Sie schliefen. Oder taten so. Pauline lag mit dem Rücken halb zu mir, ihr langes Haar über seine Brust gesträhnt, seine Hand fest an ihrer Taille. Sie sahen aus, als hätten sie sich nicht zufällig berührt, sondern als wären sie nebeneinander eingeschlafen, weil es sich vertraut anfühlte.
In diesem Moment wurde es unglaublich still in mir. Kein Rauschen mehr, kein Hämmern. Nur Leere.
Es war, als hätte jemand die Welt auf Pause gedrückt.
Hinter mir hörte ich meine Mutter leise aufschluchzen. Mein Vater flüsterte ein Wort, das er vor uns Kindern sonst nie benutzte. Felix stieß etwas um – den Kofferständer vielleicht und murmelte eine Entschuldigung, obwohl es dafür eigentlich niemanden gab.
Großtante Rosa machte kein Geräusch. Aber ich spürte ihren Blick in meinem Nacken.
Ich konnte mich nicht bewegen. Ich stand einfach da, in meinem weißen Kleid, und schaute auf die Trümmer dessen, was ich für mein Leben gehalten hatte.
Die leere Sektflasche auf dem Nachttisch. Zwei benutzte Gläser. Paulines Kette, achtlos auf den Boden gefallen.
Die Selbstverständlichkeit, mit der ihre Körper sich berührten.
Wie lange schon? fragte etwas in mir leise.
Wie lange betrügen sie dich schon? Wie viele Male warst du mit Pauline Kaffee trinken, während sie in deinem Leben herumspazierte, als wäre alles in Ordnung? Wie oft bist du abends neben Marc eingeschlafen, während er dir ins Gesicht lächelte und tagsüber jemand anderem denselben Blick geschenkt hat?
Ein Geräusch riss die Szene aus ihrer Starre. Ein leises Grunzen, ein Rollen. Marc bewegte sich, blinzelte, runzelte die Stirn, als würde ihn das Licht stören.
Er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, wo er war. Und dann sah er mich.
Sein Gesicht wurde in einer Sekunde blutleer.
„Anna…“, hauchte er und setzte sich ruckartig auf, wobei er Pauline mit hochzog. Sie wachte mit einem erschrockenen Laut auf, griff automatisch nach der Decke und zog sie sich bis ans Kinn.
Das Brautkleid, der Schleier, meine Familie im Türrahmen, ich sah in dem Moment, wie sich das Bild in ihren Köpfen formte: nicht irgendeine Szene, nicht ein kleiner Fehltritt am Rande, sondern das endgültige, brutale „Wir wurden erwischt“.
„Anna, ich kann das erklären“, stammelte Marc und tastete neben sich nach seinem Hemd.
„Erklären“, wiederholte ich. Meine Stimme klang ruhig, fast tonlos. „Was genau willst du erklären?“
Ich machte einen Schritt ins Zimmer. Der Teppich dämpfte meine Schritte, sodass ich das Rauschen der Klimaanlage hören konnte.
„Willst du erklären, warum du an unserem Hochzeitstag nicht im Anzug vor der Villa stehst, sondern nackt im Bett mit meiner Trauzeugin? Oder willst du erklären, warum hundert Leute im Garten warten, während du… hier bist?“
Pauline hatte jetzt Tränen in den Augen. „Anna, bitte“, flüsterte sie. „Es ist nicht so, wie du denkst.“
Ein hysterisches Lachen stieg in mir auf, ich konnte es nicht ganz unterdrücken.
„Nicht so, wie ich denke?“, wiederholte ich. „Dann hilf mir doch. Wie genau ist es? Ihr liegt im Bett. Ihr seid nackt. Meine Hochzeit ist in zwanzig Minuten. Wie oft muss ich in meinem Leben noch Eins-plus-Eins rechnen?“
Niemand antwortete. Die Sekunden dehnten sich. Ich spürte, wie meine Beine leicht zitterten, also setzte ich mich auf den Stuhl neben der Kommode. Den Stuhl, über den Marcs Anzug hing. Mein Kleid rauschte, als ich mich hinsetzte.
