🐾 Teil 8: Das Blöken des Lamms ruft den Alten zurück ins Leben
Das Blöken des Lamms schnitt durch die Stille, schärfer als der Glockenschlag, eindringlicher als jedes Wort. Es war ein Laut, der nicht aus Stärke kam, sondern aus dem nackten Willen zu leben. Die Köpfe aller wandten sich zu dem kleinen Tier, das da stand, dünn und zerzaust, und dennoch die Luft erfüllte.
Raban öffnete die Augen. Für einen Moment wirkten sie klarer, als hätte das Rufen ihn zurückgeholt. Seine Flanke hob sich erneut, wenn auch schwach, und er drehte den Kopf so weit, dass seine Schnauze das Lamm streifte. Ein Hauch von Atem ging über das kleine Fell.
Almut schluchzte leise, ihre Hand noch immer an Rabans Hals. „Du hörst es, nicht wahr?“, flüsterte sie. „Es braucht dich noch.“
Norbert saß auf seinem Stock gestützt und nickte ernst, als hätte er die Sprache des Lamms verstanden. „Die Alten geben weiter, wenn sie nicht mehr halten können. Vielleicht ist das der Sinn.“
Tabea sah auf die Szene mit gerunzelter Stirn. „Ich kenne viele Tiere, die aufgeben, wenn es Zeit ist. Aber manchmal, ja manchmal, finden sie noch eine letzte Kraft, weil etwas anderes ruft.“ Ihre Stimme war brüchig, obwohl sie als Tierärztin gelernt hatte, sich nicht zu verlieren.
Kaspar trat einen Schritt näher. In seinem Gesicht lag die Spur der Nacht, tiefe Linien, die Schuld und Müdigkeit zeichneten. „Wenn der Hund bleibt, bleibt auch etwas von uns“, sagte er leise, fast zu sich selbst.
Das Lamm stupste Raban erneut, fordernder jetzt, als wolle es nicht akzeptieren, dass der große Körper stiller wurde. Und wieder kam ein Laut, lauter, klarer, mit einer Hartnäckigkeit, die die Luft spannte.
Die Katze Signe spannte ihre Muskeln und machte einen Kreis um die beiden. Sie rieb ihr Fell an Rabans Flanke, dann am Kopf des Lamms. Eine seltsame Bewegung, die sie verband. Die Maus, die noch immer unter der Decke Schutz gesucht hatte, kroch hervor, wagte sich ein kleines Stück hinaus und blieb dann reglos im Gras sitzen. Ein winziger Körper, und doch Teil dieses Gefüges.
Almut hob den Kopf. Ihre Augen glänzten feucht, aber ihr Gesicht gewann an Festigkeit. „Vielleicht… vielleicht ist es das, was er uns zeigt. Dass keiner allein ist. Dass alles, was lebt, sich aneinander bindet, ob wir wollen oder nicht.“
Norbert legte die Hand vorsichtig auf Rabans Fell. „Er hat mir meinen alten Hund zurückgebracht, wenn auch nur für einen Atemzug. Ich hatte geglaubt, ich sei vergessen. Aber er hat mir gezeigt, dass nichts verloren geht.“
Die Männer vom Ordnungsamt standen unsicher daneben. Einer räusperte sich und flüsterte: „Wir sollten jetzt gehen. Der Storch muss fort, und hier… hier geschieht etwas, das uns nicht gehört.“ Der andere nickte, fast ehrfürchtig. Sie hoben den verletzten Vogel, trugen ihn behutsam in den Wagen. Kein lautes Wort fiel. Die Tür schloss sich leise.
Der VW-Bus fuhr langsam an, der Motor gedämpft, als wollte er nicht stören. Als die Rücklichter im Nebel verschwanden, war der Kreis wieder geschlossen, nur enger, stiller.
Die Sonne hob sich zaghaft über den Horizont, ein fahles Licht, das die Felder grau und doch hoffnungsvoll färbte. Nebel lag wie Atem über der Erde.
Raban lag schwer, sein Atem flach. Doch sein Blick war noch einmal da, klar und fest. Er sah auf das Lamm, auf Almut, auf Norbert, auf die Tiere, die sich um ihn geschart hatten. Es war ein Blick, der keine Worte brauchte.
Almut verstand ihn. „Du gibst nicht auf“, sagte sie leise. „Du gehst nicht, solange sie dich brauchen.“
Das Lamm legte sich nun ganz an seine Seite, die kleine Flanke pochte unruhig, aber der Rhythmus war da, gleichmäßig, fordernd. Raban schloss die Augen, ließ den Kopf sinken. Für einen Augenblick glaubte Almut, er sei gegangen. Doch dann hob sich die Brust wieder, zaghaft, wie eine Flamme, die neu entzündet wurde.
Ein Schauer ging durch die Runde. Norbert schlug die Hand vor den Mund, Tabea atmete hörbar ein, Kaspar wischte sich hastig über die Stirn.
„Er lebt“, flüsterte Almut. „Er lebt noch.“
Die Glocke der Kirche schlug erneut, dieses Mal heller, als ob der Morgen sich durchsetzen wollte.
Und genau in diesem Moment, als sich das Licht fester über das Feld legte, stieg aus dem Horst auf dem Turm ein zweiter Storch empor, breitete die Flügel aus und zog über die Felder. Sein Ruf war scharf, durchdringend, ein Bekenntnis zum neuen Tag.
Alle blickten hinauf. Und unten, im Gras, legte Raban die Schnauze fester auf das Fell des Lamms, als hätte er eine neue Aufgabe gefunden.
Doch tief in der Ferne, vom Bruch her, kam ein Knacken, dumpf und drohend. Ein Laut, der erinnerte, dass die Nacht zwar gewichen war, aber noch nicht alle Schatten verschwunden waren.