Am Feldrand | Am Feldrand versammelten sich Tiere und Menschen und ein alter Hund schrieb seine letzte Geschichte

🐾 Teil 10: Das rote Halsband bleibt und ein Echo von Würde und Treue

Die beiden Störche glitten wie Gespenster über den Himmel, ihre Flügel schlugen kaum hörbar, und doch schien die Luft von ihrem Ruf zerschnitten. Alle Augen richteten sich nach oben, selbst das Lamm hob den Kopf und blökte leise, als wolle es antworten.

Raban öffnete noch einmal die Augen. In ihnen lag kein Schmerz mehr, sondern ein tiefer, stiller Glanz. Er sah auf Almut, auf den Kreis um ihn, auf die Felder, die sein Leben gewesen waren. Seine Brust hob sich, ein letzter weiter Atem, so ruhig, dass man ihn beinahe für ein Aufatmen halten konnte.

Almut spürte, wie der Moment kam, und sie legte beide Hände an sein Fell. „Danke“, flüsterte sie, Tränen liefen über ihre Wangen. „Danke für jeden Schritt, den du neben mir gegangen bist.“

Raban schloss die Augen. Die Muskeln in seinem Gesicht wurden weich. Ein Zittern ging durch seinen Körper, dann wurde er still. So still, dass man den Unterschied sofort spürte, auch ohne nachzusehen.

Eine lange Stille legte sich über die Runde. Niemand wagte, als Erster zu sprechen. Nur die Glocke im Dorf schlug ein viertes Mal, als habe sie das Ende gezählt.

Das Lamm stupste gegen Rabans Flanke, verwirrt, fordernd. Doch diesmal kam keine Antwort mehr. Es blökte erneut, lauter, voller Angst. Da legte Signe die Pfote sanft auf den Rücken des Lamms, als wolle sie es beruhigen.

Almut beugte sich tief über den Hund, drückte ihr Gesicht in sein Fell, atmete ihn ein, als könnte sie so etwas von ihm festhalten. „Du bleibst in mir“, murmelte sie, „in jedem Schritt, den ich gehe, in jeder Nacht, die ich wache.“

Norbert stand mit gebeugtem Rücken und wischte sich mit einer groben Hand über die Augen. „So gehen die Besten“, sagte er heiser. „Leise, ohne Anspruch, aber mit einem Kreis um sich, den sie geformt haben.“

Kaspar legte seine Hand schwer auf Almuts Schulter. Es war kein Trost, den er geben konnte, sondern nur eine Gegenwart. „Er hat mehr getan als viele Menschen in dieser Nacht. Ich werde ihn nicht vergessen.“

Tabea trat näher, kniete sich hin und legte die Finger vorsichtig auf Rabans Hals. Dann schüttelte sie sanft den Kopf. „Er ist gegangen. Aber ich schwöre euch: Er ist nicht umsonst gegangen. Der Storch lebt, das Lamm lebt, wir alle stehen hier, weil er es so gewollt hat.“

Ein Wind ging über die Felder, hob die Halme, die vom Frost noch schwer waren. Die beiden Störche am Himmel drehten eine weite Runde und verschwanden dann Richtung Bruch. Zurück blieb ein Himmel, der klarer wirkte als zuvor.

Almut zog langsam das rote Halsband von Rabans Hals. Sie hielt es in beiden Händen, betrachtete die verbeulte Messingmarke, die seinen Namen trug. Ein stiller Glanz ging von dem Metall aus, als hätte es alle Jahre aufgesogen. „Das bleibt bei mir“, sagte sie. „Solange ich atme, trägt es die Erinnerung.“

Das Lamm schmiegte sich an sie, suchte Schutz. Sie legte ihm das Halsband vorsichtig um, nicht als Zeichen von Besitz, sondern von Verbundenheit. „Du wirst getragen von dem, der vor dir ging“, flüsterte sie.

Norbert lächelte schwach. „So lebt er weiter. Nicht im Grab, sondern in dem, was er weitergibt.“

Die Katze sprang auf den Zaunpfahl, sah hinaus ins Feld und schnurrte leise. Die Maus huschte zurück unter die Decke, als sei ihre Aufgabe erfüllt. Ein kleines, stilles Volk, das nun wieder seinen Weg gehen würde.

Kaspar ging zum Graben, hob Erde auf und ließ sie durch die Finger rieseln. „Wir werden ihm ein Bett bereiten. Nicht groß, nicht laut. Aber an der Stelle, wo er gewacht hat.“

Almut nickte. „Ja. Hier am Feldrand. Hier, wo er immer lag.“

Sie alle halfen, ein kleines Grab zu graben. Der Boden war hart vom Frost, doch der Spaten, den Kaspar aus dem Schuppen holte, tat seinen Dienst. Es dauerte, bis eine Mulde entstand, aber die Mühe war Teil der Würde. Gemeinsam legten sie Raban hinein, die Decke unter ihm, das Feld als Dach.

Almut legte das Halsband nicht bei. Sie hielt es fest. Dann deckten sie ihn zu, behutsam, Schicht um Schicht. Als der letzte Erdklumpen fiel, trat Stille ein, schwer und zugleich friedlich.

Die Sonne stand nun höher, und die ersten Lerchen stiegen auf. Ihr Gesang war klar, fast trotzig gegen die Kälte des Bodens.

Almut stand lange da, das Halsband an die Brust gedrückt. Schließlich wandte sie sich an die anderen. „Geht nach Hause. Ich bleibe noch. Ich muss wachen, bis die Lerchen schweigen.“

Norbert nickte langsam und zog sich zurück. Kaspar legte die Hand an seinen Hut, ein stilles Ehrenzeichen, bevor er zum Dorf ging. Tabea sah noch einmal auf den Boden, dann folgte sie.

Almut blieb allein mit dem Lamm, mit der Katze, mit dem Feld. Der Morgen roch nach Erde, nach Abschied, nach Neubeginn.

Sie sah in die Ferne, wo der Nebel sich lichtete. „Er hat uns gezeigt, dass Würde bleibt, auch wenn die Kraft vergeht“, sagte sie leise.

Das Lamm blökte, als bestätige es ihre Worte.

Und in diesem Klang, so klein und zerbrechlich er war, lag der Beginn von etwas Neuem. Ein Echo, das die Erinnerung trug. Ein Versprechen, dass nichts, was geliebt wurde, je ganz vergeht.

Scroll to Top