An ihrem siebzigsten Geburtstag blies Mutter keine Kerzen aus. Stattdessen nahm sie den Hammer und zerschlug das Einmachglas, das sie zwanzig Jahre lang wie einen Schatz gehütet hatte.
Es klirrte laut. Glasscherben verteilten sich auf dem alten Eichenparkett ihrer Wohnung in Düsseldorf-Oberkassel. Der Geruch von altem Papier und getrocknetem Lavendel stieg auf – der Duft einer Zeit, die längst vergangen war.
„Benedict“, sagte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, obwohl ihre Hände zitterten. „Hol den Besen. Aber wirf die Zettel nicht weg. Heute erfüllen wir sie.“
Ich starrte auf die bunten, verblichenen Papierzettel, die nun zwischen den Scherben lagen. Es war die Handschrift von Bernard. Mein Bruder. Er war zwölf gewesen, als der Knochenkrebs ihn uns nahm. Ich war damals fünfzehn. Jetzt bin ich fünfunddreißig, ein pragmatischer Architekt, der gelernt hat, Gefühle in Beton zu gießen und dort zu begraben. Aber dieser Anblick riss alte Wunden auf.
„Mama“, begann ich sanft. „Das ist zwanzig Jahre her. Bernard ist… er ist nicht mehr da. Quäl dich doch nicht.“
Sie sah mich an, und in ihren grauen Augen lag eine Dringlichkeit, die ich noch nie gesehen hatte. „Der Arzt sagt, ich vergesse Dinge, Benedict. Erst sind es die Schlüssel, dann Termine. Bald vielleicht sein Gesicht. Bevor Bernard ganz aus meinem Kopf verschwindet, muss ich wissen, dass ich ihm zugehört habe.“
Wir knieten uns auf den Boden und sammelten die Wünsche ein. Bernard hatte sie geschrieben, wenn er im Krankenhaus lag und träumte.
Der erste Zettel war gelb. „Ich will das größte Lego-Raumschiff der Welt bauen.“
Eine Stunde später standen wir in einem riesigen Spielwarenladen in der Innenstadt. Die Verkäuferin sah uns irritiert an: eine elegante Dame im Wollmantel und ihr erwachsener Sohn, die das teuerste Set im Regal kauften. Mutter strich über die Verpackung. Ihre Finger waren von Arthritis gezeichnet, aber ihre Berührung war zärtlich.
Wir bauten es nicht auf. Wir fuhren zum städtischen Uniklinik. Mutter bestand darauf, es der Kinderonkologie zu spenden.
Als sie das Paket einem kleinen Jungen übergab, der kaum Haare und denselben blassen Teint wie Bernard damals hatte, weinte sie nicht. Sie lächelte. Es war ein schmerzhaftes Lächeln, aber es war echt.
„Er hätte es geteilt“, flüsterte sie mir zu, als wir wieder im Auto saßen. „Bernard hat immer geteilt.“
Der zweite Zettel war blau. „Ich will Currywurst essen, bis mir schlecht wird, und den Rhein sehen.“
Es war ein typischer Dezembertag, grau und nasskalt. Der Wind pfiff über die Rheinpromenade. Wir standen an einer Imbissbude. Mutter, die sonst penibel auf gesunde Ernährung achtete, bestellte zwei Portionen mit extra Schärfe.
Sie aß langsam, fast andächtig. Ein Klecks Currysauce landete auf ihrem teuren Schal, aber sie wischte ihn nicht weg. „Weißt du noch?“, fragte sie, den Blick auf den trüben Fluss gerichtet. „Ich habe es ihm verboten. Die Ärzte sagten, sein Magen sei zu schwach von der Chemo. Ich war so streng, Benedict. Ich wollte ihn retten, indem ich ihm alles verbot, was Spaß machte.“
Eine Träne lief ihre Wange hinunter und mischte sich mit dem Regen. „Ich habe einen sterbenden Jungen davor bewahrt, Bauchschmerzen zu bekommen. Wie dumm ich war.“
Ich legte meinen Arm um sie. Sie fühlte sich zerbrechlich an, viel kleiner als die starke Frau, die nach Papas Tod die Familie allein zusammengehalten hatte. „Du wolltest ihn nur beschützen, Mama.“
„Man kann niemanden vor dem Leben beschützen, Benedict. Und auch nicht vor dem Tod.“
Wir arbeiteten uns durch die Zettel. Manche waren unmöglich („Ich will zum Mond fliegen“ – wir kauften stattdessen ein Teleskop für ihren Balkon), manche waren simpel („Einmal lange aufbleiben“ – wir saßen bis drei Uhr morgens bei Rotwein und sahen alte Super-8-Filme).
