Am Feldrand | Am Feldrand versammelten sich Tiere und Menschen und ein alter Hund schrieb seine letzte Geschichte

🐾 Teil 9: Jäger, Hunde und die letzte Prüfung am Morgen

Das Knacken vom Bruch her war schwerer als der Laut einer Amsel oder das Rascheln von Rehtritten. Es klang, als ob Äste brachen, als ob ein Körper von Gewicht den alten Wildpfad hinabdrängte. Alle hoben den Kopf. Selbst das Lamm, das sich so eng an Raban schmiegte, spitzte die Ohren.

Almut legte unwillkürlich die Hand auf den Hund, als wolle sie ihm Kraft geben. Ihr Blick glitt zu Kaspar, der die Stirn in Falten legte. „Wenn er zurückkommt…“ Er sprach nicht weiter. Es brauchte keine Worte. Jeder wusste, was „er“ bedeutete.

Norbert stand noch immer gebeugt auf seinen Stock gestützt, doch in seinen Augen lag eine unerwartete Klarheit. „Manchmal kehrt das Dunkel zurück, nur um zu prüfen, ob wir wacher geworden sind“, sagte er heiser.

Ein neuer Laut folgte, näher, doch dann mischte sich ein anderes Geräusch darunter. Nicht das tiefe Schnauben eines Keilers, sondern ein Bellen, rau und hell zugleich. Es kam vom Dorfweg, schwankend, abgehackt. Zwei Hunde tauchten auf, Schäfermischlinge, geführt von einem Mann in brauner Jacke. Er war Jäger, das Gewehr auf der Schulter, die Stirn hart.

„Na also“, rief er, „hier seid ihr. Ich hab den Funkspruch bekommen, dass ein Wildschwein die Leute aufgeschreckt hat. Ich kümmere mich drum.“

Tabea trat sofort vor, die Hände hoch. „Der Keiler ist fort. Ihr Gewehr brauchen wir nicht. Es gibt verletzte Tiere, ein Hund, der im Sterben liegt. Hier ist kein Platz für Jagd.“

Der Mann musterte sie kühl. „Keiler, die sich an Menschen wagen, müssen weg. Wenn er zurückkommt, ist es gefährlich.“ Seine Hunde zogen an den Leinen, die Augen auf den Kreis gerichtet.

Raban hob den Kopf, langsam, mühsam, aber er tat es. Sein Blick traf den Mann, als wolle er ihm ohne Laut sagen, dass dies nicht seine Stunde war. Die Hunde verstummten für einen Moment, als hätten sie den alten Atem gespürt.

Almut stellte sich vor Raban. „Er hat die Nacht verteidigt. Er hat uns alle gehalten. Ihr kommt nicht mit eurem Gewehr und macht diese Stunde kaputt.“ Ihre Stimme bebte, aber sie war fest.

Der Jäger runzelte die Stirn. „Ihr Bauern vergesst, dass Regeln nicht aus Gefühl gemacht sind.“

Da trat Norbert vor, den Stock fest in der Hand. „Und ihr vergesst, dass Regeln nicht das Leben retten, sondern Herz und Mut. Seht euch um. Dieser Hund hat mehr getan als jedes Gewehr in dieser Nacht.“ Seine Stimme war brüchig, aber sie schnitt durch die Luft wie ein Messer.

Die Spannung zwischen ihnen hing wie ein Draht. Kaspar trat ebenfalls vor, ohne Hast, doch bestimmt. „Wenn ihr meint, ihr müsst schießen, dann geht tiefer in den Bruch. Hier bleibt ihr nicht. Hier gilt das, was dieser Hund gehalten hat.“

Einen Moment war Stille. Nur das Schlagen eines Rabenflügels irgendwo im Nebel. Dann schnaubte der Jäger, drehte sich halb ab. „Macht, wie ihr wollt. Aber wenn der Keiler jemanden erwischt, dann tragt ihr die Schuld.“ Er zog an den Leinen, und die Hunde folgten, unruhig, aber gehorsam. Wenige Augenblicke später verschluckte der Nebel sie.

Ein tiefer Atemzug ging durch die kleine Gemeinschaft. Tabea strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Es war knapp. Noch ein Wort mehr, und alles wäre zerbrochen.“

Almut kniete wieder zu Raban. „Du hältst uns zusammen, mein Alter. Selbst jetzt, wo du kaum mehr Kraft hast, bist du es, der die Ordnung bewahrt.“

Das Lamm legte sich enger an ihn, als spürte es, dass die Gefahr gebannt war. Signe, die Katze, setzte sich neben Norbert und rieb ihr Fell an seinem Stock, als hätte sie beschlossen, dass auch er nun zum Kreis gehörte.

Die Sonne hob sich höher, der Nebel wurde durchsichtiger. Man sah die Felder weit hinaus, feucht und still, als hätten sie alles aufgenommen. Der Storch im Wagen rührte sich, sein Ruf schwach, aber lebendig.

Raban atmete flacher, doch seine Augen waren noch geöffnet. Er sah in die Runde, einen nach dem anderen, als wolle er zählen, wer alles da war. Dann schloss er die Lider für einen Augenblick, und Almut dachte schon, dies sei der letzte. Doch er öffnete sie wieder und sah sie an. Ein Blick, der kein Ende kannte, nur Übergang.

Norbert flüsterte: „Es ist, als ob er wartet. Als ob er weiß, dass noch etwas geschehen muss, bevor er gehen kann.“

Die Glocke der Kirche schlug ein drittes Mal, diesmal kräftig, als habe der Morgen nun das Recht eingefordert.

Und genau in diesem Moment geschah es. Vom Himmel her, über den Feldern, zogen zwei Störche, schwer und würdevoll, ihre Flügel weit gespannt. Einer war gesund, der andere lahm, doch sie flogen nebeneinander, wie Spiegelbilder. Ihr Ruf hallte durch die Luft, scharf und klar, ein Ruf, der allen in die Herzen schnitt.

Almut hielt den Atem an. Sie sah auf Raban. Er hatte den Kopf leicht gehoben, die Augen weit offen.

Und sie wusste, der nächste Herzschlag würde über Leben oder Abschied entscheiden.

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