl, nicht des Blutes. Vielleicht gilt das auch für die, die er nie kennengelernt hat.“
„Er möchte nach Norddeutschland kommen“, fügte Jenna hinzu. „Er hat vorgeschlagen, sich in Flensburg zu treffen. In einem Café. Nur ein Gespräch.“
Flensburg. Ein neutraler Ort, nicht zu nah, nicht zu weit entfernt. Katharina nickte langsam.
„Wenn du möchtest, komme ich mit.“
Jenna lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. „Das dachte ich mir schon.“
Es entstand eine Pause. Dann fragte Jenna leise:
„Mama… glaubst du, Papa hätte gewollt, dass wir diesen Mann treffen?“
Katharina sah zum Fenster hinaus, wo der Wind über die Felder strich. In der Ferne erkannte sie die Silhouette des alten Eichenbaums, unter dem Jonas oft gesessen hatte, wenn er auf dem Hof arbeitete. Sie hörte beinahe seine Stimme – leise, bedacht, voller Güte.
„Ich glaube…“, sagte sie schließlich, „Papa hätte gewollt, dass wir hören, was wahr ist. Und dass wir entscheiden, wie wir weitermachen.“
Jenna nickte.
„Dann lass es uns tun.“
Katharina lächelte sanft – doch tief in ihrem Inneren erwachte das Gefühl, dass dieses Treffen nicht nur Antworten bringen würde, sondern neue Fragen. Und vielleicht auch eine Wahrheit, die Jonas selbst nie hatte aussprechen können.
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