Sie schwiegen. Aber sie mussten gar nichts sagen. Es stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
„Monate“, antwortete ich mir schließlich selbst. „Vielleicht länger. Während ich Einladungen geschrieben habe, während ich mir Sorgen gemacht habe, ob die Blumen rechtzeitig geliefert werden, während ich nachts wach lag und überlegt habe, ob ich die richtige Serviettenfarbe ausgesucht habe.“
Ich sah nacheinander in die Gesichter um mich herum. In die meiner Eltern, die aussahen, als hätten sie mir gern einen Teil des Schmerzes abgenommen. In das von Frau Müller, die ihre Hand vor den Mund geschlagen hatte. In das von Lisa, deren Blick von ihrem Bruder zu Pauline und wieder zurück sprang, wie in einem schlechten Film.
Und dann spürte ich wieder diese Klarheit.
„Gut“, sagte ich. „Dann machen wir Folgendes.“
Alle schauten mich an.
„Es wird heute keine Hochzeit geben“, fuhr ich fort. „Das ist wahrscheinlich jedem inzwischen klar. Aber da draußen stehen knapp hundert Leute im Garten einer Villa, die sich fragen, warum die Braut nicht am Altar auftaucht.“
Ich atmete tief durch. „Die werden eine Antwort bekommen. Von mir. Nicht als Gerücht, nicht als Flüstern. Direkt.“
„Anna, denk doch an deinen Ruf“, warf Frau Müller verzweifelt ein. „An die Leute im Ort, was sie sagen werden…“
Ich lachte kurz, ohne Humor. „Mein Ruf?“, fragte ich. „Ich stehe im Brautkleid vor dem Bett, in dem mein Verlobter mit meiner besten Freundin liegt. Da ist mein Ruf das Letzte, worum ich mir Sorgen mache.“
Ich sah zu Marc. „Aber du solltest dir Gedanken machen. Und du auch“, fügte ich an Pauline gewandt hinzu.
Großtante Rosa trat einen Schritt nach vorne. Ihre Stimme war leise, aber sie schnitt durch die Luft wie ein Messer. „Das Mädchen hat Recht“, sagte sie. „Wenn man schon im Dreck liegt, soll wenigstens das Licht an sein.“
Ein paar der Anwesenden, die sie kannten, nickten unwillkürlich.
„Wir fahren jetzt alle zurück zur Villa“, erklärte ich. „Zur Trauwiese. Zu den Stühlen. Zu der Deko, für die wir alle so viel Geld und Nerven gelassen haben.“
Ich spürte, wie meine Stimme fester wurde. „Und dort werde ich ein Mikrofon nehmen und allen erklären, warum es keine Hochzeit geben wird.“
„Anna, das kannst du doch nicht machen“, zischte Marc. „Das… das ruiniert alles!“
Ich sah ihn an und zum ersten Mal seit vier Jahren hatte ich das Gefühl, ich sehe ihn wirklich. Ohne rosa Brille, ohne Wunschdenken.
„Alles ist schon ruiniert, Marc“, sagte ich ruhig. „Die Frage ist nur, ob ich jetzt so tue, als wäre es ein kleiner Riss in der Tapete, oder ob ich ehrlich bin und sage: Die Wand ist eingestürzt.“
Ich drehte mich um. „Zieht euch an“, sagte ich knapp. „Ihr kommt mit. Ihr habt das hier verursacht, dann steht ihr auch daneben, wenn ich es benenne.“
Pauline schüttelte den Kopf, Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Das schaffe ich nicht“, flüsterte sie. „Ich kann da nicht vor all den Leuten stehen…“
„Hättest du früher dran denken müssen“, antwortete ich. „Zum Beispiel gestern Abend.“
Der Weg zurück zur Villa war wie eine zweite Prozedur, die man über sich ergehen lässt, obwohl die erste schon schlimm genug war.
Ich saß auf dem Rücksitz bei meinem Vater, meine Mutter neben mir. Großtante Rosa auf dem Beifahrersitz. Hinter uns eine kleine Kolonne aus Autos: die Müllers, Karin, einige Verwandte.
„Bist du sicher, dass du das willst?“, fragte mein Vater irgendwann in den Rückspiegel hinein.
„Ja“, sagte ich. Und merkte erst beim Aussprechen, dass es stimmte. „Ich bin sicher.“
Als wir auf den Parkplatz der Villa einbogen, sah ich die Gäste im Garten stehen. Kleine Grüppchen unter den Bäumen, Menschen, die auf ihre Uhren schauten, andere, die schon die ersten Witze über „typische Verspätung bei Hochzeiten“ machten.
Als sie mich im Kleid aus dem Auto steigen sahen, wandten sich viele erleichtert zu uns. Die Erleichterung hielt genau so lange, bis sie meine Miene sahen.
Karin kam uns entgegengerannt. „Anna, Gott sei Dank, du bist wieder da. Wir können gleich anfangen, die Musiker…“
„Karin“, unterbrach ich sie, „bitte sag allen, sie sollen sich setzen. Für eine Durchsage. Keiner soll gehen, bevor ich gesprochen habe.“
Sie suchte meinen Blick, sah darin anscheinend genug Entschlossenheit und nickte dann. „Natürlich.“
Es dauerte vielleicht fünf Minuten, bis alle auf ihren Plätzen waren. Ich stand am Eingang zum Garten, die Sonne brannte warm auf mein Kleid, aber ich fror innerlich.
Neben dem Rosenbogen stand ein kleines Podest für den Standesbeamten, daneben ein Mikrofon. Dort sollte ich eigentlich stehen und „Ja“ sagen.
