Jemand rief einen Rettungswagen, und ich blieb, bis der Mann wieder sicher atmete und die Farbe in sein Gesicht zurückkam. Als die Sanitäter kamen, bedankte sich seine Frau mit Tränen in den Augen. Ich winkte ab, aber innerlich blieb etwas hängen, das gut war: Ich kann da sein, ohne mich zu verlieren.
Abends auf meinem Balkon schrieb ich Frau Bauer eine Postkarte. Nicht, weil man das „so macht“, sondern weil ich ihr etwas zurückgeben wollte, auch wenn es nur Worte sind. Ich schrieb vom Licht, vom Meer, von der Straßenbahn, und am Ende: „Sie hatten recht. Ich atme wieder.“
Ich blieb drei Wochen, länger als ich ursprünglich gedacht hatte. Nicht aus Flucht, sondern weil ich merkte, wie gut mir dieser Abstand tat, diese Möglichkeit, mich selbst wieder zu hören. Ich ging morgens früh los, wenn die Stadt noch schlief, und ich setzte mich irgendwohin, ohne Schuldgefühl, ohne Rechtfertigung.
Ich probierte Dinge aus, die ich früher nie gewählt hätte, und manchmal mochte ich sie nicht. Und auch das war neu: dass ich etwas nicht mögen darf, ohne es zu erklären. Ich merkte, wie Geschmack zurückkommt, nicht nur beim Essen, sondern auch im Leben.
Als ich zurück nach Hamburg flog, hatte ich kurz Angst, dass mich die alte Luft sofort wieder einholt. Dass die Wohnung wieder still wird wie ein Vorwurf. Aber als ich die Tür aufschloss, roch es nach Lavendel, und ich merkte: Es ist nicht mehr dieselbe Wohnung, weil ich nicht mehr dieselbe bin.
Ich ging zum Briefkasten und sah meinen Namen dort. Lisa Müller. Ich strich kurz darüber, als müsste ich mich vergewissern, dass das real ist. Dann ging ich hoch, stellte meinen Koffer ab und fühlte mich nicht wie jemand, der zurückkehrt, sondern wie jemand, der ankommt.
Am nächsten Sonntag machte ich etwas, wovor ich früher Angst gehabt hätte: Ich ließ den Tag einfach sein. Keine „sinnvollen“ Aufgaben, kein hektisches Putzen, um die Stille zu übertönen. Ich kochte etwas Einfaches, setzte mich an den Tisch und aß langsam.
Danach schrieb ich eine Liste, aber keine To-do-Liste für andere. Eine Liste für mich: ein Portugiesischkurs, weil ich Lust auf neue Worte hatte; ein Tanzkurs, auch wenn ich mich ungelenk fühle; ein Wochenende am Meer, einfach so. Es war kein großer Plan, eher ein Versprechen, das nicht schreit, sondern hält.
Zwei Tage später klingelte es. Als ich die Tür öffnete, stand Matthias da, unsicher, mit einem Gesicht, das so tat, als wäre alles halb so wild. Er schaute an mir vorbei in die Wohnung, als suche er die alte Lisa, die ihn automatisch reinbittet und fragt, ob er hungrig ist.
„Lisa“, sagte er, und in diesem einen Wort lag noch immer die Erwartung, dass ich die Situation rette. Ich blieb in der Tür stehen, ruhig, nicht hart. „Was ist?“ fragte ich.
Er räusperte sich. „Ich wollte… ich wollte nur wissen, wie es dir geht.“ Das klang fast großzügig, als hätte er ein Recht darauf, nach meinem Zustand zu fragen. Ich nickte. „Mir geht es gut“, sagte ich, und ich meinte es.
„Du warst weg“, sagte er. Es war keine Frage, eher ein vorsichtiges Prüfen, ob ich wirklich etwas getan habe, ohne ihn. „Ja“, sagte ich. „Lissabon.“
„Allein?“ fragte er, und ich spürte, wie dieses Wort früher wie ein Urteil über mir hing. Jetzt war es nur ein Wort. Ich lächelte leicht. „Ich war nicht allein“, sagte ich. „Ich war bei mir.“
Matthias sah aus, als wüsste er nicht, wohin mit diesem Satz. „Und… wir?“ fragte er schließlich, leiser. Ich atmete ein und spürte, dass ich nichts mehr verteidigen muss. „Wir waren“, sagte ich. „Und jetzt bin ich.“
Er schluckte, und für einen Moment sah er tatsächlich älter aus. Nicht, weil ich ihn bestrafen wollte, sondern weil Realität manchmal schneller ist als Wunschbilder. „Ich wünsche dir nichts Schlechtes“, sagte ich, bevor er etwas sagen konnte, das uns beide wieder in alte Kreise ziehen würde. „Wirklich.“
Er nickte, als hätte er damit nicht gerechnet, und trat einen Schritt zurück. „Pass auf dich auf“, murmelte er. „Mach ich“, sagte ich, und dann schloss ich die Tür.
Es war kein dramatisches Ende. Kein Knall, kein Zittern, kein „Jetzt erst recht“. Es war einfach eine Grenze, die endlich wieder mir gehörte.
Am Nachmittag ging ich ins Café an der Alster. Frau Bauer saß wieder an ihrem kleinen Marmortisch, mit ihrem Hut und einem Stück Torte, als wäre das die Ordnung der Welt. Als sie mich sah, hob sie die Gabel wie eine Königin, die eine Prüfung abnimmt.
„Na?“ fragte sie. „Atmest du?“ Ich setzte mich, und mein Herz wurde warm, als hätte ich eine Verwandte gefunden, die ich nie hatte. „Ja“, sagte ich. „Und ich entschuldige mich nicht mehr dafür.“
Frau Bauer nickte zufrieden. „Dann bestell“, sagte sie und deutete auf die Vitrine. „Und bitte keinen Krümelkram.“ Ich bestellte ein großes Stück Torte und dazu einen Kaffee, milder, so wie ich ihn mag.
Wir saßen lange, redeten über alles und nichts, und es war leicht. Als ich später nach Hause ging, war Hamburg nicht plötzlich mediterran, und mein Leben war nicht magisch perfekt. Aber ich ging anders.
Ich ging wie jemand, der sich nicht mehr klein macht, damit andere Platz haben. Ich ging wie eine Frau, die verstanden hat, dass Freiheit nicht laut sein muss, um echt zu sein.
Und als ich abends den Laptop aufklappte, suchte ich keinen Menschen, der mich bestätigt. Ich suchte einen Kurs, eine kleine Reise, ein nächstes Stück Leben. Nicht, weil ich jemanden ersetzen musste, sondern weil ich mich endlich wieder ernst nahm.
Denn manchmal beginnt der Neuanfang nicht mit einem neuen Partner. Er beginnt, wenn eine Frau aufhört, um Erlaubnis zu fragen. Und wenn sie einmal verstanden hat, dass sie nicht übrig geblieben ist, sondern frei, dann nimmt sie nie wieder Krümel. Sie nimmt den ganzen Tisch.






