In diesem Moment klopfte es leise an der Tür.
Es war natürlich noch nicht seine Familie, dafür war es zu früh. Karin, unsere Hochzeitsplanerin, steckte vorsichtig den Kopf hinein, dicht gefolgt vom Trauzeugen und einem der Groomsmen. Man sah ihnen an, dass sie halb gerannt waren.
„Anna, wir…“ Karin blieb mitten im Satz stehen, als ihr Blick über die Szene glitt: ich im Brautkleid, meine Eltern, Marc in Unterwäsche, Pauline mit zusammengedrücktem Laken. Ihr Gesicht verlor in Sekunden die Farbe.
„Oh“, machte sie nur. Dann setzte ihr professionelles Lächeln kurz aus.
„Karin“, sagte ich ruhig, „bitte ruf unten an und sag den Müllers, dass sie hochkommen sollen. Zimmer 305. Und meine Tanten gleich mit.“
Sie nickte langsam, wie jemand, der einen neuen, völlig unerwarteten Punkt auf seiner To-do-Liste eintragen muss. „Natürlich, Anna. Ich… regel das.“
Als sie die Tür wieder schloss, herrschte für ein paar Sekunden eine seltsame Stille.
Marc strich sich fahrig durch die Haare. „Anna, das ist doch Wahnsinn“, platzte er schließlich heraus. „Müssen das wirklich alle sehen? Können wir nicht… unter uns…“
„Unter uns?“, wiederholte ich. „Ihr habt es ‚unter uns‘ ziemlich weit getrieben, findest du nicht?“
Ich merkte, wie Bitterkeit in mir hochstieg, aber meine Stimme blieb erstaunlich kontrolliert. „Jetzt machen wir es mal ‚unter allen‘. Damit ich mir später nicht anhören muss, ich hätte übertrieben.“
Pauline schluckte sichtbar. „Anna, ich schäme mich ja selbst. Aber bitte, mach es nicht noch schlimmer…“
Ich sah sie an – die Frau, mit der ich Kindergeburtstage geplant, Nächte durchgetanzt, heimlich auf Balkonen geraucht hatte. Und plötzlich war nur noch Fremdheit da.
„Schlimmer?“, fragte ich leise. „Du glaubst wirklich, es könnte noch schlimmer werden als das hier?“
Es vergingen vielleicht zwanzig Minuten, vielleicht waren es auch nur zehn. Die Zeit verlor jeden Rhythmus. Ich setzte mich wieder hin, stand wieder auf, lief ein paar Schritte, setzte mich wieder. Marc redete, verstummte, redete wieder.
„Es war ein Fehler… wir wollten dir nicht weh tun… es ist passiert… wir waren betrunken… es bedeutet nichts…“
Die Worte klebten wie billiges Pflaster auf einer offenen Wunde.
Dann klopfte es erneut. Diesmal kräftiger.
Mein Vater öffnete. Im Türrahmen standen Marcs Eltern, seine Schwester Lisa und der Trauzeuge Jonas. Hinter ihnen drängten sich noch zwei weitere Köpfe, die ich aus dem Familienkreis kannte.
„Was ist denn hier los?“ fragte Frau Müller, noch außer Atem. „Karin meinte, wir sollen sofort…“
Sie sah erst mich – im Brautkleid, die Augen rot, aber trocken. Dann Marc. Dann das Bett. Pauline.
Ihr Mund blieb halb offen stehen. „Marc“, flüsterte sie. „Was… um Himmels willen…?“
Herr Müller wurde dunkelrot im Gesicht. „Sag mir, dass das ein Missverständnis ist“, fauchte er. „Sag es sofort.“
Marc holte Luft, als wolle er sich rechtfertigen, aber es kam nichts Überzeugendes. Nur ein gepresstes: „Es war nicht so geplant…“
Die Tür ging weiter auf, weitere Verwandte und Karin drängten sich herein oder blieben im Flur stehen. Der Raum füllte sich mit diesen Lauten, die entstehen, wenn viele Menschen gleichzeitig schockiert sind: scharfe Einatmungen, geflüsterte Fragen, jemand, der „Nein…“ murmelt, als wolle er die Realität zurückschieben.
