Beim ersten Geburtstag meines Neffen behauptete meine Schwester: Er ist mein Erbe und mein Albtraum

Nach der Beerdigung meines Mannes ging ich zum ersten Geburtstag des Sohnes meiner Schwester. Vor allen Gästen sagte sie: „Mein Sohn ist das Kind deines Mannes. Also nehme ich als Erbe die Hälfte eures Hauses, es ist fast 800.000 Euro wert.“

Dann hielt sie ein „Testament“ hoch.

Ich sagte nur: „Ach so.“ Und biss mir so fest auf die Lippe, dass ich fast lachen musste.

Mein Name ist Brigitte. Ich war fünfunddreißig, als ich Witwe wurde – ein Wort, das ich früher nur mit alten Frauen in Schwarz verband.

Vor drei Monaten ist mein Mann Andreas gestorben. Plötzlich. Ohne Vorwarnung. Ein Aneurysma im Kopf, sagten sie später, und dass man nichts hätte tun können. „Nichts“ ist ein hartes Wort, wenn man es sein ganzes Leben lang nicht akzeptieren will.

In den Tagen nach der Beerdigung fühlte ich mich wie ein Mensch, der aus dem Meer gezogen wurde: lebendig, ja – aber voller Salz, voller Kälte, voller Schock. Ich schlief kaum. Nachts lag ich auf Andreas’ Seite unseres Bettes und starrte in die Dunkelheit, als würde ich dort irgendeine Tür finden, durch die er zurückkommt.

Und trotzdem stand ich eine Woche nach der Beerdigung vor dem Haus meiner Schwester Carina, mit einem eingepackten Geschenk auf dem Beifahrersitz.

Erster Geburtstag von ihrem Sohn Lukas. Eigentlich hätte ich an diesem Tag nicht einmal die Kraft gehabt, einen Briefkasten zu leeren. Aber meine Mutter hatte am Telefon gesagt: „Andreas hätte gewollt, dass du kommst. Familie ist wichtig.“

Andreas hatte das wirklich gesagt. Immer wieder. Vielleicht war genau das der Grund, warum ich dort stand.

Carina wohnte in einer kleinen Doppelhaushälfte am Stadtrand, deutlich einfacher als unser Haus. Schon im Flur roch es nach süßem Kuchen und nach dem scharfen Reiniger, den man benutzt, wenn man so tut, als sei alles in Ordnung.

Blaue Luftballons hingen an der Decke. Auf dem Sofa lag eine Decke mit der Aufschrift „Alles Gute zum Geburtstag“. Als wäre ein Spruch genug, um ein Loch im Herzen zuzudecken.

Eine Freundin von Carina, Jana, öffnete die Tür. Sie sah mich an, und in ihrem Gesicht huschte etwas vorbei, das ich nicht einordnen konnte – Mitleid? Nervosität?

„Brigitte… du bist wirklich gekommen“, sagte sie zu schnell. Dann trat sie beiseite. „Alle sind hinten im Garten.“

Im Wohnzimmer standen Menschen, die ich kaum kannte, in kleinen Gruppen, mit Bechern in der Hand. Als ich vorbeiging, verstummten die Gespräche. Augen folgten mir. Es fühlte sich nicht an wie ein Kindergeburtstag. Es fühlte sich an wie eine Szene kurz vor einem Urteil.

Draußen saßen meine Eltern an einem Tisch, steif, als hätten sie vergessen, wie man die Hände hält. Mein Vater stand auf, als er mich sah, und umarmte mich ein bisschen zu fest.

„Wir wussten nicht, ob du kommst“, murmelte er.

„Natürlich komme ich“, sagte ich und zwang meine Stimme, normal zu klingen. „Wo ist der Kleine?“

Meine Mutter wich meinem Blick aus. „Carina macht drinnen noch etwas mit der Torte.“

Ich versuchte, mich zu benehmen wie ein Mensch, der nicht innerlich zerbricht. Ich lächelte, nahm Beileidswünsche entgegen, sagte Sätze wie „Danke“ und „Es geht schon“ und „Ja, es war so plötzlich“. Plötzlich. Dieses Wort verfolgte mich wie ein Hund, der nicht aufhört zu bellen.

Während ich mich durch den Garten bewegte, spürte ich es immer deutlicher: Die Stimmung war gespannt. Fremde Gäste sahen zu oft zu mir. Carinas Freund – Timo, der früher in einer Kneipe arbeitete – war nicht da. Und Carina selbst ließ mich warten, als wäre ich eine Nebensache.

Dabei war ich früher oft die gewesen, die ihr half.

