Als Matthias ging, fand ich mich wieder und nahm endlich den ganzen Tisch

Ich war fünfzig, als Matthias beschloss, sich „selbst zu finden“. Nicht mit mir. Sondern mit einer Jüngeren.

Er sagte es mit ernster Miene, als würde er eine spirituelle Erleuchtung verkünden. Er brauche „Luft zum Atmen“. Er müsse endlich „für sich selbst leben“. Die Worte hingen in der Luft unseres Wohnzimmers in Hamburg-Eppendorf, schwer und klebrig.

Ich habe nicht geschrien. Ich habe keinen Teller an die Wand geworfen. Nicht aus Stolz. Sondern aus Erschöpfung.

Es war die tiefe, knochendurchdringende Müdigkeit einer Frau, die fünfundzwanzig Jahre lang das Fundament war, auf dem ein anderer tanzte. Die Müdigkeit, an die Geburtstage seiner Mutter zu denken, an seine Zahnarzttermine, daran, dass die Milch im Kühlschrank nicht sauer wurde. Das endlose „Ups, das habe ich vergessen“ seinerseits, das immer bedeutete: „Lisa wird es schon richten.“

Als er seinen Koffer packte – denselben Koffer, den ich ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte –, fragte er mich an der Tür, fast mitleidig: „Und du, Lisa? Was wirst du jetzt tun?“

Ich schaute ihn an. Wirklich an. Und zum ersten Mal seit Jahren sah ich nicht meinen Ehemann, sondern einen Fremden, der in meinem Flur stand. „Leben“, antwortete ich ruhig. „Das, wofür ich nie wirklich Zeit hatte, während ich dein Leben organisiert habe.“

Dann fiel die Tür ins Schloss. Das Geräusch war nicht laut. Es war endgültig.

Der nächste Tag war ein Sonntag. In Deutschland ist der Sonntag gnadenlos. Alles ist geschlossen, die Straßen sind leer, und die Stille in einer plötzlich halbleeren Wohnung kann einen erdrücken.

Ich stand vor unserem Briefkasten. Matthias & Lisa Müller.

Ich holte den Werkzeugkasten. Mit einem kleinen Schraubenzieher entfernte ich sein Namensschild. Es hinterließ einen hellen, sauberen Fleck auf dem verwitterten Metall. Jetzt stand da nur noch: Lisa Müller. Es sah nackt aus. Aber auch… aufgeräumt.

Am Montag ging ich in den Supermarkt. Meine Hand griff automatisch nach der groben Leberwurst und dem dunklen Weizenbier. Dann hielt ich inne. Ich hasse Leberwurst. Ich trinke keinen Alkohol, außer vielleicht mal ein Glas Wein. Ich legte die Waren zurück. Mein Einkaufswagen blieb fast leer.

In diesem Moment, im grellen Licht der Kühltheke, traf mich die Erkenntnis härter als der Abschied selbst: Ich wusste nicht mehr, was ich gerne aß. Ich hatte mich so sehr angepasst, dass ich meinen eigenen Geschmack verloren hatte.

Ich ließ den Einkaufswagen stehen und ging raus.

Ich fuhr in die Stadt. Ich ging nicht zur Arbeit. Ich meldete mich krank zum ersten Mal seit zehn Jahren wegen etwas anderem als Grippe. Ich ging zum Friseur und ließ mir die grauen Strähnen nicht mehr überfärben, sondern in ein kühles Silber verwandeln. Dann ging ich in das teure Café an der Alster, an dem ich immer nur vorbeigehastet war.

Das Café war voll. „Ist hier noch frei?“ fragte ich eine ältere Dame, die allein an einem kleinen Marmortisch saß. Sie nickte. Sie hieß Frau Bauer, war vielleicht fünfundsiebzig, trug einen eleganten Hut und aß ein riesiges Stück Torte mit einer Genüsslichkeit, die fast unanständig wirkte.

