Bernards Wünsche im Einmachglas und wie wir aus den Scherben der Vergangenheit unsere Zukunft bauten

Die Rouladen waren perfekt. Das Fleisch war zart, die Soße dunkel und kräftig, genau so, wie ich sie aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Doch während wir an dem massiven Eichenholztisch im Esszimmer saßen, bemerkte ich die kleinen Risse in der Fassade dieses perfekten Sonntags.

Mutter hatte dreimal nach dem Salz gefragt, obwohl der Streuer direkt vor ihrem Teller stand. Mitten im Gespräch über meine Arbeit war sie verstummt und legte den Kopf schief, als lausche sie einer Melodie, die nur sie hören konnte.

„Mama?“, fragte ich leise. Sie blinzelte, als erwache sie aus einem Traum. „Entschuldige, Benedict. Für einen Moment dachte ich, ich höre ihn lachen. Bernard.“

Sie lächelte entschuldigend, aber in ihren Augen sah ich die Fluchtinstinkte eines gehetzten Tieres. Das Zerschlagen des Einmachglases hatte eine Lawine ausgelöst; die emotionale Befreiung war gewaltig gewesen, aber sie hatte auch die mühsam errichteten Mauern ihrer Routine eingerissen. Ohne ihre konservierte Trauer stand sie nun schutzlos vor der Gegenwart, und die Gegenwart war ein nebliger Ort.

Der Winter in Düsseldorf zog sich in die Länge, und Wochen vergingen, in denen der Himmel über dem Rhein wie eine graue Betondecke hing. Ich besuchte sie nun jeden Sonntag, manchmal auch unter der Woche, denn als Architekt war ich darauf trainiert, Strukturen zu analysieren und zu stützen. Aber hier, in der Altbauwohnung meiner Mutter, stieß meine Statik an ihre Grenzen.

„Ich habe über Bernards letzten Wunsch nachgedacht“, sagte sie eines Nachmittags im Februar. Wir saßen im Wohnzimmer, wo der Weihnachtsbaum längst weg war, aber sie hatte vergessen, die Lichterkette vom Fensterbrett zu räumen.

„Dass du glücklich sein sollst?“, fragte ich. „Dass ich nicht mehr traurig sein soll“, korrigierte sie mich präzise. „Das ist ein Unterschied, Benedict. Glück ist ein flüchtiger Vogel. Abwesenheit von Traurigkeit ist… Frieden.“

Sie nahm einen Schluck Tee, und ihre Hände zitterten stärker als noch an ihrem Geburtstag. „Aber dieses Zimmer… es lässt mich nicht atmen.“ Ich wusste sofort, wovon sie sprach. Bernards Zimmer war seit zwanzig Jahren meistens geschlossen, ein Mausoleum der späten Neunzigerjahre mit Gameboys, Postern und einem ungemachten Bett.

„Was möchtest du tun?“, fragte ich vorsichtig. Sie sah mich an, und da war wieder dieses neue, klare Licht in ihren Augen, das seit dem Geburtstag immer öfter aufflackerte.

„Ich will es ausräumen. Ich will dort nicht mehr das Sterben aufbewahren. Ich will dort leben.“ Sie machte eine kurze Pause, als würde sie die Idee prüfen. „Vielleicht… ein Lesezimmer? Mit Blick auf die Kastanie im Hof?“

Mein pragmatisches Herz machte einen Sprung, denn das war ein Projekt, das greifbar war. „Ich helfe dir. Wir machen das zusammen. Nächstes Wochenende?“ „Nein“, sagte sie fest. „Morgen. Bevor ich vergesse, warum ich es tun will.“

Der nächste Morgen war ein Dienstag, also sagte ich alle Termine im Büro ab. Als ich ankam, hatte sie bereits Kisten besorgt, trug eine alte Jeans und einen zu großen Pullover von meinem Vater. Sie wirkte tatkräftig, fast jugendlich, aber ich sah die Anspannung in ihren Schultern.

Wir begannen schweigend, und es fühlte sich an wie ein Sakrileg, die Lego-Modelle in Kartons zu packen. Jedes Stück Plastik schien schwer wie Blei zu wiegen. „Sollen wir das spenden?“, fragte ich und hielt eine Kiste mit Matchbox-Autos hoch.