Ich hob die Hand.
„Können wir bitte einen Moment Ruhe haben?“, sagte ich laut. Zu meiner eigenen Überraschung gehorchten alle.
„Ich würde gern etwas sagen“, fuhr ich fort. „Und ich hätte gerne, dass alle gut zuhören. Ich werde es nicht wiederholen.“
Ich trat einen Schritt zur Seite, damit alle einen ungehinderten Blick auf Marc und Pauline hatten. „Das ist Marc, mein Verlobter. Und das ist Pauline, meine Trauzeugin.“
Ein bitteres Lächeln, mehr für mich selbst als für die anderen. „Eigentlich muss ich sie euch nicht vorstellen. Ihr kennt sie alle. Zumindest dachtet ihr, ihr würdet sie kennen.“
Ich erzählte in knappen Sätzen, was passiert war: die Verzögerung, die unerreichbaren Handys, der Weg ins Hotel, die geöffnete Tür.
Keiner unterbrach mich. Man hörte nur das leise Summen der Klimaanlage und gelegentliches Schlucken.
Marc setzte immer wieder an, etwas einzuwenden, aber mein Vater legte ihm einmal so eine Hand auf die Schulter, dass er es wieder ließ.
Als ich fertig war, herrschte für einen Moment absolute Stille. Dann fing Frau Müller an zu weinen.
„Marc“, hauchte sie, „an eurem Hochzeitstag? Mit… Pauline? In diesem Bett, statt vor dem Altar?“
Lisa starrte ihren Bruder an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. „Das ist nicht dein Ernst“, sagte sie leise. „Das ist einfach nicht dein Ernst.“
„Es war ein Fehler“, sagte Marc tonlos. „Ein dummer Fehler. Wir waren gestern hier, haben was getrunken, alte Zeiten… Es ist einfach passiert, Anna. Es hätte nicht passieren dürfen, aber es bedeutet nichts. Ich liebe dich. Nur dich.“
„Ein Fehler“, wiederholte ich. „Einer? Wirklich?“
Ich war inzwischen zur Kommode gegangen, auf der Paulines Handtasche lag. Sie war nicht ganz geschlossen. Vielleicht war es der Zufall, vielleicht etwas anderes, aber mein Blick fiel auf eine bekannte Karte, die halb herausragte.
Ein Hotelschlüssel.
Nicht vom Parkhotel. Ein anderes Logo. Ein anderes Zimmer.
Ich nahm sie in die Hand, drehte sie zwischen den Fingern. Auf der Vorderseite stand der Name eines größeren Business-Hotels in der Stadt, auf der Rückseite: Zimmer 412.
„Interessant“, sagte ich ruhig. „Pauline, seit wann übernachtest du im ‚City-Hotel‘?“
Sie wurde kalkweiß. „Das ist… alt“, stammelte sie. „Das ist von irgendeinem Mädelsabend, ich hab vergessen, die Karte wegzuwerfen…“
„Komisch“, sagte ich und zog, fast schon mechanisch, einen zweiten Schlüssel aus der Tasche. Noch ein Hotel. Noch ein Zimmer. Diesmal eine Nummer, die ich kannte.
„Marc, war das nicht das Hotel, in dem du warst, als du meintest, du hättest eine zweitägige Schulung?“, fragte ich freundlich. „Wie praktisch, dass Paulines Schlüsselkarte denselben Namen trägt.“
Man konnte sehen, wie mehrere Leute im Raum innerlich eins und eins zusammenzählten. Es klickte, nicht nur in meinem Kopf.
„Wie lange?“, fragte ich, und diesmal brach meine Stimme fast. „Wie lange macht ihr das schon hinter meinem Rücken?“
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