Als Toro ging und Bruno kam: über Abschied, Dankbarkeit und neues Vertrauen

Der zweite Schlag traf mich nicht im Behandlungszimmer, sondern drei Tage später, an einem Dienstagmorgen, als ich automatisch zur Wohnungstür griff, um „eben schnell mit Toro rauszugehen“ und ins Leere fasste.

Das ist der Moment, den niemand fotografiert: nicht der letzte Atemzug, nicht die Spritze, sondern der erste Alltag ohne Pfoten, ohne Rhythmus, ohne Sinn.

Nachdem ich diese Zeilen über Toro geschrieben hatte, wie sie in Teil eins stehen, klappte ich den Laptop zu und dachte naiv, es ginge mir besser.

Als könnte man Schmerz einfach in Wörter packen, auf „Speichern“ klicken und dann damit leben.

Aber das Leben funktioniert nicht wie eine Datei.

Es gibt kein „Speichern unter“, nur ein „Weiter“.

Die ersten Tage nach seinem Tod waren eine Art schmutziger Nebel.

Ich bewegte mich durch die Wohnung wie ein Gast in einem fremden Museum.

Alles erinnerte mich an ihn: die Wasserflecken am Parkett neben der Tür, wo seine Näpfe standen, das Hundehaar im Teppich, das ich früher mit stoischer Resignation hingenommen hatte und das mich jetzt wie ein Heiligtum anstarrte.

Ich konnte den Staubsauger nicht anfassen. Es fühlte sich an wie Verrat.

Ich fing an, mit ihm zu reden, obwohl er nicht mehr da war.

„Na, Alter, soll ich dir was vom Bäcker mitbringen?“ murmelte ich, als ich morgens die Jacke anzog, nur um mitten im Satz zu verstummen.

Einmal erwischte mich eine Nachbarin im Treppenhaus, wie ich leise „Komm, wir gehen“ sagte, während ich die Haustür aufzog.

Sie sah sich verwirrt um, suchte den Hund, den sie seit Jahren kennt und dann nur mich, mit der Leine in der Hand und feuchten Augen.

Sie legte mir wortlos die Hand auf den Arm. Es war das erste echte, nicht hohle Beileid.

Natürlich gab es auch die anderen.

„Du kannst dir ja einen neuen Hund holen“, sagte ein Kollege in der Kaffeeküche, als würde er vorschlagen, eine kaputte Kaffeemaschine zu ersetzen.

Ein anderer meinte tröstend: „Ist doch nur ein Tier, sei froh, dass es kein Kind war.“

Ich lächelte gequält und spürte, wie sich in mir etwas verhärtete.

Es war, als würde jemand an der Vermietbarkeit meiner Trauer zweifeln.

Abends kehrte ich in meine stille Berliner Wohnung zurück, in diesen Altbau mit knarzenden Dielen und zu hohen Decken, der plötzlich nicht mehr heimelig, sondern einfach nur groß und leer wirkte.

Toros Körbchen stand immer noch zwischen Sofa und Fenster, der Abdruck seines Körpers im Kissen wie ein Schatten, den das Licht vergessen hatte mitzunehmen.

Ich setzte mich häufig daneben auf den Boden, lehnte den Rücken ans Sofa und legte die Hand dorthin, wo früher sein Kopf lag.

Manchmal glaubte ich, es noch warm zu spüren. Ich weiß, dass das nicht sein konnte. Aber Trauer hat ihre eigene Physik.

Seine Urne kam ein paar Tage später mit der Post.

Ein unscheinbares Paket, brauner Karton, Absender des Krematoriums, wie eine Bestellung aus einem Online-Shop.

Meine Finger zitterten, als ich das Klebeband aufriss.

Innen eine schlichte, weiße Dose, sein Name darauf, ein Datum.

Vierzehn Jahre Leben, Gelächter, Spaziergänge, Krankheiten, Siege und Niederlagen – alles reduziert auf ein paar Handvoll Asche.

Ich setzte mich mit der Urne aufs Parkett. Zum ersten Mal seit Tagen begann ich richtig zu weinen. Nicht still, nicht würdevoll, sondern hässlich, atemlos, mit roten Augen und laufender Nase.

Und irgendwo in meinem Kopf hörte ich seine Pfoten, wie sie früher zum Trösten über den Boden tapsten.

Wochen vergingen.

Die Uhr tickte weiter, die BVG fuhr pünktlich oder auch nicht, Menschen fluchten im Supermarkt, Berlin war Berlin.

Nur mein inneres Berlin war eine andere Stadt geworden.