Sie zögerte, und ihre Hand strich über ein kleines, rotes Auto. „Bernard hat das geliebt“, flüsterte sie. „Er hat es unter sein Kopfkissen gelegt, wenn er Angst vor den Untersuchungen hatte.“ „Mama, wenn wir es behalten, ändern wir nichts. Wir verschieben den Staub nur von einem Regal in eine Kiste.“

Ich klang härter, als ich wollte, aber mein Beruf verlangte Entscheidungen, keine Sentimentalitäten. Sie atmete tief ein und nickte schließlich. „Du hast recht. Der Junge in der Klinik… er hat sich so gefreut. Andere Kinder sollen damit spielen. Bernard braucht keine Autos mehr.“

Wir arbeiteten uns Stunde um Stunde vor, eine archäologische Ausgrabung in unserer eigenen Familiengeschichte. Wir fanden Schulhefte mit Eselsohren und eine Kassette mit der Aufschrift „Top Secret“, auf der Bernard und ich eine fiktive Radiosendung aufgenommen hatten. Wir saßen auf dem Boden und hörten sie uns an.

Bernards hohe Stimme ertönte: „Und hier ist DJ Benny, der coolste Bruder der Welt!“ Und dann meine Stimme, im Stimmbruch, peinlich berührt, aber liebevoll: „Halt die Klappe, Zwerg.“

Mutter lachte ein echtes Lachen, hell und überrascht. „Ihr wart ein gutes Team“, sagte sie. „Ich habe oft vergessen, dass ihr auch Spaß hattet.“

„Du hast getan, was du konntest“, sagte ich und legte den Arm um sie. Bernards Wunsch auf dem Zettel hallte in mir nach: Sie soll Benedict öfter umarmen. Ich drückte sie fester, und sie fühlte sich zerbrechlich an.

Gegen Mittag geschah es. Wir hatten den Kleiderschrank fast leergeräumt, der Raum war nackt und die Wände zeigten helle Rechtecke, wo Poster gehangen hatten. Die Veränderung war radikal, vielleicht zu radikal.

Mutter stand in der Mitte des Raumes und drehte sich langsam im Kreis, ihr Blick wurde fahrig und die Entschlossenheit wich einer plötzlichen Panik. „Wo ist er?“, fragte sie, ihre Stimme war hoch und dünn. „Wer, Mama?“

„Bernard. Er kommt gleich aus der Schule. Er braucht seinen Mittagsschlaf. Warum ist sein Bett weg?“ Sie packte mich am Arm, ihre Finger krallten sich in meinen Pullover. „Benedict, wo hast du sein Bett hingebracht?! Er wird wütend sein! Er braucht seine Ruhe!“

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, denn das war nicht nur Vergesslichkeit, das war ein Riss in der Zeit. Sie war zwanzig Jahre zurückgesprungen, in die schlimmste Phase ihrer Trauer. „Mama“, sagte ich ruhig und versuchte, ihre Hände zu lösen. „Bernard ist nicht in der Schule.“

„Doch! Es ist Dienstag! Er hat erst um eins Schluss. Wir müssen das Bett wieder aufbauen. Schnell!“ Sie begann zitternd an den Kartons zu zerren, und Tränen liefen über ihr Gesicht. „Ich habe es versprochen. Ich habe versprochen, dass alles bereit ist.“

Ich stand da, unfähig mich zu bewegen. Wenn ich ihr jetzt die Wahrheit sagte, würde ich ihr das Herz erneut brechen, aber wenn ich mitspielte, würden wir in diesem Wahnsinn gefangen bleiben. Dann fiel mein Blick auf den leeren Fleck an der Wand, wo früher sein Schreibtisch stand, und ich erinnerte mich an den Zettel.

Ich kniete mich vor sie hin und zwang sie, mich anzusehen. „Mama, schau mich an.“ Ihre Augen flackerten wild. „Wir haben keine Zeit, Benedict!“ „Mama. Wir haben alle Zeit der Welt. Bernard kommt nicht nach Hause.“ Sie erstarrte. „Was?“ „Er wollte das Zimmer nicht mehr“, sagte ich sanft, aber bestimmt.

Ich improvisierte und baute eine Brücke aus Worten über den Abgrund ihres Gedächtnisses. „Erinnere dich an den Zettel. An das Einmachglas.“ „Das… Glas?“ Der wilde Ausdruck in ihren Augen wich einer Verwirrung.

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