Ich bestellte nur einen schwarzen Kaffee. Ich fühlte mich fehl am Platz. Als würde jeder sehen, dass ich eine verlassene Frau bin.

Frau Bauer legte ihre Gabel ab und sah mich über ihre Brille hinweg an. Ihre Augen waren hellwach. „Kindchen“, sagte sie mit ihrer rauen Stimme. „Du sitzt da, als würdest du dich dafür entschuldigen, dass du Raum einnimmst.“

Ich blinzelte überrascht. „Bitte?“

„Mein Mann ist vor zwanzig Jahren gegangen“, sagte sie unvermittelt. „Herzinfarkt. Zack, weg. Ich dachte, mein Leben sei vorbei. Ich dachte, ich bin nur eine Hälfte.“ Sie nahm einen Schluck Tee. „Aber weißt du was? Ich habe gelernt, dass wir Frauen oft erst dann anfangen zu atmen, wenn wir aufhören, die Luft für andere anzuhalten.“

Sie zeigte mit der Gabel auf meinen leeren Platz auf dem Tisch. „Bestell dir den Kuchen. Und iss ihn nicht, weil du Kummer hast. Iss ihn, weil er verdammt noch mal lecker ist. Hör auf, dich mit Krümeln zufriedenzugeben.“

Ich bestellte den Kuchen. Es war der beste Kuchen meines Lebens.

Zwei Wochen später kam Matthias, um den Rest seiner Sachen zu holen. Er hatte wohl erwartet, mich am Boden zerstört zu finden. Vielleicht in einem alten Bademantel, mit verweinten Augen, zwischen Pizzaschachteln.

Stattdessen fand er eine Wohnung, die nach Lavendel und frischem Kaffee duftete. Ich hatte die Möbel umgestellt. Sein schwerer Ledersessel war weg, stattdessen stand dort eine große Monstera-Pflanze im Sonnenlicht. Ich trug eine neue Bluse, und meine Haare glänzten silbern.

Er blieb im Flur stehen, verwirrt. „Du… du siehst gut aus“, stammelte er. „Danke“, sagte ich und reichte ihm einen Karton. „Das sind deine Bücher.“

Er zögerte. „Ist es… schwer für dich? Allein?“

Ich lehnte mich an den Türrahmen und spürte eine Ruhe in mir, die nichts mehr mit Erschöpfung zu tun hatte. „Weißt du, Matthias“, sagte ich sanft. „Ich dachte, ich würde einsam sein. Aber ich habe festgestellt, dass ich gar nicht allein bin. Ich bin endlich wieder mit mir selbst zusammen. Und ich mag mich.“

Er nahm den Karton. Er wirkte plötzlich kleiner, älter. Der Glanz seines „neuen Lebens“ schien in diesem hellen Flur etwas blass. Er ging, und diesmal schaute ich ihm nicht nach.

Am Abend saß ich vor meinem Laptop. Nicht auf Facebook, um zu sehen, was er tat. Sondern auf einer Reise-Website.

Paris? Nein. Zu nah. Zu viele Klischees. Mein Finger wanderte auf der Landkarte nach Süden, bis ans Ende des Kontinents. Lissabon.

Ich buchte ein Flugticket. Nur Hinflug. Ich wollte das Licht sehen. Ich wollte die gelben Straßenbahnen hören und am Cabo da Roca stehen, dort, wo Europa endet und der wilde Atlantik beginnt. Ich wollte an einem Tisch in der Sonne sitzen, mit Blick auf das Meer.

Alleine? Nein. Ich würde mit der wichtigsten Person in meinem Leben dort sitzen: Mit mir selbst.

Denn manchmal beginnt der wahre Neuanfang nicht mit einem neuen Partner. Er beginnt, wenn eine Frau aufhört, um Erlaubnis zu fragen. Wenn sie begreift, dass sie nicht übrig geblieben ist, sondern frei.

Und eines ist sicher: Sie begnügt sich nie wieder mit den Krümeln. Sie nimmt den ganzen Tisch.

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