An Heiligabend stand kein Stuhl bereit bis mein Sohn um 20:30 zurückkam

Robert legte das Album vor mich. „Ich habe es jahrelang nicht aufgemacht“, sagte er. „Weil es einfacher war, Papa in einem Satz zu behalten, statt in Bildern.“

Ich legte die Hand darauf. Das Leder fühlte sich kalt an. Als wäre es nie richtig warm geworden, seit Heinz gegangen war.

„Mach auf“, sagte Robert.

Ich tat es. Die erste Seite zeigte Heinz, jung, in einer viel zu großen Jacke, lachend neben einem Baum auf dem Balkon unserer alten Plattenbauwohnung. Der Baum war klein. Der Kreis auch. Aber die Gesichter waren offen.

„Weißt du“, sagte ich, ohne aufzusehen, „dein Vater hat immer gesagt, ein Tisch ist kein Möbelstück. Er ist eine Entscheidung.“

Robert schluckte. „Und ich habe mich heute falsch entschieden.“

Ich blätterte weiter. Fotos von Robert als Kind, mit roten Wangen, mit einer viel zu großen Nikolausmütze. Heinz, der ihn hochhob. Ich, die im Hintergrund stand und die Kamera hielt, wie so oft.

„Ich habe nicht angerufen, um euch ein schlechtes Gewissen zu machen“, sagte ich leise.

Robert schüttelte den Kopf. „Ich weiß.“

„Ich habe angerufen, weil…“ Ich suchte nach dem Wort, das nicht nach Betteln klingt. „Weil ich wissen wollte, ob ich in deinem Abend vorkomme.“

Robert atmete aus. „Du solltest nicht vorkommen“, sagte er. „Du solltest dazugehören.“

Sabine hob plötzlich den Kopf. Ihre Augen waren rot, und ihre Stimme war rau. „Ich habe nicht gesehen, dass kein Stuhl da ist“, sagte sie.

„Doch“, sagte ich.

Sie erstarrte.

Ich hielt ihren Blick fest, nicht hart, aber ehrlich. „Du hast ihn gesehen. Aber du hast gedacht, es wird schon irgendwie gehen. So wie vieles irgendwie geht, wenn es nicht dich betrifft.“

Sabine schluckte. „Ja“, flüsterte sie. Dann, ein bisschen lauter: „Ja. Ich habe gedacht, du bist… stark.“

Das Wort traf mich anders als „irgendwie“. Stark. Ein Kompliment, das oft eine Ausrede ist.

„Stärke ist nicht das Gegenteil von Einsamkeit“, sagte ich.

Im Raum wurde es wieder still. Aber es war eine andere Stille, nicht die peinliche, sondern die, in der man etwas verstanden hat.

Robert setzte sich wieder. „Ab nächstem Jahr“, sagte er und sah in die Runde, als wolle er das Thema nicht mehr verhandeln, „gibt es eine Regel.“

Sabines Vater hob eine Augenbraue.

„Heiligabend“, sagte Robert, „ist bei uns. Und wenn wir Gäste haben, dann sind sie Gäste bei uns – nicht wir Gäste bei ihnen.“

Er legte die Hand auf den Tisch. „Und Mutti bekommt ihren Platz. Nicht am Rand.“

Sabines Mutter öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Dann nickte sie, ganz klein, als hätte sie begriffen, dass es manchmal klüger ist, nicht zu gewinnen.

Lena kletterte von ihrem Stuhl und kam zu mir. Sie drückte sich an meine Seite, warm und ungeduldig.

„Oma“, sagte sie, „kannst du nachher bei uns schlafen?“

Ich strich ihr übers Haar. „Mal sehen“, sagte ich.

Robert sah mich an, und in seinem Blick lag etwas, das ich lange nicht bei ihm gesehen hatte: Angst, mich wieder zu verlieren. Nicht an den Tod. An die Zeit.

„Bleib“, sagte er leise.

Ich wollte antworten, wollte ihm die Erleichterung geben, die er suchte. Doch in mir war noch etwas, das nicht so schnell zurückfindet.

„Wir reden später“, sagte ich.

Er nickte, als wäre auch das schon ein Geschenk.

Als das Essen fast vorbei war, stand Sabine auf und ging in die Küche. Ich hörte, wie sie Schubladen öffnete, als würde sie nach etwas suchen, das nicht drin liegt. Dann kam sie zurück mit einem siebten Teller.

Nicht dem guten Meissner. Ein einfacher, weißer Teller.

Sie stellte ihn hin, mitten auf den Tisch, leer.

„Für…“ Sie stockte. „Für Papa.“

Robert erstarrte. Ich auch.

Sabine sah mich an. „Ich wusste nicht, ob… ob das respektlos ist.“

Ich schüttelte den Kopf, langsam. „Es ist nicht respektlos“, sagte ich. „Es ist richtig.“

Robert sah auf den leeren Teller, und ich sah, wie sich etwas in ihm löste, das länger festgesessen hatte als nur heute Abend.

„Ich habe ihn vermisst“, flüsterte er.

„Ich auch“, sagte ich.

Und in diesem Moment, zwischen Gans, Kerzenlicht und einem wackeligen Holzstuhl, war der Tisch plötzlich größer geworden. Nicht durch Möbel, sondern durch Mut.

Später, als die Kinder im Wohnzimmer mit ihren neuen Spielsachen raschelten und Sabines Eltern leiser wurden, stand Robert mit mir am Fenster. Draußen fiel der Schnee dichter, und Dresden war nur noch eine weiche, weiße Andeutung.

„Mutti“, sagte er, „ich will dich nicht verlieren, bevor ich dich verstanden habe.“

Ich drehte mich zu ihm. Sein Gesicht war erwachsen, aber seine Augen waren die eines Jungen, der merkt, dass er etwas kaputt gemacht hat.

„Dann hör zu“, sagte ich.

„Worauf?“

Ich deutete auf den Tisch hinter uns, auf den siebten Stuhl, auf den leeren Teller für Heinz, auf Lena, die auf dem Teppich saß und ab und zu zu mir hochschaute, als müsste sie prüfen, ob ich noch da bin.

„Darauf“, sagte ich, „wie leicht es ist, jemanden zu vergessen, der nie laut ist.“

Robert nickte.

„Und darauf“, fügte ich hinzu, „wie schwer es ist, ihn wieder zu erwarten, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, dass er trotzdem kommt.“

Er schluckte. „Kannst du mir das verzeihen?“

Ich schwieg einen Moment. Verzeihen ist kein Schalter.

„Ich kann es versuchen“, sagte ich.

Robert atmete aus, als hätte ihn dieses „versuchen“ nicht enttäuscht, sondern gerettet.

Dann klingelte plötzlich sein Handy. Kurz. Ein Blick auf das Display, und sein Gesicht veränderte sich.

„Was ist?“ fragte ich.

Er hielt das Telefon fest, als wäre es heiß. „Das ist…“ Er zögerte. „Das ist Frau Müller.“

Mein Herz machte einen kleinen Sprung, nicht vor Freude.

„Warum ruft Frau Müller dich an?“ fragte ich.

Robert sah mich an, und in seinen Augen war wieder diese Unruhe. „Weil…“ Er schluckte. „Weil sie gesagt hat, du warst gar nicht bei ihr.“

Die Worte standen zwischen uns wie eine offene Tür, durch die kalte Luft zieht.

Und ich wusste plötzlich: Heute Abend ging es nicht nur um einen Stuhl.

Heute Abend ging es darum, wie lange ich schon allein gegessen hatte, ohne dass jemand es wirklich gemerkt hat.

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