Barfüßiges Mädchen, schmutziger Schlafanzug, Dose Kleingeld: Was ein Motorradfahrer an einer Raststätte mitten in der Nacht wirklich erlebte

Ein achtjähriges Mädchen bat mich, ihrem halb verhungerten Babybruder Nahrung zu kaufen.
In einer kalten Nacht an einer deutschen Autobahnraststätte. Barfuß. Mit einer Brotzeitdose voller Kleingeld in der Hand.


Es war kurz nach Mitternacht an einem Autohof irgendwo zwischen Kassel und Hannover.
Ich war mit meiner Maschine seit Stunden unterwegs, fast 400 Kilometer, die Knochen taten weh, mein Rücken brannte. Ich wollte nur noch tanken, einen Kaffee trinken und heim.

Da stand sie plötzlich neben meinem Motorrad.

Barfuß auf dem kalten Beton, in einem viel zu dünnen, schmutzigen Schlafanzug mit verblasstem Prinzessinnenmotiv. Die Haare wild verknotet, das Gesicht voller Dreck – nur dort, wo Tränen gelaufen waren, sah man helle Streifen auf der Haut. In ihren Händen hielt sie eine durchsichtige Plastikdose, randvoll mit kleinen Münzen, die bei jeder Bewegung leise klirrten.

„Entschuldigung, Herr…“, flüsterte sie, kaum hörbar. „Können Sie mir Babynahrung kaufen?“

Sie sah nicht älter als sieben oder acht aus.
Neben uns stand ein schicker Kombi, ein gut gekleidetes Paar tankte, warf uns einen kurzen Blick zu – und drehte sich weg.

Das Mädchen stand vor MIR. Vor dem tätowierten Typen in Lederjacke, mit grauem Bart und Narben im Gesicht. Dem, vor dem ältere Leute oft instinktiv einen Schritt zur Seite machen.

„Wie heißt du?“, fragte ich leise.

Ihre Finger krampften sich um die Dose. „Lisa“, antwortete sie. „Bitte… mein kleiner Bruder hat seit gestern nichts mehr richtig getrunken. Die im Laden verkaufen nichts an Kinder. Aber Sie… Sie sehen aus, als würden Sie verstehen.“

Sie warf einen schnellen Blick zu einem alten, verbeulten Transporter, der ein Stück weiter im Schatten stand. Die Gardinen an den Fenstern waren zugezogen, innen war kein Licht.

Ich folgte ihrem Blick, sah dann auf ihre nackten Füße, die vor Kälte leicht bläulich wirkten, und schließlich zum Verkaufsraum der Tankstelle, wo der junge Kassierer uns misstrauisch beobachtete.
In meinem Bauch zog sich etwas zusammen. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

Ich ging in die Hocke, mein rechtes Knie protestierte laut, wie immer seit meinem Bundeswehr-Einsatz vor vielen Jahren.

„Wo sind deine Eltern, Lisa?“, fragte ich so sanft, wie ich konnte.

Ihre Augen flackerten wieder zu dem Transporter. „Die schlafen“, murmelte sie. „Sie schlafen schon lange. Seit… seit drei Tagen sind sie so müde.“

Drei Tage.
Der Satz traf mich wie ein Schlag.

Ich kannte diese Art „Müdigkeit“. Aus einer Zeit, als ich selbst auf dem besten Weg war, mich mit Hilfe von Substanzen aus der Welt zu schießen – bevor ich vor fünfzehn Jahren endlich clean wurde.

„Und dein kleiner Bruder?“, fragte ich.

„Ben“, sagte sie. „Er ist ein Baby. Er schreit und schreit. Ich hab’ ihm Wasser gegeben und das letzte bisschen Brot, aber er wird immer schwächer.“ Ihre Stimme brach. „Bitte, kaufen Sie die Milch. Ich hab’ Geld, wirklich.“ Sie hielt mir die Dose mit den Münzen entgegen, als wäre es ein Schatz.

Ich nahm die Dose nicht.
Ich stand langsam auf, Entscheidung getroffen.

