Am Feldrand | Am Feldrand versammelten sich Tiere und Menschen und ein alter Hund schrieb seine letzte Geschichte

🐾 Teil 6: Zwischen Leben und Abschied: Rabans schwerster Atemzug

Das Licht des Motors schnitt die Dunkelheit wie ein Messer. Ein alter VW-Bus bog vom Dorfweg ein, die Scheinwerfer grell, die Karosserie fleckig von Rost. Er hielt abrupt, die Räder rutschten im feuchten Gras. Der Motor hustete noch nach, dann war nur das Knistern der heißen Auspuffrohre zu hören.

Die Tür flog auf. Zwei Gestalten stiegen aus, beide mit Warnwesten, beide mit Taschenlampen. Die Strahlen zuckten über den Boden, blendeten in Gesichter, glitten über den Zaun.

„Hier also?“, rief einer. „Gemeldet hat’s geheißen, verletzter Storch, Gefährdung durch Wildschwein. Wir sollen sichern.“ Seine Stimme war laut, zu laut für diese Stunde, und sie zerbrach die feine Ordnung, die sich eben noch gehalten hatte.

Tabea richtete sich auf. „Leise“, sagte sie streng, und die Strahlen ihrer Worte waren schärfer als die Taschenlampen. „Das Tier ist ruhig, solange es keine Hast gibt. Jede falsche Bewegung macht es schlimmer.“

Der Jüngere der beiden Männer trat näher, die Lampe in der Hand zitterte leicht. „Wir sind vom Ordnungsamt. Uns wurde gesagt, wir sollen…“ Er stockte, als sein Blick auf Raban fiel. Der Hund lag schwer im Gras, die Flanke hob sich mühsam. Sein Blick war wach, aber matt.

Almut erhob sich und stellte sich zwischen Raban und den grellen Lichtstrahl. „Der Hund bleibt hier. Ihr blendet ihn nicht.“ Ihre Stimme war fest, und sie klang nach mehr als nur dieser Nacht.

Kaspar trat dazu. „Lasst sie machen. Sie kennt die Tiere besser als eure Formulare.“ Er sprach ohne Härte, doch mit einem Ton, der keinen Widerspruch suchte, sondern Verständnis.

Die Männer wechselten Blicke. Einer schaltete die Taschenlampe aus, der andere senkte sie. Das Lichtkreis fiel zurück, und die Nacht atmete wieder.

Der verletzte Storch bewegte sich, sein Schnabel klopfte leise gegen den Boden. Tabea kniete sofort und prüfte den Verband. „Noch stabil“, murmelte sie. „Aber wir müssen ihn vor der nächsten Stunde ins Warme bringen.“

Das Lamm drückte sich enger an Raban. Die Katze strich einmal um Almut herum, leise wie eine Erinnerung.

Der Ältere der Männer trat näher, nun ruhiger. „Wir können helfen, ihn in den Wagen zu tragen. Zum Tierarzt oder zur Station. Wir fahren vorsichtig.“

Tabea nickte zögernd. „Nur wenn er nicht zu sehr erschrickt. Er darf nicht schlagen. Sonst bricht der Flügel endgültig.“

Raban hob den Kopf. Sein Blick folgte jeder Bewegung, prüfend, wie ein Wächter, der nicht schlafen durfte. Seine Augen waren trüb vor Schmerz, doch sie hielten an den Menschen fest. Almut kniete wieder zu ihm. „Du musst nicht mehr kämpfen“, flüsterte sie. „Es ist gut, mein Alter. Du hast genug getan.“

Doch Raban legte die Schnauze nicht wieder ab. Er blieb wach, als ob er noch einen Schritt weiter müsse.

Die Männer brachten eine Decke aus dem Wagen. Tabea und Kaspar halfen, den Storch vorsichtig hineinzulegen. Das Tier war erstaunlich still, als wüsste es, dass Widerstand keinen Sinn machte. Die Schnabelspitze fuhr einmal prüfend durch die Luft, dann schloss er die Augen.

In diesem Moment löste sich die Spannung im Kreis, aber eine andere trat an ihre Stelle. Almut sah es als Erste. Raban hatte die Augen geschlossen. Sein Atem ging schwer, unregelmäßig. Das Lamm stupste ihn an, suchte Wärme, doch er rührte sich nicht sofort.

„Nein“, flüsterte Almut, ihre Hand an seinem Hals. Sie spürte den Puls, schwach, aber da. Sie beugte sich tiefer. „Noch nicht, mein Freund. Noch nicht.“

Die Katze sprang auf den Zaunpfahl und sah von oben herab, als wache sie. Kaspar trat näher, unsicher, und selbst die Männer vom Ordnungsamt hielten nun still, als hätten sie plötzlich begriffen, dass hier etwas geschah, das keine Vorschrift regelte.

Der Morgenhimmel begann sich zu verfärben. Ein graues Band am Horizont, das den Frost weicher machte. Der erste Vogelruf, zaghaft, aber unüberhörbar.

Raban öffnete noch einmal die Augen. Er sah nicht die Menschen, nicht die Tiere, nicht den Wagen. Sein Blick ging in die Ferne, über die Felder, wo die Nebel zogen. Es war derselbe Blick, den er als junger Hund gehabt hatte, wenn er die Hofgrenzen ablief, als könnte er die Welt in seinem Blick halten.

Almut hielt seine Stirn, ihre Tränen fielen auf sein Fell. „Bleib“, sagte sie. „Bleib bei mir.“

Raban atmete noch einmal tief, als wolle er antworten. Dann sank sein Kopf zurück auf die Decke. Der Atem wurde flach, kaum hörbar.

Die Stille war so dicht, dass man das Knacken des gefrorenen Grases unter den Schuhen der Männer hören konnte.

Und dann, plötzlich, ein Laut. Nicht von Raban. Vom Lamm. Ein kräftigeres Blöken, heller, als hätte es verstanden, dass es nun seine Stimme erheben musste.

Almut sah erschrocken auf, die Hand noch immer auf Rabans Fell.

Und in diesem Augenblick bewegte sich etwas im Busch. Ein neuer Schatten trat hervor, groß und dunkel.

Die Nacht hatte noch nicht alles preisgegeben.

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