Am Feldrand | Am Feldrand versammelten sich Tiere und Menschen und ein alter Hund schrieb seine letzte Geschichte

🐾 Teil 7: Ein Fremder erinnert sich und der Himmel sendet ein Zeichen

Der Schatten aus dem Busch trat näher, langsam, schwer, als wüsste er, dass alle Augen ihn verfolgten. Doch es war kein zweiter Keiler. Ein Mann kam hervor, gebeugt, mit einem Stock, den er mehr als Stütze brauchte denn als Werkzeug. Sein Mantel hing lose an den Schultern, der Kragen war von Jahren zerfressen.

„Herrje“, murmelte Kaspar leise, „das ist doch Norbert Hagen.“

Almut sah überrascht auf. Norbert, der Einsiedler am Rande des Bruchs, seit Jahren fast vergessen. Viele hatten erzählt, er sei nicht mehr recht bei Verstand, andere meinten, er lebe von dem, was die Felder und Wälder hergaben. Doch jetzt stand er hier, in der Stunde, da sich alles verdichtet hatte.

Norberts Augen glitzerten im Schein der schwachen Laterne. „Hab den Keiler verscheucht“, murmelte er. „Ihr habt ihn gesehen, ja? Der zieht seit Wochen durchs Dickicht. Ich hab ihn gespürt.“ Seine Stimme war krächzend, aber klarer als manch einer vermutet hätte.

Die Männer vom Ordnungsamt wechselten unsichere Blicke. Tabea richtete sich langsam auf, ihre Hände noch am Storch. „Der Keiler ist fort. Aber wir hatten Glück, mehr nicht.“

Norbert trat näher, seine Schritte schwerfällig, doch bestimmt. Sein Blick fiel auf Raban, der ausgestreckt lag, das Fell nass von Tau und Atem. Der alte Hund öffnete noch einmal die Augen, als erkenne er den Geruch. Norbert blieb stehen, sein Gesicht weich, plötzlich jünger.

„Rudi…?“ flüsterte er. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, deiner heißt Raban. Aber er sieht aus wie der Hund, den ich als Junge hatte.“

Almut sah ihn lange an. In seinen Worten lag etwas, das über den Augenblick hinausging. Erinnerungen, die wie alte Samen im Boden lagen und nur auf Regen warteten.

Norbert kniete schwerfällig nieder. Er legte den Stock ins Gras und streckte eine Hand aus, die zitterte. Raban roch die Finger, schwach, aber er erkannte darin etwas Bekanntes: Erde, Rauch, Holz, ein Leben, das nie ganz im Dorf stattgefunden hatte, aber auch nicht weit weg von seinem Hof.

„Er hat uns verteidigt“, sagte Almut leise, die Stimme brüchig. „Obwohl er kaum noch stehen konnte. Er hat die Grenze gehalten.“

Norbert nickte. „So machen’s die Alten. Man denkt, sie hätten nichts mehr zu geben. Aber gerade dann zeigen sie, was bleibt.“

Das Lamm drängte sich dichter an Raban. Sein kleines Herz schlug gegen das Fell des Hundes, als wolle es das fremde Herz wieder antreiben. Die Katze schlich einmal um Norbert herum, prüfend, ob er willkommen war. Schließlich ließ sie sich neben seinem Stock nieder, als sei sie einverstanden.

Tabea stand auf, ihre Augen glänzten. „Wir müssen den Storch fahren, jetzt gleich. Jeder Moment zählt. Aber der Hund…“ Sie verstummte, weil sie nicht aussprechen wollte, was alle sahen.

Almut legte beide Hände in Rabans Fell. „Noch atmet er“, sagte sie. „Solange er atmet, bleibt er bei uns.“

Norbert beugte sich tiefer, seine Stirn fast an Rabans. „Ich weiß, wie das ist“, murmelte er. „Ich habe meinen Rudi im Winter verloren, er war kaum älter als deiner. Ich habe geglaubt, ich könnte nie wieder einen Hund ansehen. Aber jetzt… jetzt seh ich ihn wieder.“

Die Männer vom Ordnungsamt räusperten sich, unsicher, wie sie in diese Stille passten. Schließlich sagte einer: „Wir können den Hund auch mitnehmen, wenn ihr wollt. Ein Tierarzt… vielleicht gibt es noch Hilfe.“

Doch Almut schüttelte den Kopf. „Er gehört hierher. Er hat den Hof, die Felder, uns. Wenn er gehen muss, dann hier, nicht in einem kalten Raum voller fremder Hände.“

Kaspar senkte den Blick. Er hatte seine Schuld mitgetragen in dieser Nacht, aber er wusste, dass Almut recht hatte. Manche Wege mussten dort enden, wo sie begonnen hatten.

Der Himmel im Osten wurde heller. Nebelschwaden krochen über die Gräben, der Frost ließ nach. Die Glocke schlug ein zweites Mal, ein tiefer Ton, als habe sie die Nacht gezählt.

Raban atmete wieder schwer, doch er öffnete noch einmal die Augen. Sein Blick fiel auf Almut, dann auf Norbert, dann auf die Tiere, die sich um ihn geschart hatten. In diesem Kreis war er nicht mehr nur ein alter Hund. Er war Mittelpunkt, Scharnier, die unsichtbare Achse, um die sich alles drehte.

Almut beugte sich hinunter. „Danke“, flüsterte sie. „Danke für all die Jahre.“

Norbert wischte sich hastig über die Augen. „Er geht nicht einfach. Solange ihr ihn erinnert, bleibt er.“

In diesem Augenblick schoss ein gleißendes Licht über den Himmel. Kein Scheinwerfer, sondern eine Sternschnuppe, groß und lang, die den grauen Morgen kurz mit Silber füllte. Alle sahen nach oben, alle hielten den Atem.

Und als sie wieder hinabblickten, lag Raban stiller als zuvor. Sein Atem war kaum mehr zu hören.

Almut schloss die Augen und presste ihre Stirn an sein Fell.

Doch genau da, im gleichen Moment, machte das Lamm einen Schritt nach vorn, hob den Kopf und rief ein zweites Mal, diesmal laut, kräftig, voller Trotz gegen das, was unausweichlich war.

Die Stille brach. Alle drehten sich zu dem kleinen Körper um.

Und Almut spürte, dass noch nicht alles entschieden war.

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