„Lisa“, sagte ich ruhig, „ich kaufe die Babynahrung. Und noch mehr. Du bleibst so lange hier bei meinem Motorrad, ja? Hier bist du im Licht, hier sehe ich dich.“

Sie nickte heftig, Tränen liefen erneut.

„Und behalt dein Geld“, fügte ich hinzu. „Das hast du dir hart zusammengespart, das sieht man.“


Im Laden griff ich nach Babynahrung, Fläschchen, Wasser, etwas Obst, belegten Brötchen, Riegeln – alles, was sofort essbar war.

Der Kassierer, ein schmaler Junge mit Akne und müden Augen, beobachtete mich nervös.

„Die Kleine“, sagte ich leise, „war die schon öfter hier?“

Er schluckte. „Die letzten drei Nächte“, antwortete er. „Immer mit anderen Erwachsenen. Mal der eine, mal die andere. Immer wegen Babynahrung. Gestern wollte sie selbst bezahlen, aber ich…“

„…hast es ihr nicht verkauft?“ Meine Stimme wurde ungewollt härter.

„Wir dürfen nicht“, stammelte er. „Regeln. Und ich hab’ das Jugendamt angerufen. Die fragten nach einer Adresse, einem Kennzeichen, irgendwas. Aber der Transporter… die fahren immer schnell wieder weg. Ohne feste Adresse können die auch nichts machen, haben sie gesagt.“

Ich legte mehr als genug Geld auf den Tresen. „Du hast wenigstens versucht, jemanden zu erreichen“, sagte ich knapp. „Jetzt machen wir weiter.“

Als ich wieder nach draußen kam, stand Lisa immer noch neben meiner Maschine. Ihre Schultern hingen, sie schwankte leicht, als wäre sie jeden Moment kurz davor umzufallen.

„Wann hast du das letzte Mal richtig gegessen?“, fragte ich.

Sie überlegte lange. „Vielleicht Montag“, flüsterte sie. „Oder Dienstag. Ich habe Ben den Rest gegeben, den wir noch hatten. Zwieback und ein bisschen Banane. Er ist ja noch so klein.“

Es war inzwischen in der Nacht zu Freitag.

Ich drückte ihr eine der Tüten in die Hand, nahm den Rest selbst und sagte: „Lisa, wo ist Ben?“

Wieder dieser Blick zum Transporter, innerer Kampf in ihren Augen. „Ich soll Fremden nichts sagen“, flüsterte sie.

Ich atmete tief durch. „Hör zu“, sagte ich und zeigte auf die Aufnäher an meiner Lederweste. „Ich bin Ralf. Die meisten nennen mich Bär. Ich fahre Motorrad und bin Mitglied bei den ‚Straßenwächtern‘.“ Ich deutete auf den gestickten Schriftzug: „Wir schützen die Schwachen.“

„Wir sind ein Motorradverein, der Kinder und Familien unterstützt, wenn es niemand sonst tut. Das ist unser Versprechen. Ich glaube, du und Ben braucht jetzt Hilfe.“

Da brach etwas in ihr. Sie begann zu weinen, nicht mehr leise, sondern mit dieser Art Schluchzen, die aus dem Bauch kommt und den ganzen Körper schüttelt.

„Sie wachen nicht mehr auf“, presste sie hervor. „Ich hab’ sie geschüttelt, gerufen, Wasser ins Gesicht gemacht. Nichts. Und Ben schreit und wird immer stiller. Ich hab’ solche Angst.“

Meine schlimmste Vermutung war bestätigt.

Ich griff nach meinem Handy. „Ich rufe Freunde an. Und den Notruf. Wir machen das jetzt richtig, ja? Du bist nicht mehr allein.“

Ich wählte zuerst Andi, unseren Vorsitzenden.

„Bär?“, meldete er sich verschlafen.

„Andi, ich bin an der Raststätte Nordtal, Ausfahrt 57. Bring bitte unseren Bus und Doc mit. Sofort. Es geht um Kinder. Und vermutlich um eine Überdosis.“

„Bin unterwegs“, sagte er ohne weitere Fragen. Man hörte im Hintergrund schon Bewegung.