Andreas und ich hatten uns vor zwölf Jahren kennengelernt, bei einer Spendenversteigerung in Hamburg. Es ging um Geld für kranke Kinder, ein Abend voller Anzüge, guter Worte und viel zu teurer Häppchen. Ich hatte damals als Helferin gearbeitet, Listen abgehakt, still gelächelt, Dinge getragen, die nicht mir gehörten.

An einem Tisch hing ein Aquarell: die Hamburger Hafenlinie bei Sonnenuntergang, warmes Licht, das sich im Wasser brach. Ich stand viel zu lange davor. Ich weiß noch, wie ich dachte: Wenn ich mir je ein Zuhause leisten kann, dann möchte ich so ein Bild darin haben.

Dann kam Andreas. Er war nicht der Lauteste im Raum, eher der, der alles beobachtet. Er bot, überbot alle und nachdem er gewonnen hatte, ging er direkt zu mir und drückte mir das Bild in die Hände.

„Ich habe gesehen, wie Sie die ganze Zeit darauf geschaut haben“, sagte er. Seine Augen lachten dabei, nicht geschniegelt, nicht aufgesetzt. „Ich finde, es gehört zu Ihnen.“

Ich habe mich damals geschämt und gleichzeitig gefühlt, als hätte mir jemand einen warmen Mantel umgelegt.

Am nächsten Abend trafen wir uns wieder. Kein großes Theater. Ein kleines Restaurant, echte Fragen, echtes Zuhören. Acht Monate später machte er mir einen Antrag – nicht kitschig, nicht laut, aber so, dass ich wusste: Dieser Mann meint jedes Wort.

Kurz danach kauften wir unser Haus: ein altes Stadthaus mit hohen Decken und knarrenden Dielen, ein kleiner Garten hinten, in dem Andreas später Tulpenzwiebeln setzte, als wäre das eine Art Versprechen.

Dieses Versprechen erfüllte sich nicht so, wie wir es uns vorgestellt hatten.

Wir wollten Kinder. Wirklich. Nicht als Idee, nicht als Foto, nicht als „irgendwann mal“, sondern als Leben. Wir versuchten es Jahre. Mit Kalendern, Tests, Hoffnung. Dann kamen Ärztinnen und Ärzte, Untersuchungen, Termine, die sich wie Prüfungen anfühlten. Mehrere Behandlungen zur künstlichen Befruchtung – teuer, anstrengend, voller Warten. Jedes Mal der gleiche Ablauf: erst Zuversicht, dann Angst, dann Enttäuschung.

Ich erinnere mich an die letzte Fahrt nach Hause. Ich starrte aus dem Fenster. Andreas hielt meine Hand, fest, aber nicht krampfhaft. Wir sagten nichts, weil es nichts gab, das die Leere hübscher gemacht hätte.

Später, auf unserer kleinen Terrasse, sagte er leise: „Wir können trotzdem ein gutes Leben haben. Du und ich. Das reicht.“

Und er meinte es. Er war so ein Mensch, der nicht nur Träume hatte, sondern auch die Fähigkeit, neue zu bauen, wenn alte zerbrachen. Wir reisten. Ich baute mir als Innenarchitektin eine eigene kleine Firma auf. Er arbeitete als Wirtschaftsanwalt, klug, ruhig, zuverlässig. Unser Haus wurde Stück für Stück schöner. Kein Kinderlachen im Garten, aber Wärme. Zuhause.

Carina war in all den Jahren wie ein Schatten am Rand. Vier Jahre jünger als ich, hübsch auf eine Art, die Türen öffnete. Sie konnte charmant sein, wenn sie wollte. Und wenn sie etwas wollte, wollte sie es sofort.

Schon als Kinder war es so gewesen: Wenn ich etwas bekam, wollte sie es auch, oder etwas Besseres. Wenn ich einen Erfolg hatte, hatte sie plötzlich eine Krise, die alle Aufmerksamkeit brauchte. Unsere Eltern machten oft das, was Eltern tun, wenn sie überfordert sind: Sie halfen ihr. Immer wieder. Und sie nannten es „Unterstützung“, obwohl es manchmal eher eine Rettungsleine war, die nie abgeschnitten wurde.

Vor zwei Jahren begann Carina diese ständige Trenn-und-Versöhnungs-Geschichte mit Timo. Laut, dramatisch, immer kurz vorm Knall. Dann – an einem Feiertag, beim Familienessen – verkündete sie die Schwangerschaft. Tränen. Große Worte. „Ein Wunder“, sagte sie. Ich lächelte, ich gratulierte, ich schluckte das Stechen herunter, das ich nicht zeigen wollte.

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