Stattdessen ging ich jetzt mit langsamen, bewussten Schritten den Mittelgang entlang. Kein Brautstrauß, kein Lächeln, kein strahlender Bräutigam am Ende. Nur ich.
Ich hörte das Flüstern, als ich zwischen den Stuhlreihen hindurchging. „Was ist los?“ – „Sieht sie nicht irgendwie…“ – „Vielleicht ist jemand krank geworden…“
Vorne angekommen, drehte ich mich um, hob das Mikrofon und wartete, bis das Murmeln abebbte. Es funktionierte erstaunlich schnell: Ein Brautkleid auf einem Podest hat Macht, selbst wenn kein Bräutigam daneben steht.
„Danke, dass Sie alle da sind“, begann ich. Meine Stimme hallte leicht aus den Lautsprechern, klarer als ich mich fühlte. „Sie haben sich frei genommen, sind teilweise weit gefahren, haben sich schick gemacht, um mit uns zu feiern. Sie haben eine Erklärung verdient, warum Sie immer noch hier sitzen und keine Hochzeit begonnen hat.“
Ich atmete einmal tief durch. Dann sagte ich den Satz, vor dem ich den ganzen Weg hierher Angst gehabt hatte und der sich jetzt wie eine Befreiung anfühlte:
„Es wird heute keine Trauung geben. Nicht, weil jemand kalte Füße bekommen hat oder weil es einen Notfall gibt. Sondern weil ich heute Mittag im Hotelzimmer meinen Verlobten Marc im Bett mit meiner Trauzeugin Pauline erwischt habe.“
Es war, als hätte jemand einen Stein in einen stillen See geworfen. Wellen aus „Was?!“, „Nein!“, „Das ist nicht dein Ernst!“ gingen durch die Reihen. Manche schlugen sich die Hände vor den Mund, andere drehten sich instinktiv um, um Marc und Pauline zu suchen.
Sie standen etwas abseits, halb hinter einer Baumgruppe, aber sichtbar. Marc im Anzug, aber ohne Krawatte, Pauline im fliederfarbenen Kleid, das sie sich viel zu schnell wieder angezogen hatte.
Dutzende Blicke schossen zu ihnen hinüber. Es war nicht einmal feindselig – eher dieses entsetzte, fassungslose Starren, das Menschen nicht abstellen können.
Ich wartete, bis das Murmeln etwas leiser wurde.
„Ich habe sie nicht nur heute erwischt“, fuhr ich fort. „Heute war nur der Tag, an dem sie so unvorsichtig waren, dass sie nicht einmal ihr Handy einschalten konnten, während hundert Menschen warteten.“
Ich hielt die beiden Schlüssel hoch, die ich Paulines Tasche entnommen hatte. „Diese kleinen Souvenirs hier, aus zwei anderen Hotels, erzählen eine längere Geschichte.“
Ein älterer Onkel aus Marcs Familie stand auf. „Marc, stimmt das?“, rief er laut. „Junge, sag, dass das ein Missverständnis ist.“
Marc öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Er sah kurz zu Pauline, dann zu mir. „Anna übertreibt“, brachte er schließlich hervor. „Es war… kompliziert. Wir wollten dir nichts Böses. Ich liebe sie nicht, es war nur…“
„Ein Fehler“, ergänzte ich. „Ja, das hast du im Hotel auch schon gesagt. Mehrmals.“
Ich sah wieder in die Runde. „Ich erzähle Ihnen das nicht, damit Sie mich bemitleiden. Mitleid brauche ich nicht. Ich erzähle es, weil ich keine Lust habe, dass in drei Wochen im Ort eine Version kursiert, in der ich die hysterische Braut bin, die ‚einfach so‘ alles abgeblasen hat.“
Ein leises Lachen ging durch die Reihen – nicht, weil es lustig war, sondern weil sie merkten, dass ich es ernst meinte und trotzdem nicht zusammenbrach.
„Ich habe heute etwas gelernt“, sagte ich. „Nämlich, dass es viel schlimmer ist, sein Leben mit jemandem zu verbringen, der einen belügt, als einmal durch diese Hölle hier zu gehen.“
Ich sah zu Marc hinüber. „Wenn du Pauline liebst, hättest du es mir sagen müssen. Du hättest die Hochzeit abblasen, dich entschuldigen und mir die Chance geben können, mit halbwegs erhobenem Kopf zu gehen.“
„Stattdessen hast du mich im Brautkleid vor einem leeren Platz warten lassen, während du… andere Dinge getan hast.“
Ich wandte mich an Pauline. Sie weinte inzwischen hemmungslos. „Und du“, fuhr ich fort, „hast mit mir Sitzordnungen geplant, während du gleichzeitig Plätze in fremden Hotelbetten reserviert hast.“
Ein Raunen ging durch die Gäste.
„Sagt man in Lindenfeld nicht, wahre Freunde freuen sich, wenn man glücklich ist?“, fragte ich. „Du hast mir immer wieder gesagt: ‚Du verdienst das alles, Anna.‘ Und im Hintergrund sorgfältig dafür gesorgt, dass ich es nicht bekomme.“
Ich spürte, wie sich meine Hände um das Mikrofon krampften. Dann ließ ich es bewusst etwas lockerer.
„Aber wissen Sie was?“, sagte ich und hörte, wie meine Stimme plötzlich fester wurde. „Ich glaube inzwischen, dass ich heute Glück gehabt habe. So absurd das klingt.“
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