An Heiligabend stand kein Stuhl bereit bis mein Sohn um 20:30 zurückkam

Niemand kommt um 20:30 Uhr zurück, wenn es ihm egal ist.

Robert stand noch immer vor mir, die Hände fest um meine Schultern, als müsste er mich daran erinnern, dass ich wirklich da war. Draußen klackte irgendwo im Treppenhaus eine Tür, und der Schnee rieb leise an den Fenstern wie feines Sandpapier.

„Komm“, sagte er noch einmal, als wäre das Wort ein Versprechen, das er zu spät gelernt hatte. „Bitte.“

Ich wollte etwas sagen, irgendetwas Vernünftiges. Dass er doch seine Gäste nicht allein lassen könne. Dass Sabine es sicher nicht böse gemeint habe. Dass ich ja zurechtkomme.

Doch dann sah ich wieder den leeren Teller auf meinem Tisch, den ich heute Morgen gedeckt hatte, ohne es zuzugeben. Und ich spürte, wie müde man vom Starksein werden kann.

„Gut“, sagte ich leise. „Ich ziehe den Mantel an.“

Robert atmete aus, als hätte er die ganze Zeit die Luft angehalten. Er half mir, den alten Wintermantel überzustreifen, als wäre ich plötzlich zerbrechlich geworden.

Im Auto war es warm, zu warm, und die Scheiben beschlugen sofort. Robert wischte mit dem Ärmel eine Sichtspur frei, fuhr zu schnell durch die nassen Straßen, und ich hielt die Dose, die jetzt leer war, in der Hand wie einen Beweis.

„Sabine…“ begann ich.

„Nein“, sagte er, ohne mich anzusehen. Seine Stimme war hart, aber nicht gegen mich. „Lass mich das machen.“

Das war neu. Früher hatte er Konflikte wie schlechte Nachrichten behandelt: kurz anschauen, dann weglegen.

Die Villa in Blasewitz stand noch genauso hell da wie vorhin, als hätte sie nicht gemerkt, dass jemand draußen im Dunkeln gestanden hatte. Aus dem gekippten Fenster drang wieder Lachen – dünner jetzt, gezwungener.

Robert parkte schräg, als hätte er es eilig, sich zu schämen. Dann stieg er aus, ging um das Auto, öffnete mir die Tür, und seine Hand blieb einen Moment zu lange an meinem Ellenbogen.

„Du gehst nicht hinter mir“, sagte er.

„Ich bin einundsiebzig, Robert“, murmelte ich.

„Eben“, antwortete er. „Du gehst neben mir.“

Im Flur roch es nach Gans und nach Wärme und nach all den Jahren, die ich nicht mehr dazugehörig sein wollte und doch immer dazugehörig blieb. Sabines Mantel hing an der Garderobe, die Jacken der Kinder, die Schals, die man so achtlos irgendwo hinwirft, wenn man weiß, man ist zuhause.

Ich hatte dieses Wissen heute Abend verloren.

Robert öffnete die Tür zum Esszimmer, bevor ich mich vorbereiten konnte. Sechs Köpfe drehten sich gleichzeitig.

Sabines Mutter erstarrte mit der Serviette in der Hand. Sabines Vater hielt sein Glas wie einen kleinen Schutzschild. Die Kinder schauten auf – kurz, neugierig, dann sofort wieder zu Robert, weil Kinder spüren, wo die Luft kippt.

Sabine stand am Sideboard, als hätte man sie dorthin gestellt, damit sie nicht im Weg ist. Ihre Augen wurden groß, als sie mich sah.

„Robert…“ begann sie.

„Mutti ist zurück“, sagte er. Mehr nicht. Keine Entschuldigung, keine Erklärungen, kein Humor, um es leichter zu machen.

Er ging zum Tisch, schaute ihn an, als würde er eine Rechnung prüfen. Dann zog er einen Stuhl heran – nicht irgendeinen, sondern den, der am Ende stand, dort, wo man jemanden hinsetzt, der nicht ganz dazugehört.

Er schob ihn weg.

„Wir brauchen einen siebten Stuhl“, sagte er.

„Robert, wir sind doch schon…“ Sabines Vater räusperte sich. „Es ist ja nicht böse gemeint, aber—“

„Doch“, unterbrach Robert ihn.

Die Stille danach war so deutlich, dass ich das Ticken der Wanduhr hörte. In meiner Brust machte etwas zu – nicht aus Trotz, sondern aus Angst.

Robert sah mich kurz an. Dann sah er in die Runde.

„Ich habe meiner Mutter gesagt, sie kann gerne vorbeikommen“, sagte er langsam. „Und ich habe nicht dafür gesorgt, dass sie erwartet wird. Ich habe sie an der Tür stehen lassen wie eine Fremde.“

Sabine hob die Hände, als wollte sie erklären, als wäre es ein Missverständnis mit der Uhrzeit gewesen, ein Kommunikationsproblem. Ein bisschen hektisch mit den Kindern.

Aber Robert ließ es nicht zu.

„Das hier“, sagte er und deutete auf den Tisch, „ist kein Hotel. Und Familie ist kein Termin, den man verschiebt.“

Die Kinder starrten. Sabines Mutter zog die Schultern hoch, als hätte man sie beleidigt. Sabine wurde blass.