Dann wählte ich die 112, meldete eine medizinische Notlage mit zwei bewusstlosen Erwachsenen und zwei Kindern, eines davon ein Baby. Während ich sprach, sah ich Lisa an.

„Lisa“, sagte ich nach dem Telefonat, „wir gehen jetzt zu Ben. Meine Freunde und der Rettungsdienst kommen gleich. Ist das okay für dich?“

Sie wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht und nickte. „Ben braucht Hilfe“, sagte sie nur.


Der Transporter stand schief auf dem Parkplatz, als hätte ihn jemand hastig abgestellt. Die Luft darin war abgestanden und kalt. Als ich die Schiebetür öffnete, schlug mir ein Geruch entgegen, der nach zu vielen Nächten ohne Lüften roch: alte Lebensmittel, nasse Kleidung, Urin, Angst.

Auf einer Matratze, umgeben von zerknüllten Decken und Plastiktüten, lag ein Baby, vielleicht ein halbes Jahr alt. Das Gesicht blass, die Augen halb geöffnet, das Weinen mehr ein heiseres Wimmern. Die Windel war übervoll, der kleine Körper fühlte sich viel zu leicht an, als ich ihn vorsichtig hochhob.

Vorne auf den Sitzen lagen zwei Erwachsene – eine Frau Mitte dreißig und ein Mann, vielleicht Anfang vierzig. Beide bewusstlos, flache, unregelmäßige Atmung, der Mund trocken. Überall leere Verpackungen, Medikamentenblister, ein zerknüllter Löffel, aber ich will hier keine Details nennen, die niemand lesen muss.

„Sind das deine Eltern?“, fragte ich leise.

Lisa schüttelte den Kopf. „Sie ist meine Tante“, sagte sie. „Tante Anja. Mama ist letztes Jahr gestorben. Krebs. Tante Anja hat gesagt, wir können bei ihr und ihrem Freund wohnen. Am Anfang war es okay. Dann haben sie mit diesem Zeug angefangen, das sie müde macht. Immer müder.“

Sie sah auf den Mann. „Er heißt Ronny. Wenn er gut drauf ist, ist er nett. Wenn nicht…“ Sie brach ab. „Er sagt, ich soll leise sein, wenn sie schlafen.“

In der Ferne hörte man Sirenen. Gleichzeitig dröhnte ein vertrautes Motorengeräusch auf den Parkplatz – Andis Maschine, dicht gefolgt von einer zweiten und unserem Vereinsbus.

Doc, unser „Sanitäter“, früher einmal bei der Bundeswehr im Sanitätsdienst, sprang aus dem Bus, sah Baby und Erwachsene, und übernahm ohne ein Wort. Er legte Ben auf eine mitgebrachte Decke, begann die Atmung zu überprüfen, Puls zu messen, kleinen Zugang zu legen, während er gleichzeitig beruhigend auf Lisa einsprach.

„Er ist sehr ausgetrocknet“, murmelte Doc. „Aber er ist zäh, der Kleine. Wenn wir schnell sind, schafft er das.“

Die Rettungswagen kamen, Blaulicht spiegelte sich im nassen Asphalt der Nacht. Polizei, Notarzt, später eine Mitarbeiterin vom Jugendamt – plötzlich war der Platz voller Menschen, Stimmen, Anweisungen.

Lisa klammerte sich an meine Weste, als würde sie untergehen, wenn sie losließe.

„Sie nehmen Ben mit“, schluchzte sie. „Und mich vielleicht irgendwo anders hin. Ich hab’ doch versucht, mich zu kümmern. Es tut mir leid, ich hab’ alles versucht…“

Ich ging wieder in die Hocke, obwohl mein Knie protestierte. „Lisa“, sagte ich fest, „du musst dir nichts vorwerfen. Du hast das Richtige getan. Du hast dir Hilfe geholt. Du hast deinem Bruder das Leben gerettet. Mit acht Jahren. Verstehst du das?“

