In den Tagen nach unserer Rückkehr aus Flensburg herrschte eine seltsame Stille auf dem Hof – nicht unangenehm, eher wie ein Übergang zwischen zwei Kapiteln. Der Frühling hatte endgültig Einzug gehalten, die ersten zarten Knospen öffneten sich an den Apfelbäumen, und in der Ferne hörte man das Rufen der Kraniche, die über die Felder hinwegzogen.
Doch trotz der friedlichen Kulisse spürte ich, dass unter der Oberfläche etwas in Bewegung geraten war. Das Treffen mit Hendrik hatte Fäden sichtbar gemacht, die Jonas über Jahrzehnte hinweg sorgsam verborgen hatte. Und wie bei jedem Geflecht, das zu lange im Schatten blieb, führte das Freilegen zu unerwarteten Folgen.
Eines Morgens, als die Sonne gerade die Nebelstreifen über den Weiden durchbrach, klopfte Ellis an meine Haustür. Er wirkte ungewöhnlich angespannt.
„Frau Stein… es gibt Neuigkeiten“, sagte er, als er eintrat. „Ein Brief. Für Sie. Und einer für Ihre Tochter.“
Er hielt zwei Umschläge in der Hand, beide ohne Absender, aber mit einer klaren, sachlichen Handschrift versehen.
„Wer hat die gebracht?“ fragte ich alarmiert.
„Ein Kurierdienst“, antwortete Ellis. „Kein direkter Kontakt.“
Ich setzte mich an den Küchentisch und öffnete meinen Umschlag mit einem Küchenmesser. Ein einzelnes Blatt Papier befand sich darin. Der Text war kurz:
„Sehr geehrte Frau Stein,
wir möchten Sie darüber informieren, dass in Kürze rechtliche Schritte in Bezug auf das Erbe der Familie Müller eingeleitet werden könnten. Es ist uns zugetragen worden, dass bestimmte Informationen bislang zurückgehalten wurden, die den Nachlass betreffen.
Wir empfehlen Ihnen, sich anwaltlich beraten zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen,
Anwaltshaus Nordlicht“
Ich runzelte die Stirn. Der Name sagte mir nichts. Aber der Inhalt war eindeutig: Jemand wollte Unruhe stiften. Und es gab nur zwei wahrscheinliche Quellen – die Müller-Brüder oder jemand aus dem erweiterten Umfeld, der von den neuen Familienverbindungen erfahren hatte.
Lisa kam die Treppe herunter, das Haar noch zerzaust. „Mama? Was ist los? Ellis sagt, es gibt Post für mich.“
Ich reichte ihr den zweiten Umschlag. Sie öffnete ihn mit sichtbarer Nervosität. Darin befand sich ebenfalls ein einzelnes Blatt:
„Lisa,
wir kennen uns nicht, aber du solltest wissen, dass dein Vater nicht der war, für den du ihn gehalten hast. Das betrifft nicht nur seine Herkunft, sondern auch Entscheidungen, die er vor vielen Jahren getroffen hat. Entscheidungen, die jetzt Konsequenzen haben könnten.
Mehr kann ich dir derzeit nicht sagen.
A.“
Lisa starrte das Blatt an, als wäre es ein Fremdkörper. „Was soll das heißen? ‚A‘? Und was für Entscheidungen?“
Ich nahm das Blatt in die Hand und prüfte die Handschrift. Nicht dieselbe wie im Brief an mich. Und definitiv nicht die der Müller-Brüder. Ich hätte sie wiedererkannt.
Nach einem Moment des Schweigens sagte ich ruhig: „Das ist jemand, der versucht, dich zu verunsichern.“
„Aber warum?“ Lisa lief auf und ab. „Wer schreibt so etwas? Hendrik? Nein… das passt nicht. Oder einer dieser Anwälte, die damals Papas Brüder vertreten haben? Oder—“
„Oder jemand, der glaubt, mit Andeutungen Macht über dich gewinnen zu können“, unterbrach ich sie sanft. „Solche Briefe zielen nicht auf Information ab, sondern auf Reaktionen.“
„Und das tun sie“, gab sie zu, sichtbar aufgebracht. „Ich hasse es, dass Fremde meinen, über unser Leben bestimmen zu dürfen.“
Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wir atmen jetzt erst mal durch. Und dann überlegen wir, wer einen Vorteil daraus ziehen könnte.“
Am Nachmittag saßen wir gemeinsam im Wohnzimmer. Die Sonne schien durch die hohen Fenster, und Staubpartikel tanzten in der Luft wie kleine goldene Funken. Auf dem Couchtisch lag der Laptop mit Jonas’ täglichen Videos. Aber heute wagte ich nicht, ihn zu öffnen. Ich hatte das Gefühl, dass die Antworten zuerst in der Gegenwart gesucht werden mussten.