Ich spürte, wie mein eigener Stolz, der mich vorhin aufrecht gehalten hatte, jetzt drohte, mich zu ersticken. Ich wollte die Situation glätten, wie ich es immer getan hatte. Ich wollte lächeln und sagen: „Ach, ich hatte mich vertan.“

Doch Robert hob die Hand, ganz kurz, kaum sichtbar – ein Zeichen an mich, still zu bleiben. Als hätte er verstanden, dass jede Rettung in diesem Moment wieder meine Arbeit wäre.

„Ich hole einen Stuhl“, sagte er.

„Robert, der Keller ist kalt“, sagte ich automatisch.

Er lächelte einmal, schief. „Ich auch.“

Er verschwand. Im Raum blieb ich stehen, den Mantel noch an, als wäre ich nur kurz reingeschneit. Sabine trat einen Schritt auf mich zu.

„Bertha… ich wusste wirklich nicht, dass du heute…“

„Du musst dich nicht rechtfertigen“, sagte ich leise. Es war nicht großzügig gemeint. Es war ein Reflex.

Sabine schluckte, und in ihrem Blick war etwas, das ich bisher selten bei ihr gesehen hatte: nicht nur Höflichkeit, sondern Furcht. Nicht vor mir, sondern davor, wie sie gerade aussah.

Sabines Mutter räusperte sich wieder. „Wir wollten die Feiertage eben im kleinen Kreis—“

„Im kleinen Kreis“, wiederholte ich.

Ich merkte, wie das Wort in meinem Mund scharf wurde. Ich wollte es nicht. Ich wollte nicht bitter klingen.

„Der Kreis ist nur klein“, sagte ich dann, „wenn man ihn klein hält.“

Sabines Vater setzte sein Glas ab. Er wirkte plötzlich älter, als hätte ihn das alles erschöpft. „In unserer Familie war das immer anders“, murmelte er.

„In meiner auch“, sagte ich.

Dann kam Robert zurück. Er schleppte einen alten Holzstuhl hoch, den man sonst irgendwo in einer Ecke stehen hat. Staub hing daran, und an einem Bein war eine kleine Kerbe.

Er stellte ihn nicht ans Ende, nicht an die Seite.

Er stellte ihn zwischen sich und Sabine.

„Hier“, sagte er. „Hier ist Mutti.“

Die Bewegung war klein. Aber in dieser kleinen Bewegung lag eine Entscheidung.

Sabine sah den Stuhl an, als hätte er plötzlich Gewicht bekommen. Dann zog sie ihren eigenen Stuhl ein Stück zurück und machte Platz, wirklich Platz, nicht dieses „irgendwie“.

„Setz dich“, sagte sie zu mir. Ihre Stimme war leiser als sonst. „Bitte.“

Ich zog den Mantel aus, langsam. Ich setzte mich auf den Holzstuhl, der ein bisschen wackelte.

Und zum ersten Mal an diesem Abend fühlte ich nicht, dass ich irgendwo hineingeschoben wurde. Ich fühlte, dass man mich hingestellt hatte.

Robert ging in die Küche und kam mit einem Teller zurück. Er legte ihn vor mich hin wie eine Entschuldigung, die man anfassen kann.

„Wir haben noch genug“, sagte er, obwohl das nie das Problem gewesen war.

Die Kinder, Lena und Emil, rückten näher. Lena grinste plötzlich, als wäre die Welt wieder in Ordnung.

„Oma, du bist ja doch da!“ sagte sie und streckte mir ein zerknittertes Papier entgegen. „Ich hab was gemalt.“

Es war ein Baum, sehr groß, sehr schief, mit zu vielen Kerzen und einem Stern, der aussah wie eine Spinne. Darunter klebten Strichmännchen. Sieben.

Sieben.

Ich schluckte. „Das ist wunderschön“, sagte ich. „Warum sind das sieben?“

Lena zuckte die Schultern, als wäre es die einfachste Sache der Welt. „Weil du doch immer auch dazugehörst.“

Robert starrte auf das Bild, und ich sah, wie seine Augen wieder feucht wurden. Er wischte sich schnell über die Nase, als wäre er erkältet.

„Mutti“, sagte er, sehr leise, mehr zu sich als zu mir, „ich war so dumm.“

„Du warst bequem“, sagte ich.

Das Wort rutschte mir heraus, bevor ich es weich machen konnte. Bequem. Ein Wort aus meiner Generation, das schlimmer ist als böse.

Robert nickte, als hätte er genau darauf gewartet. „Ja.“

Sabine setzte sich wieder, langsam, als müsse sie lernen, wie man sitzt, wenn man sich schämt. Ihre Mutter schaute in ihren Teller, ihr Vater räusperte sich gar nicht mehr.

Es dauerte eine Weile, bis das Besteck wieder normal klang. Bis die Kerzen nicht mehr flackerten wie nervöse Augenlider. Bis der Raum wieder atmete.

„Mutti“, sagte Robert irgendwann, „hast du wirklich Kartoffelsalat gegessen?“

„Ja“, sagte ich.

„Allein?“

Ich nickte.

Er presste die Lippen zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen. Dann stand er auf, ging zur Kommode und holte etwas heraus.

Ein kleines, flaches Album. Alt. Abgewetzt.

„Sabine hat es aus der Schublade geholt“, sagte er. „Weil sie… weil sie die Plätzchen gesehen hat.“

Sabine hob den Blick, kurz. „Ich wollte nur…“ Sie brach ab. „Ich wollte verstehen.“

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