Am Feldrand | Am Feldrand versammelten sich Tiere und Menschen und ein alter Hund schrieb seine letzte Geschichte

🐾 Teil 5: Fremdes Licht zerreißt die fragile Ordnung der Gemeinschaft

Der Morgen war noch nicht wirklich angebrochen, als das Bild klarer wurde. Die Glocke hatte geschlagen, der Keiler war zusammengezuckt, und Raban hatte seinen Körper in die Richtung geworfen, in die sein ganzes Leben ihn getragen hatte – dorthin, wo Grenzen verteidigt werden mussten.

Almut sah ihn im Halbdunkel. Er stand zwischen dem Kreis der Menschen und Tiere und der massigen Gestalt des Keilers. Sein Fell war gesträubt, der Atem ging stoßweise. Doch seine Haltung war fest, als habe er die Jahre zurückbekommen, die ihm die Knochen genommen hatten.

Der Keiler senkte den Kopf tiefer. Seine Hauern glitzerten im schrägen Licht der Laterne, die immer noch flackerte, halb umgestürzt im Gras. Ein Moment, in dem alles hing. Kaspar spannte die Hände am Pfahl, Tabea hielt das Tuch bereit, Almut stand reglos, und selbst die Katze verharrte wie in Stein gegossen.

Dann geschah etwas, das keiner vorausgesehen hatte. Das Lamm, das noch eben unter Rabans Decke Schutz gesucht hatte, machte einen kleinen Laut, ein meckerndes, dünnes Blöken. Es war kein Ruf der Stärke, sondern einer der Hilflosigkeit. Und gerade dieses Geräusch veränderte die Spannung im Raum.

Der Keiler drehte den Kopf. Sein Blick fiel auf die schwache Quelle des Lautes. Ein Zittern ging durch den kleinen Körper. Raban nutzte den Moment. Er stieß sich nach vorn, nicht mit der Gewalt der Jugend, sondern mit der Entschlossenheit der Treue. Sein Körper traf die Schulter des Keilers. Es war kein harter Schlag, eher ein Stoßen, das die Richtung brach.

Der Keiler schnaubte, fuhr zur Seite, schlug mit dem Kopf ins Leere. Erde spritzte auf. Der Pfahl in Kaspars Händen senkte sich ein Stück, bereit, falls das Tier erneut drängen würde. Doch für den Augenblick war der Kreis nicht durchbrochen.

Raban taumelte zurück. Er hatte seine Kraft eingesetzt, mehr als er eigentlich noch besaß. Die Hinterläufe knickten ein, sein Atem keuchte. Doch sein Blick blieb fest auf das Wildschwein gerichtet. Er knurrte erneut, dieses Mal leiser, rauer, als komme der Ton aus einem viel zu tiefen Brunnen.

Almut trat an seine Seite. Sie sprach nicht, aber ihre Hand berührte kurz sein Ohr, so leicht, dass nur er es bemerkte. In ihrer Berührung lag die Gewissheit: Er war nicht allein in diesem letzten Aufbäumen.

Der Keiler stand noch immer da. Er atmete schnell, unsicher. Seine Augen gingen von der Menschenlinie zu dem alten Hund, dann wieder zurück. Die Nacht roch nach Eisen, Angst und einer fremden Ordnung, die nicht seine war. Schließlich schnaubte er, ein dumpfer Laut, und machte zwei Schritte rückwärts.

Keiner rührte sich, bis das Tier den Rand des Lichts verließ und im Schlehenbusch verschwand. Erst dann ging ein Zittern durch die kleine Gemeinschaft.

Kaspar ließ den Pfahl fallen. Seine Finger waren weiß von der Anspannung. Tabea atmete tief, während sie noch immer die Decke am verletzten Storch festhielt. Almut kniete neben Raban. Der Hund hatte sich wieder hingelegt, sein Körper schwer, sein Atem kurz.

Du hast uns gerettet, flüsterte sie. Doch in ihrer Stimme lag kein Jubel, sondern ein Wissen um den Preis.

Das Lamm kroch wieder dichter an Rabans Flanke. Die Katze Signe schlich im Kreis, prüfte den Boden, als wolle sie sicherstellen, dass keine Spur des Keilers zurückblieb. Der Storch stand still, sein Flügel nun ruhig unter dem provisorischen Verband.

Die Glocke der Kirche schwieg. Aber ihr Echo hing noch in der Luft.

Kaspar setzte sich auf den Zaunpfahl, die Hände in den Schoß gelegt. Er sah lange auf den alten Hund, der im Gras lag. Es war, als hätte er in diesem Augenblick verstanden, dass Schuld nicht immer in Worten getragen werden musste, sondern manchmal in Blicken, die einem Tier galten.

Tabea packte den Rucksack fester. Sie wusste, dass die Nacht noch lang war und der Morgen Fragen bringen würde. Doch in diesem Augenblick war da nur ein Kreis von Lebewesen, die ungleich und fremd zueinander waren und dennoch eine stille Ordnung gebildet hatten.

Raban schloss für einen Moment die Augen. Sein Atem ging schwer, doch er war nicht gebrochen. Er hörte die Geräusche um sich herum – das Blätterrauschen im Schlehenbusch, das Scharren der Katze, das Zittern des Lamms, das Klacken des Storcheschnabels. Alles wurde eins, ein einziges Bild von Nähe.

Almut beugte sich hinunter und legte die Stirn an seine. Ein stilles Versprechen, ohne Worte.

Dann, ganz plötzlich, ein Geräusch vom Dorf her. Ein Motor sprang an, hell und fremd, viel zu früh für diesen Morgen. Ein Lichtkegel schnitt die Dunkelheit und näherte sich rasch.

Almut richtete sich auf. Kaspar erhob den Kopf. Tabea kniff die Augen zusammen.

Raban aber hob noch einmal den Kopf, so schwer er war. Er wusste, dass die Nacht ihn noch nicht gehen ließ.

Der Motor wurde lauter. Staub stieg vom Feldweg.

Und das, was kam, trug keine Stille mehr in sich.

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