Ich wich bewusst Orten aus: dem Ufer der Spree, wo wir den Sieg über den Krebs gefeiert hatten, dem Neptunbrunnen, an dem er wie ein nasser König aus dem Wasser gesprungen war, dem kleinen Café, dessen Besitzer ihm früher heimlich ein Stückchen Käse zusteckte.

Die Stadt war voll unsichtbarer Stolpersteine, und jeder trug seinen Namen.

Eines Abends, als ich vom Einkaufen kam, fand ich im Briefkasten einen kleinen, handgeschriebenen Zettel.

Kein offizieller Werbeflyer, kein bedrucktes Hochglanzpapier – nur ein einfaches Blatt, mit Kugelschreiber beschrieben, in unregellicher Schrift:

„Trauer um Tiere – Gesprächskreis im Tierheim Lichtenberg. Jeden Donnerstag 19 Uhr. Sie sind nicht allein.“

Jemand hatte das Wort „nicht“ doppelt unterstrichen.

Ich steckte den Zettel zuerst ins Portemonnaie, ohne zu wissen, warum.

Ein Teil von mir hielt die Idee für lächerlich. Einen Trauerkreis? Für Hunde?

Ein anderer Teil – der, der nachts am Körbchen saß – klammerte sich daran wie an einen Ast im Wasser.

Eine Woche später stand ich tatsächlich vor dem Tierheim.

Der Himmel über Berlin war in dieses typische, matte Grau getaucht, das weder Tag noch Nacht kennt.

Im Hof bellten Hunde, manche hysterisch, manche gelangweilt, manche hoffnungsvoll.

Der Geruch von Desinfektionsmittel mischte sich mit nasser Erde und dieser unverwechselbaren Hundewärme.

Ich blieb stehen, atmete tief ein. Es war, als würde jemand eine Tür in meinem Brustkorb aufstoßen.

Der Gesprächskreis fand in einem kleinen Raum hinter der Verwaltung statt.

Ein paar Stühle im Kreis, ein Tisch mit Taschentuchboxen und Tee, eine Frau mit müden, freundlichen Augen, die sich als „Sabine, ehrenamtliche Trauerbegleiterin“ vorstellte.

Wir waren zu siebt an diesem Abend: eine ältere Dame mit einem zusammengedrückten Foto in der Hand, ein junges Paar, das ständig die Finger ineinander verschränkte, ein Mann mit Tätowierungen, der aussah, als könnte ihn nichts erschüttern und doch redete seine Körpersprache von etwas Anderem.

Und ich, mit einem leeren Blick und Toros Leine in der Jackentasche.

Ich wollte anfangs nichts sagen.

Ich hatte mir vorgenommen, einfach zuzuhören.

Doch als die anderen von ihren Hunden sprachen – von Max, der nach dreizehn Jahren plötzlich nicht mehr vom Sofa aufstehen konnte, von Lulu, die bei einem Unfall gestorben war, von Fips, der an einer heimtückischen Krankheit verstarb – begann etwas in mir zu tauen.

Ich erkannte dieselben Risse in ihren Stimmen, dieselben Pausen, in denen man gegen die Tränen kämpft und verliert.

Als ich endlich von Toro erzählte, von seiner letzten Nacht auf dem Parkett, von seinen entschuldigenden Augen, von der Fahrt zu Frau Doktor Weber, sahen sie mich an, als hätte ich nichts Verrücktes gesagt.

Niemand rollte die Augen, niemand relativierte meinen Schmerz.

Sabine nickte nur und sagte leise: „Das hört sich nach einem großen Hund und einer großen Liebe an.“

Da verstand ich zum ersten Mal: Meine Trauer war nicht übertrieben. Sie war angemessen.

In den Wochen danach wurde dieser Donnerstagabend zu einem Anker.

Wir lachten sogar manchmal, wenn jemand eine absurde Anekdote erzählte – von einem Hund, der ganze Wände angefressen hatte, oder von einer Hündin, die konsequent nur das teuerste Sofa als Kauknochen akzeptierte.

Zwischen den Tränen tauchte immer wieder ein zarter Humor auf, wie kleine Lichtflecken auf einem dunklen Teich.

Und jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, fühlte sich die Wohnung ein wenig weniger feindlich an.

Die Frage nach einem neuen Hund schob ich lange vor mir her.

Sie tauchte auf wie ein Gespenst in Gesprächen:

„Hast du schon mal ans Adoptieren gedacht?“

„Es gibt so viele, die ein Zuhause brauchen.“

Jedes Mal reagierte ich reflexartig: „Toro ist nicht ersetzbar.“

Und das stimmte. Doch eines Tages verstand ich, dass es nie darum gegangen war, ihn zu ersetzen – sondern darum, seine Liebe weiterzugeben.

Der Wendepunkt kam an einem verregneten Sonntagnachmittag.

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