„Anna“, flüsterte meine Mutter hinter mir, „komm, wir gehen. Du musst das nicht…“
„Doch“, sagte ich leise, ohne den Blick von Marc und Pauline zu nehmen. „Muss ich.“
Ich sah zu meinem Vater. Er sah aus, als würde er jederzeit explodieren. Felix starrte auf den Boden, die Hände zu Fäusten geballt. Großtante Rosa war näher getreten und stand jetzt neben mir, eine Hand auf der Lehne meines Stuhls.
„Kind“, sagte sie ruhig, „steh auf. Nicht, um wegzugehen. Um zu entscheiden.“
Etwas in mir klickte an die richtige Stelle. Ich spürte plötzlich wieder mein eigenes Gewicht im Raum, nicht nur den Schock.
Ich stand auf. Langsam. Meine Knie gaben nicht nach.
„Ruft sie an“, sagte ich. Meine Stimme klang fremd entschlossen.
„Wen?“ fragte meine Mutter benommen.
„Alle“, sagte ich. „Seine Eltern. Seine Schwester. Den Trauzeugen. Karin von der Hochzeit. Meine Tanten. Alle, die sich gerade fragen, wo der Bräutigam ist.“
Marc hatte inzwischen seine Boxershorts angezogen, das Hemd halb übergestreift. „Anna, bitte“, bat er und griff nach meiner Hand. Ich zog sie weg, als hätte er sie in Feuer getaucht.
„Wir können das erklären, wir können das klären, aber nicht so, nicht mit einem Publikum…“
Ich zog mein Handy aus der kleinen Tasche, die ich umgehängt hatte.
„Ihr habt euch ein Publikum ausgesucht, als ihr an unserem Hochzeitstag beschlossen habt, zusammen ins Bett zu gehen“, sagte ich ruhig. „Jetzt sorgen wir dafür, dass die richtigen Leute es sehen.“
Ich wählte die Nummer seiner Mutter.
Sie hob beim zweiten Klingeln ab. „Anna, Schatz, wo seid ihr? Die Gäste…“
„Frau Müller“, unterbrach ich sie. „Könnten Sie bitte mit Ihrem Mann, Ihrer Tochter und dem Trauzeugen ins Parkhotel kommen? Zimmer 305.“
„Aber die Hochzeit…“
„Die findet gerade hier statt“, sagte ich. „Sie sollten dabei sein.“
Ich legte auf, bevor sie weiterfragen konnte, und wählte die nächste Nummer. Seine Schwester. Den Trauzeugen. Karin.
Ein Anruf nach dem anderen, immer dieselben, knappen Sätze.
Pauline starrte mich an, das Laken noch immer wie eine Rüstung um ihren Körper geschlungen. „Anna, was tust du da?“
Ich drehte den Kopf und sah sie lange an. Die Frau, die mit mir auf Klassenfahrten gewesen war, mit der ich meinen ersten Liebeskummer durchgeheult hatte, die neben mir gesessen hatte, als ich das Kleid ausgesucht hatte, in dem ich jetzt hier stand.
„Ich sorge dafür, dass niemand mehr sagen kann, er hätte es nicht gewusst“, antwortete ich. „Ich sorge dafür, dass das Licht angeht, damit alle sehen, was hier wirklich passiert ist.“
In diesem Moment klopfte es leise an der Tür.
Noch nicht seine Eltern, dafür ging es zu schnell. Es war der Anfang einer Welle, die ich selbst losgetreten hatte und von der ich wusste, dass sie jetzt nicht mehr aufzuhalten war.
Und ich hatte beschlossen, nicht davor wegzulaufen. Ich würde mittendurchgehen.
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