Um Viertel vor zwei klingelte mein Handy. Unsere Hochzeitsplanerin, Karin.
„Anna, Liebes“, begann sie mit dieser künstlich ruhigen Stimme, die mir sofort Bauchweh machte. „Wir haben ein winziges Zeitproblem. Der Bräutigam… ist noch nicht da.“
Ich setzte mich automatisch aufrechter hin.
„Nicht da? Marc ist nie zu spät. Nie. Was ist passiert?“
„Wir wissen es noch nicht. Sein Handy geht nicht ran. Sein Vater und der Trauzeuge suchen ihn gerade. Wir verschieben die Trauung erstmal um 15 Minuten, ja?“
Ich legte auf und zwang mich, ruhig zu atmen. Marc war sicher nur nervös. Vielleicht hatte er sich im Hemd bekleckert, vielleicht stand er irgendwo an der falschen Ecke und redete sich die Aufregung weg.
Hochzeiten begannen selten pünktlich, redete ich mir ein. Alles normal.
Um zwei klingelte das Handy wieder.
„Anna…“, Karls Stimme diesmal weniger kontrolliert. „Wir müssen noch etwas verschieben. Marc ist immer noch nicht da. Und wir erreichen ihn weiterhin nicht.“
Das warme Gefühl in meiner Brust verwandelte sich in einen Knoten.
„Wie – ihr erreicht ihn nicht? Was ist mit dem Trauzeugen? Mit seinem Vater?“
„Die sind da, sie laufen das Gelände ab, haben in der Umgebung geschaut… Ich bin sicher, es findet sich gleich alles.“
Ich versuchte, Marc selbst anzurufen. Direkt die Mailbox. Noch einmal. Nichts.
Dann wählte ich Paulines Nummer. Ebenfalls nur die Mailbox.
„Wo ist eigentlich Pauline?“ fragte ich meine Cousine Lena, die nervös am Fenster stand.
„Sie wollte doch kurz die Blumen checken“, antwortete sie und sah auf die Uhr. „Das war vor zwanzig Minuten… Ich hab sie seitdem nicht mehr gesehen.“
Die Stimmen der Gäste draußen wurden lauter, ein Gemurmel, das bis ins Brautzimmer drang. Meine Eltern standen plötzlich in der Tür.
Meine Mutter hatte Tränen in den Augen, aber es waren nicht die zarten Rühr-Tränen vom Vormittag. Mein Vater hatte diesen Blick, bei dem sein Kiefer angespannt war und die Stirn hart.
„Wir klären das“, sagte er leise. „Es gibt eine Erklärung.“
Und da, mitten in all dem Lärm in meinem Kopf, setzte sich ein Gedanke fest, so klar, dass er mir selbst Angst machte:
Marc ist weg. Pauline ist weg. Beide sind nicht erreichbar.
An unserem Hochzeitstag.
„Das Hotel“, hörte ich mich sagen. Meine Stimme klang plötzlich fremd.
„Welches Hotel?“ fragte meine Mutter.
„Marc hat doch gestern im ‚Parkhotel Lindenfeld‘ übernachtet“, erinnerte ich sie. „Damit wir uns nicht sehen vor der Trauung. Vielleicht… vielleicht ist er da, krank geworden, keine Ahnung.“
„Anna“, sagte meine Mutter vorsichtig, „wir können auch jemanden hinschicken…“
„Nein“, unterbrach ich sie. „Ich fahre selbst.“
Ich stand auf, nahm mein Kleid mit beiden Händen hoch, damit ich nicht auf den Saum trat, und ging zur Tür. Mein Vater war im nächsten Moment an meiner Seite.
„Ich fahr“, sagte er knapp.
„Ich komme mit“, meldete sich Großtante Rosa aus der Ecke. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie das Zimmer betreten hatte.
„Das musst du nicht“, protestierte ich schwach.
„Doch“, erwiderte sie ruhig. „Ich hab zu viel erlebt, um dich jetzt alleine gehen zu lassen.“
Die Fahrt zum Hotel dauerte kaum fünf Minuten, fühlte sich aber wie eine Ewigkeit an. Ich sah aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen. Lindenfeld zog vorbei: die Bäckerei, in der wir unser Frühstück bestellt hatten, der Marktplatz, auf dem wir unsere Hochzeitsfotos machen wollten, der kleine Brunnen, an dem Marc mir zum ersten Mal „Ich liebe dich“ gesagt hatte.
Alles wirkte plötzlich wie eine Kulisse in einem Theaterstück, das nichts mehr mit mir zu tun hatte.
Im Foyer des Parkhotels herrschte die übliche ruhige Mittagsstimmung. Eine ältere Dame an der Rezeption sah auf, als ich in meinem Brautkleid hereinstolperte, dicht gefolgt von meinen Eltern, Felix und Großtante Rosa.
In ihren Augen lag dieser Ausdruck aus Verwirrung und einem Hauch Mitleid, den ich am liebsten nicht gesehen hätte.
„Guten Tag“, sagte ich, und wunderte mich, wie ruhig meine Stimme klang. „Ich brauche einen Ersatzschlüssel für Zimmer 305. Mein Verlobter Marc Müller ist dort eingecheckt.“
Sie prüfte kurz den Computer, dann schaute sie mich wieder an. „Ja, Herr Müller ist für gestern und heute eingetragen. Ist alles in Ordnung?“
„Das werde ich gleich sehen“, antwortete ich.
Sie schob mir die Schlüsselkarte über den Tresen. „Der Aufzug ist dort hinten, dritte Etage, ganz am Ende links.“ Ihre Stimme war weich geworden. „Alles Gute…“
Sie beendete den Satz nicht.
Wir drängten uns in den Aufzug. Ich fühlte, wie mein Herz nicht nur klopfte, sondern hämmerte, als wolle es aus meiner Brust springen.
Keiner sagte etwas. Nur das leise Summen des Aufzugs war zu hören. Als sich die Türen zur dritten Etage öffneten, kam uns der Geruch nach Teppichreiniger und abgestandener Hotel-Luft entgegen.
Der Flur war mit dunkelrotem Teppich ausgelegt, an den Wänden hingen gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos von Lindenfeld in den fünfziger Jahren. Zimmer 305 lag am Ende des Gangs.
Ich blieb vor der Tür stehen, die Schlüsselkarte in der Hand. Für einen Moment konnte ich nur mein eigenes Blut rauschen hören.
„Anna“, flüsterte meine Mutter. „Vielleicht klopfst du erst…“
Aber ich hatte bereits die Karte vor den Sensor gehalten. Ein leises Klicken. Ich drückte die Klinke herunter und schob die Tür auf.
Das Zimmer war abgedunkelt, die Vorhänge zugezogen. Es roch nach Parfüm, Alkohol und diesem undefinierbaren, warmen Geruch von zwei Körpern, die zu nah beieinander geschlafen hatten.
Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an das gedämpfte Licht zu gewöhnen.
Ich sah zuerst die Kleider: Marcs dunkelgrauer Hochzeitsanzug, achtlos über einen Stuhl geworfen. Ein fliederfarbenes Kleid, das ich kannte, weil ich die Farbe selbst ausgesucht hatte.
Paulines Kleid.
Auf dem Boden lag ein BH, daneben ein Herrenhemd, halb über die Nachtischlampe gehängt.
Und dann sah ich das Bett.
Verwühlte weiße Laken. Zwei Körper darunter, ineinander verschlungen.
Marc. Und Pauline.
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