Als Matthias ging, fand ich mich wieder und nahm endlich den ganzen Tisch

Zwei Tage, nachdem ich den Hinflug nach Lissabon gebucht hatte, stand ich morgens um halb sechs am Flughafen Hamburg und hielt mein Handy so fest, als müsste ich mich daran festhalten. Ich war müde, aber nicht diese alte, knochenharte Müdigkeit von früher. Es war eher eine aufgeregte Unruhe, als hätte mein Leben endlich wieder einen Puls.

Am Check-in fragte der Mann hinter dem Tresen ganz routiniert: „Rückflugdatum?“ Ich zögerte einen Moment, nicht aus Drama, sondern weil sich die Antwort noch ungewohnt anfühlte. „Noch offen“, sagte ich. „Ich buche später, wenn ich weiß, wie lange ich bleibe.“

Er nickte, als wäre das das Normalste der Welt, und genau das war es wahrscheinlich auch. „Dann wünsche ich Ihnen eine gute Reise“, sagte er, und ich merkte, wie etwas in mir weicher wurde. Ich nahm die Bordkarte und ging durch die Kontrolle, ohne mich umzudrehen.

Im Flugzeug saß ich am Fenster, und neben mir schlief eine junge Frau mit Kopfhörern, als würde sie in jeder Stadt zu Hause sein. Als wir abhoben, wurde Hamburg unter uns kleiner, die Alster wie ein heller Fleck, und ich dachte nicht an Matthias, nicht an seine Tür, nicht an seinen Karton mit Büchern. Ich dachte nur: Ich bin unterwegs, und ich muss niemandem erklären, warum.

Über den Wolken wurde es still, aber nicht bedrückend. Ich trank den Bordkaffee und stellte fest, dass er mir zu stark war, und es war fast komisch, dass ich das überhaupt bemerkte. Früher hätte ich einfach getrunken, wie Matthias ihn mochte, ohne darüber nachzudenken.

Als wir landeten, war das Licht anders, weicher und klarer zugleich. Es fiel auf die Häuser, als würde es sie freundlich anstupsen, und ich blinzelte, weil ich das Gefühl hatte, lange nicht mehr so bewusst hingeschaut zu haben.

Draußen roch es nach Meer, nach warmem Stein, nach etwas, das mich sofort an Urlaub erinnerte, auch wenn ich innerlich noch gar nicht wusste, ob ich wirklich „Urlaub“ machte.

Der Taxifahrer sprach Englisch mit portugiesischem Akzent und fragte, ob ich zum ersten Mal in Lissabon sei. Ich nickte und wollte automatisch anfangen zu erzählen, wie man es eben tut, wenn man etwas rechtfertigen will. Dann stoppte ich mich und sagte nur: „Ja. Ich wollte schon lange her.“

Er lächelte in den Rückspiegel, als hätte er verstanden, dass das eine große Aussage sein kann. „Lissabon ist gut fürs Atmen“, sagte er, und ich musste leise lachen, weil Matthias genau dieses Wort benutzt hatte, als er ging. Nur dass es bei mir plötzlich stimmte.

Die Wohnung, die ich gemietet hatte, war klein und schlicht, mit einem Balkon, von dem aus ich rote Dächer, Wäscheleinen und ein Stück Himmel sah.

Drinnen war nichts Persönliches, keine Bilder, keine Erinnerungen, nur Platz. Ich stellte meinen Koffer ab und merkte, wie gut es sich anfühlt, wenn ein Raum nicht voll ist von dem, was man „immer schon so gemacht hat“.

Am ersten Nachmittag ging ich einfach los, ohne Plan, ohne Liste, ohne Termin. Die Straßen waren steil, und meine Knie meldeten sich, als wollten sie sagen: Ach, jetzt bewegen wir uns wieder. Ich blieb stehen, wenn ich etwas schön fand, und ging weiter, wenn ich genug gesehen hatte, und niemand zog an mir, niemand wartete, niemand brauchte eine Antwort.

An einer Ecke schepperte eine gelbe Straßenbahn vorbei, und ich lächelte, weil sie wirklich so aussah wie auf den Bildern. Ein Junge sprang im letzten Moment auf, rief etwas, und der Fahrer schien das völlig normal zu finden. Ich stand da wie eine Touristin und dachte gleichzeitig: Vielleicht ist das, was ich brauche, genau das. Dieses Gefühl, dass man noch aufspringen kann.

Abends setzte ich mich in ein kleines Restaurant, in dem es nach Knoblauch, Zitrone und gebratenem Fisch roch. Der Kellner gab mir die Karte, und plötzlich war ich wieder in Hamburg vor der Kühltheke, mit dieser unangenehmen Leere im Kopf. Nur diesmal blieb ich sitzen.

