Beim ersten Geburtstag meines Neffen behauptete meine Schwester: Er ist mein Erbe und mein Albtraum

Am nächsten Morgen wachte ich auf, als hätte ich die Nacht in einem zu engen Mantel verbracht. Ich war müde bis in die Knochen und trotzdem war da etwas Neues: Klarheit. Nicht Frieden. Aber Richtung.

Auf dem Küchentisch lag Andreas’ Schlüsselbund. Darunter, fast unscheinbar, der kleine Schlüssel mit der Nummer, der zu unserem Schließfach gehörte.

Andreas hatte früher scherzhaft gesagt, das sei „unser Notfall in Metall“. Damals hatte ich gelacht. Heute griff ich danach, zog meinen Mantel an und fuhr los.

Die Bank war früh fast leer. Der Filialleiter erkannte mich, sprach mir leise sein Beileid aus und führte mich hinunter in den kühlen Tresorraum. Im kleinen Kabinett schloss ich das Fach auf und zog die Schublade heraus. Schon beim Gewicht spürte ich: Andreas hatte vorgesorgt.

Oben lag ein Ordner. Auf dem Deckel stand, in seiner Handschrift: „Für Brigitte – falls Carina je versucht, dich zu verletzen.“

Mir wurde schlagartig kalt.

Ich schlug den Ordner auf. Gleich vorne: ein ordentliches Testament, sauber formuliert, unterschrieben, mit Zeugen und Datum. Kein Ausdruck, kein Bastelwerk.

Dann medizinische Unterlagen. Das Wort „Vasektomie“ sprang mir ins Gesicht, gefolgt von der Nachuntersuchung, die den Erfolg bestätigte. Zwei Jahre vor Lukas’ möglicher Zeugung. Eine klare Grenze, die Carinas Geschichte einfach unmöglich machte.

Weiter hinten lagen Notizen – Datum, Uhrzeit, kurze Sätze. Andreas hatte jede unangenehme Begegnung mit Carina festgehalten, jedes Übertreten, jede „harmlose“ Bemerkung, die am Ende doch nicht harmlos war. Und dazwischen: ausgedruckte Nachrichten, die Carina ihm geschrieben hatte, bevor er sie blockierte.

Ganz unten lag ein Umschlag mit meinem Namen. Ich öffnete ihn vorsichtig.

„Meine liebste Brigitte“, stand da. „Wenn du das liest, ist etwas passiert, das ich nicht wollte. Ich hoffe, du brauchst diese Unterlagen nie. Aber falls Carina nach meinem Tod versucht, dich auszunutzen, bitte ich dich: Schütze dich. Grenzen sind kein Verrat. Grenzen sind Liebe – auch zu dir selbst.

Du gibst zu viel. Und genau deshalb bist du verwundbar. Ich kann Carina nicht ändern. Ich kann dir nur helfen, dich nicht zerstören zu lassen. Was immer du tust: Du bist nicht schuld.“

Ich hielt den Brief an die Brust, als könnte ich so Andreas’ Herzschlag noch einmal spüren. Dann atmete ich tief durch, packte Kopien von dem ein, was ich brauchte, und schloss das Fach.

Am Nachmittag saß ich in der Kanzlei von Dr. Hannes Voigt, einem älteren Rechtsanwalt, den Andreas sehr geschätzt hatte. Sein Büro wirkte wie aus einer anderen Zeit: schwere Bücher, ruhige Farben, ein Fenster, durch das man einen Innenhof sah, in dem kein Mensch war.

„Brigitte“, sagte er, als ich eintrat. „Es tut mir leid. Andreas war ein anständiger Mann.“

„Und genau deshalb kann ich das nicht stehen lassen“, antwortete ich.

Ich erzählte ihm vom Geburtstag, vom „Testament“, von Carinas Behauptung. Dr. Voigt las die Kopie des gefälschten Blattes, legte es dann beiseite, als wäre es etwas Klebriges.

„Das ist nicht echt“, sagte er schlicht. „Und es ist gefährlich, dass sie so etwas überhaupt versucht.“

Ich öffnete meine Mappe und zeigte ihm die Unterlagen aus dem Schließfach. Er sah die medizinischen Dokumente, das echte Testament, Andreas’ Notizen.

