Zwei Jahre später saß ich in einem Büro im Kreisbildungszentrum, auf dem Schreibtisch ein Stapel Unterlagen, daneben eine Tasse Kaffee und ein Foto, das meine Kita-Kinder mir vor meinem Abschied gemalt hatten: „Danke, Frau Köhler!“ in krakeligen Buchstaben.
Ich war inzwischen tatsächlich Fachberaterin für frühkindliche Bildung im Kreis geworden. Ich hielt Fortbildungen, entwickelte Konzepte, fuhr durch die Dörfer und sprach mit Teams darüber, wie man Kinder stark macht, anstatt sie nur zu beschäftigen.
Eine Fachzeitschrift hatte neulich einen Artikel über unsere Arbeit gebracht. Nicht mit meinem Gesicht auf dem Titelblatt, aber mit meinem Namen in der zweiten Spalte.
Früher hätte ich das abgeheftet und kaum jemandem gezeigt. Dieses Mal schickte ich ein Foto davon an meine Eltern und an Großtante Rosa. Ihre Antwort: „Hab ich doch gesagt. Und, ist der Kaffee im Büro wenigstens trinkbar?“
Abends fuhr ich meistens nach Hause in die Wohnung, in der inzwischen zwei Zahnbürsten im Bad standen und zwei Paar Hausschuhe im Flur. David und ich waren zusammengezogen, nachdem wir uns sehr bewusst gefragt hatten, ob wir unser Leben teilen oder nur unsere Miete halbieren wollten.
Wir hatten uns für Ersteres entschieden.
Es war kein Märchen. Wir stritten über Mülltrennung, darüber, wer die letzte Milch im Kühlschrank leergetrunken hatte, und darüber, dass ich gern alles durchplanen wollte, während David manchmal lieber spontan war.
Aber wir stritten ehrlich. Und wir vertrugen uns ehrlich. Ohne Spielchen, ohne Drohungen, ohne dieses Gefühl, man müsse perfekt sein, um geliebt zu werden.
Von Marc und Pauline hatte ich seit dem Telefonat nichts mehr gehört. Ich wusste nur aus Erzählungen, dass er die Stadt verlassen hatte. Wohin, war mir egal.
Früher hätte ich mich gefragt, ob er manchmal an mich denkt. Ob er bereut, was passiert ist.
Jetzt merkte ich, dass diese Fragen ihren Reiz verloren hatten. Sie waren wie alte Kleidungsstücke, die man irgendwann in einem Karton auf dem Dachboden findet und sich wundert, wie man das jemals tragen konnte.
Ich dachte öfter an die Frauen im Frauenhaus. An die Kinder dort, die aufblühten, wenn man ihnen einmal am Tag sagte: „Du bist toll, so wie du bist.“
Ich dachte an meine ehemaligen Kita-Kinder, die mir manchmal noch Postkarten malten. „Liebe Frau Köhler, ich bin jetzt in der zweiten Klasse und kann schon richtig schnell lesen.“
Und ich dachte an mich selbst – an die Frau im Brautkleid, die in einem Hotelzimmer stand und zusehen musste, wie ihre Illusionen in sich zusammenfielen.
Wenn ich heute an sie dachte, hatte ich keinen Impuls mehr, sie zu bemitleiden. Ich war stolz auf sie.
Nicht, weil ihr das nicht wehgetan hätte. Sondern weil sie nicht dort stehen geblieben war.
Manchmal fragen Leute noch, wenn sie meine Geschichte irgendwann hören: „Bereust du es? Dass du damals nicht versucht hast, Marc zu verzeihen, die Hochzeit zu verschieben, zu retten, was zu retten ist?“
Dann lächle ich und sage: „Ich kann nichts bereuen, was mich zu mir selbst geführt hat.“
Der Tag, den ich damals für den schlimmsten meines Lebens gehalten habe, war der Anfang von allem, was heute gut ist.
Er hat mir beigebracht, dass ich nicht sterbe, wenn jemand mich nicht auswählt. Dass ich nicht wertlos bin, nur weil jemand anders lügt.
Er hat mir beigebracht, dass der wichtigste Mensch, von dem ich ein „Ja“ brauche, ich selbst bin.
Die beste Rache war nie, dass Marc und Pauline scheitern. Ob sie glücklich sind oder nicht, ist nicht mehr meine Geschichte.
Die beste Rache war, dass ich aufgehört habe, ein Leben zu führen, das anderen gefällt und angefangen habe, eines zu bauen, auf das ich selbst stolz bin.
Ein Leben, in dem ich morgens aufwache, meinen Kaffee trinke, zu einer Arbeit fahre, die mich erfüllt, und abends neben einem Menschen einschlafe, bei dem ich nichts vorspielen muss.
Ein Leben, in dem ich weiß, dass ich auch allein stark genug wäre, aber gerne nicht mehr allein bin.
Manchmal, wenn ich im Spiegel mein eigenes Spiegelbild sehe, hebe ich im Stillen ein unsichtbares Glas.
„Auf dich, Anna“, denke ich dann. „Dafür, dass du dich an dem Tag gewählt hast, an dem alle dachten, du wärst verloren.“
Und jedes Mal, wenn ich Frauen begegne, die noch an dem Punkt stehen, an dem ich damals stand – zitternd, überzeugt, dass ihr Leben jetzt vorbei ist –, sage ich ihnen:
„Nein. Es fängt vielleicht gerade erst an.“