Dann kam der letzte Zettel. Er lag ganz unten im Haufen, ein Stück kariertes Papier aus einem Schulheft, mehrfach gefaltet und mit Klebeband zugeklebt.
Die Dämmerung hatte sich bereits über die Stadt gelegt. Wir saßen wieder in ihrer Küche. Mutter hielt den Zettel, aber sie öffnete ihn nicht. „Ich habe Angst“, gestand sie leise. „Wenn dieser Zettel gelesen ist… dann ist er wirklich weg. Dann habe ich nichts mehr zu tun für ihn.“
„Soll ich es machen?“
Sie nickte und reichte mir das Papier. Meine Hände waren feucht. Ich entfaltete es vorsichtig. Die Schrift war krakelig, viel unordentlicher als auf den anderen Zetteln. Er muss es geschrieben haben, als er schon sehr schwach war.
Ich las es stumm. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, so groß, dass ich kaum atmen konnte.
„Was steht da, Benedict?“
Ich räusperte mich. „Es ist… es ist für dich.“
Ich las vor: „Wenn ich weg bin, wünsche ich mir, dass Mama nicht mehr traurig ist. Sie soll wieder lachen. Und sie soll Benedict öfter umarmen, weil er doch jetzt der Große ist.“
Stille. Nur das Ticken der Küchenuhr war zu hören.
Zwanzig Jahre lang hatte meine Mutter dieses Glas wie einen Altar gepflegt. Sie hatte ihre Trauer konserviert, jeden Tag poliert und sich darin eingeschlossen. Sie dachte, sie würde Bernard ehren, indem sie litt. Aber Bernard, mein kleiner, weiser Bruder, hatte sich nur eines gewünscht: dass wir weiterleben.
Mutter nahm mir den Zettel aus der Hand. Sie las ihn wieder und wieder. Ihr ganzer Körper begann zu beben, und dann brach es aus ihr heraus – kein leises Weinen, sondern ein tiefes, befreiendes Schluchzen, das zwei Jahrzehnte lang im Keller ihrer Seele eingesperrt war.
Ich zog meinen Stuhl heran und nahm sie in den Arm, fest und innig, so wie Bernard es gewollt hatte. Wir saßen dort, Mutter und Sohn, verbunden durch den Verlust, aber endlich wieder vereint im Leben.
„Ich habe so viel Zeit verschwendet“, schluchzte sie an meiner Schulter.
„Nein“, sagte ich und drückte sie fester. „Du hast nur Anlauf genommen.“
Später am Abend, als ich gehen wollte, begleitete sie mich zur Tür. Sie sah erschöpft aus, aber ihre Augen waren klarer als seit Jahren. Der Nebel der Depression schien sich ein wenig gelichtet zu haben.
„Benedict?“, rief sie, als ich schon im Treppenhaus war.
Ich drehte mich um. „Ja, Mama?“
„Nächsten Sonntag… kommst du zum Essen? Ich mache Rouladen. Dein Lieblingsessen.“
Ich lächelte. Es war das erste Mal seit Bernards Tod, dass sie nicht über das Grab redete, sondern über das Essen. Über das Jetzt.
„Sehr gerne, Mama“, sagte ich.
Draußen auf der Straße atmete ich die kalte Winterluft tief ein. Ich blickte hinauf zu ihrem Fenster. Das Licht brannte noch. Ich stellte mir vor, wie sie dort oben stand, ohne das Glas, aber mit dem Herzen voller Erinnerungen, bereit, den schwersten Wunsch von Bernard endlich zu erfüllen: einfach glücklich zu sein.
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