„Damit ist die Sache inhaltlich klar“, sagte er. „Aber die Frage ist: Warum macht sie das?“

Ich wollte antworten: Weil sie immer so war. Weil sie nie Grenzen akzeptiert hat. Doch Dr. Voigt schüttelte langsam den Kopf.

„Menschen gehen selten so weit ohne Druck. Schulden, Angst, Abhängigkeiten – irgendetwas treibt sie.“

Er nannte mir einen diskreten privaten Ermittler, Herr Delitz, der früher bei der Polizei gewesen war. Ich zuckte zusammen bei dem Wort „Ermittler“. Familie und Ermittlungen passten für mich nicht zusammen. Aber das Bild von Carina, wie sie Andreas’ Namen vor fremden Gästen beschmutzte, brannte in mir.

„Machen Sie den Kontakt“, sagte ich.

Drei Tage später traf ich Herr Delitz. Er fragte knapp, hörte aufmerksam zu und versprach, sich nur auf Fakten zu stützen. Dann ging er.

Die folgenden Tage waren eine Mischung aus Trauer und Alarm. Ich konnte nicht arbeiten, ohne dass mir plötzlich ein Satz aus Carinas Rede in den Kopf schoss. Ich sah unser Haus – Andreas’ Haus – und spürte zum ersten Mal, wie zerbrechlich „mein“ überhaupt ist.

Als Herr Delitz sich meldete, bat er um ein Treffen in Dr. Voigts Kanzlei. Schon an seinem Gesicht sah ich: Es würde wehtun.

„Ihre Schwester hat ernste finanzielle Probleme“, begann er. „Mehrere offene Forderungen. Raten, die nicht mehr bezahlt wurden. Und es läuft eine Räumungsklage. Wenn nichts passiert, muss sie in wenigen Wochen aus der Wohnung.“

Ich fühlte Mitleid, sofort und hasste diesen Reflex, weil er mich schon so oft blind gemacht hatte.

„Der Vater des Kindes ist nicht verlässlich“, fuhr Herr Delitz fort. „Kontakt abgebrochen, Unterhalt unregelmäßig. Und ja, das Kind hatte medizinische Behandlungen. Das erklärt einen Teil der Schulden. Nicht aber den Plan.“

Dann legte er Ausdrucke auf den Tisch: Nachrichten zwischen Carina und Jana.

„Andreas ist tot. Schrecklich, aber jetzt ist meine Chance.“

„Wenn Brigitte weich ist, gibt sie nach.“

„Das Papier sieht echt aus.“

Meine Hände begannen zu zittern. Nicht vor Angst. Vor Wut. Vor dem Gefühl, dass meine Trauer für Carina nur ein günstiger Moment gewesen war.

Dr. Voigt sah mich ruhig an. „Ihr Ziel bleibt?“

„Andreas’ Name“, sagte ich. „Und dass sie aufhört.“

„Und Lukas?“, fragte er.

„Lukas ist unschuldig“, antwortete ich, und meine Stimme wurde leiser. „Er darf nicht zwischen uns zerquetscht werden.“

Wir beschlossen, Carina nicht öffentlich zu stellen. Kein Drama, keine Bühne. Ein Gespräch in meinem Haus – mit Dr. Voigt als Zeuge. Keine heimlichen Aufnahmen, keine Tricks. Nur Klarheit.

Ich rief Carina an. „Wir reden über das Testament“, sagte ich. „Morgen um zwei. Bei mir. Nur du.“

Sie klang sofort zufrieden. „Ich wusste, du kommst zur Vernunft.“

Als sie am nächsten Tag vor meiner Tür stand, wirkte sie geschniegelt, fast zu geschniegelt. Neuer Mantel, neue Stiefel, ein Lächeln, das nicht zu Trauer passte. Vielleicht war es Schutz. Vielleicht war es Gier.

Im Wohnzimmer saß Dr. Voigt bereits. Carina blieb stehen, als sie ihn sah. „Was soll das?“

„Ich möchte, dass wir ordentlich sprechen“, sagte ich. „Und dass hinterher niemand sagt, es sei anders gewesen.“

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