„Ich glaube, wir sollten Hendrik informieren“, sagte Lisa schließlich. „Nur um sicherzugehen, dass er nichts damit zu tun hat.“
Ich nickte langsam. „Und wir sollten unseren Anwalt einschalten. Auch wenn diese Briefe keine Substanz haben, ist es besser, vorbereitet zu sein.“
„Es sind Schatten“, murmelte Lisa. „Jeder wirft welche. Papa, seine Brüder, ihr Vater… jetzt kommt wieder etwas aus der Vergangenheit hoch.“
„Vielleicht“, sagte ich leise, „ist es Zeit, dass wir das gesamte Bild sehen. Nicht nur die Teile, die Jonas für uns ausgesucht hat.“
Lisa sah mich überrascht an. „Du meinst, wir sollten… weiter graben?“
Ich seufzte. „Vielleicht ja. Nicht, um Jonas zu verurteilen – niemals. Aber um uns zu schützen.“
Am nächsten Tag fuhren wir nach Kiel, wo unser Anwalt seine Kanzlei hatte. Ein ruhiger, besonnener Mann mittleren Alters, Dr. Weber, der bereits während des ersten Streits mit den Müller-Brüdern hervorragende Arbeit geleistet hatte.
Er las die beiden Briefe durch, runzelte die Stirn, dann legte er sie nebeneinander auf den Tisch.
„Das ist interessant“, sagte er. „Verschiedene Handschriften, aber ähnliches Ziel: Verunsicherung, Druck. Kein konkreter Vorwurf, keine juristische Substanz.“
„Wer könnte dahinterstecken?“ fragte Lisa.
„Vermutlich jemand, der glaubt, aus familiären Spannungen Kapital schlagen zu können“, antwortete Dr. Weber. „Es gibt Menschen, die auf solche Situationen spezialisiert sind – Erbschaftsberater, die gezielt Druck aufbauen, um an Informationen oder Gebühren zu kommen.“
„Oder jemand, der Teil der Familie ist?“ warf ich ein.
Dr. Weber nickte. „Auch möglich. Vor allem, wenn bekannt wurde, dass es neue potenzielle Erben gibt… wie diesen Herrn Albrecht.“
„Hendrik“, korrigierte Lisa automatisch.
Der Anwalt hob die Augenbrauen. „Wenn er legitim zur Familie gehört, könnte es Menschen geben, die darin Gefahr oder Gelegenheit sehen.“
„Aber er weiß nichts über Jonas’ Besitz“, sagte ich. „Wir haben ihm nichts erzählt, was über das Persönliche hinausging.“
„Das müssen nicht Sie getan haben“, gab Dr. Weber zu bedenken. „Die Müller-Brüder sind in den letzten Wochen nicht gerade unauffällig gewesen. Wenn sie versucht haben, andere Familienmitglieder ausfindig zu machen, könnte ein Dritter Wind davon bekommen haben.“
Lisa und ich sahen uns an. Der Gedanke war unangenehm, aber plausibel.
„Mein Rat“, sagte Dr. Weber, sich zurücklehnend, „ignorieren Sie diese Briefe nicht, aber reagieren Sie auch nicht direkt. Ich werde eine formelle Anfrage an ‚Anwaltshaus Nordlicht‘ schicken. Sollte es diese Kanzlei überhaupt geben, werden wir schnell Klarheit bekommen.“
„Und der zweite Brief?“ fragte Lisa.
Dr. Weber schob ihn mit einem Finger weg. „Ein anonymes Schreiben ohne Absender, ohne Anspruch. Behalten Sie es. Dokumentieren Sie es. Aber es hat keine Wirkung, solange Sie es nicht wirken lassen.“
Auf der Rückfahrt sprach keiner von uns. Die Ostsee lag grau und ruhig neben der Straße; Möwen kreisten über dem Wasser. Ich spürte, wie sich erneut etwas in meiner Brust zusammenzog – ein altes Gefühl, das ich erst benennen konnte, als wir wieder vor dem Tor von Birkenwinkel standen.
Nicht Angst.
Vorsicht.
Die Art Vorsicht, die Jonas seine letzten Jahre begleitet hatte. Die Art Vorsicht, die man nur entwickelt, wenn man weiß, dass manche Familiengeschichten keine klaren Anfänge und Enden haben – sondern lange Schatten, die bis in die Gegenwart reichen.
Als ich später am Abend doch den Laptop öffnete, erschien Jonas auf dem Bildschirm mit einem Blick, den ich nur allzu gut kannte: ernst, aber voller Vertrauen.
„Heute“, sagte er, „möchte ich über das sprechen, was übrig bleibt, wenn man längst glaubt, die Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben.“
Ich fröstelte.
Es war, als wüsste er genau, was diesen Tag geprägt hatte.
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