Eine Frau in dicker Winterjacke kam auf uns zu. „Guten Abend, ich bin vom Jugendamt“, stellte sie sich vor. „Wir müssen die Kinder in Obhut nehmen. Erst einmal getrennt von den Erwachsenen, damit sie sicher sind.“

„Die beiden bleiben zusammen“, sagte ich ruhig, aber so, dass jeder jedes Wort verstehen konnte. „Lisa und Ben. Sie hat sich um ihn gekümmert. Sie sind Geschwister. Die trennt keiner, wenn ich daneben stehe.“

„Das ist nicht immer so einfach“, erklärte sie. „Es kommt auf verfügbare Plätze, Pflegefamilien, Heimkapazitäten…“

Andi trat neben mich. Er ist ein großer Kerl, breite Schultern, graue Haare zum Zopf gebunden, sein Leder mit alten Aufnähern, von denen man sieht, dass sie Geschichten erzählen. Aber in seiner Stimme lag Ruhe, kein Drohen.

„Frau…?“, fragte er.

Sie nannte ihren Namen.

„Wir respektieren Ihre Arbeit“, sagte Andi. „Aber wir haben etwas vorbereitet, auch wenn wir es heute Nacht nicht ahnen konnten. In unserem Verein gibt es ein Ehepaar, das als Pflegeeltern zugelassen ist. Jörg und Maria König. Sie haben bereits Kinder aufgenommen, wissen, was auf sie zukommt. Jörg war früher beim Rettungsdienst, Maria ist Kinderkrankenschwester. Sie haben uns schon zugesagt, im Notfall kurzfristig zwei Kinder aufzunehmen – zusammen.“

Die Jugendamtsmitarbeiterin seufzte. Man sah ihr an, dass sie seit Jahren in diesem System kämpfte.

„Wenn das tatsächlich so ist“, sagte sie schließlich, „dann wäre das vielleicht die beste Lösung für heute Nacht. Wir müssen natürlich trotzdem prüfen, aber für die erste Inobhutnahme…“

„Jörg und Maria sind schon unterwegs“, warf Doc ein, ohne den Blick vom Baby zu lösen. „Ich hab’ sie nach dir angerufen, Bär.“

Während Ben vorsichtig in den Rettungswagen getragen wurde, wurden die Tante und ihr Freund medizinisch versorgt. Die Polizei stellte Fragen, sicherte Spuren. Irgendwann wurden beide in unterschiedliche Krankenhäuser gebracht – nicht mehr bewusstlos, aber weit davon entfernt, Verantwortung für zwei Kinder übernehmen zu können.

Die Tante sah Lisa und fing an zu weinen, zu rufen, zu betteln.
Lisa drückte ihr Gesicht an meine Weste. Ich legte ihr eine Hand auf den Kopf.

„Du bist hier bei uns“, sagte ich. „Du bist jetzt sicher.“


Es dauerte fast drei Stunden, bis alles geregelt war.
Formulare, Gespräche, Unterschriften. Jörg und Maria kamen an, müde, aber mit wachem Blick und einer Wärme, die den ganzen Parkplatz ein wenig heller machte.

Maria kniete sich zu Lisa herunter, legte ihr sanft eine Decke um die Schultern. „Hallo, Lisa“, sagte sie. „Ich bin Maria. Das hier ist Jörg. Wir haben zu Hause ein warmes Bett, frische Sachen und Kakao. Und wir passen gut auf Ben auf. Möchtest du heute Nacht bei uns schlafen?“

Lisa sah erst sie an, dann mich. „Kommen Sie morgen auch?“, fragte sie mich.

Ich sah Jörg und Maria an. Beide nickten ohne zu zögern.

„Wenn du möchtest“, sagte ich, „komme ich. Und Andi. Und vielleicht noch ein paar andere von unserem Verein. Wir lassen euch nicht allein.“

Sie atmete hörbar aus, als hätte sie die Luft lange angehalten. „Dann… dann gehe ich mit“, flüsterte sie. „Aber nur, wenn Ben auch dort ist.“

„Natürlich“, sagte Jörg und nahm die Babyschale, in die Ben inzwischen gelegt worden war. „Ihr gehört zusammen.“

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