„Was ist typisch?“ fragte ich, und meine Stimme klang vorsichtig, als müsste ich mich erst an mein eigenes Wollen gewöhnen. Er empfahl etwas Einfaches, „frisch, nicht kompliziert“, und ich bestellte. Als der Teller kam, war alles genau so: ehrlich, warm, leicht.

Ich aß langsam und merkte, wie sich mein Körper entspannte, als hätte er darauf gewartet. Ein kleines Glas Wein dazu, weil ich Lust darauf hatte, nicht weil es „dazugehört“. Und zum ersten Mal seit langer Zeit war ich nicht in einem Gespräch gefangen, das ich am Laufen halten musste.

Am zweiten Tag nahm ich ein Taxi zum Cabo da Roca, weil ich es nicht auf später schieben wollte. Ich hatte zu oft Dinge auf später geschoben, bis sie ganz verschwanden. Die Straße führte durch trockene Landschaft, und je näher wir dem Meer kamen, desto ruhiger wurde ich.

Oben am Kap war der Wind kräftig und direkt. Er fuhr mir ins Gesicht, zerrte an meiner Jacke und machte mir klar: Hier kann man sich nichts vormachen. Ich stellte mich an die Klippe, sah hinaus auf den Atlantik und spürte, wie mir Tränen kamen, ohne dass ich dagegen ankämpfte.

Ich dachte an den Briefkasten in Eppendorf, an den hellen Fleck, wo sein Name gewesen war. Und ich begriff, dass dieser Fleck nicht nur Verlust bedeutete, sondern Ordnung. Eine neue Ordnung, in der ich wieder vorkomme.

Neben mir stand eine Frau, etwa in meinem Alter, mit einem Schal, der ihr ständig ins Gesicht flog. Sie lachte jedes Mal, wenn sie ihn zurückstrich, als wäre das ganze Leben nur Wind und man müsse eben lernen, damit umzugehen. Ich sagte auf Deutsch: „Der Wind hat heute wirklich Energie.“

Sie drehte sich um und grinste. „Der hier ist immer so. Aber irgendwie tut das gut.“ Sie stellte sich als Anja vor, aus Bremen, und wir kamen ins Reden, so leicht, als würden wir uns schon länger kennen.

Wir gingen ein Stück zusammen, hielten uns zwischendurch an Geländern fest und schauten hinaus, ohne ständig etwas sagen zu müssen. Anja erzählte, dass sie die letzten Jahre ihren Vater gepflegt hatte und jetzt zum ersten Mal wieder allein unterwegs sei. „Ich wusste irgendwann nicht mehr, wer ich bin, wenn niemand etwas von mir will“, sagte sie, und ich nickte, weil ich genau das verstand.

„Und du?“ fragte sie, ohne neugierig zu sein, eher mit dieser schlichten Aufmerksamkeit, die selten geworden ist. Ich spürte kurz den Reflex, eine nette Version zu liefern, nicht zu offen, nicht zu verletzlich. Dann sagte ich die Wahrheit: „Mein Mann hat sich eine Jüngere gesucht und behauptet, er müsse sich finden.“

Anja zog die Augenbrauen hoch, und in ihrem Gesicht lag gleichzeitig Mitgefühl und Humor. „Die finden sich erstaunlich schnell“, sagte sie trocken. Ich lachte so ehrlich, dass es mir selbst fast fremd vorkam.

Wir tranken danach Kaffee in einem kleinen Ort, und ich merkte, dass ich nicht nur über Matthias sprach. Ich sprach über mich, über das, was ich nie getan hatte, weil ich immer erst alles andere erledigt habe. Es fühlte sich nicht an wie Jammern, sondern wie Sortieren.

Am dritten Tag verlief ich mich in einer Gasse, weil ich an einem Haus mit azulejos stehen blieb, diesen blauen Fliesen, die wie gemalte Erinnerungen aussehen. Ich wollte ein Foto machen, als ich eine aufgeregte Stimme hörte und sah, wie ein älterer Mann am Bordstein saß. Seine Frau kniete neben ihm, bleich vor Schreck.

„Geht es Ihnen gut?“ fragte ich auf Deutsch, und er nickte, aber seine Hände zitterten. „Mir ist nur schwindelig“, murmelte er. Ich setzte mich kurz dazu, reichte ihm Wasser und sprach langsam, ruhig, so wie man spricht, wenn man nicht noch mehr Angst in den Raum kippen will.

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