Bernards Wünsche im Einmachglas und wie wir aus den Scherben der Vergangenheit unsere Zukunft bauten

„Du hast es zerschlagen. An deinem Geburtstag. Er hat geschrieben: Mama soll nicht mehr traurig sein.“ Ich hielt ihren Blick fest. „Er wollte, dass du dieses Zimmer für dich hast. Er ist okay, Mama. Er ist schon lange okay.“

Es dauerte eine Ewigkeit, aber ich sah förmlich, wie die Zahnräder in ihrem Kopf knirschten und wie die Realität gegen den Nebel kämpfte. Langsam kehrte sie in das Jahr 2024 zurück, und ihre Schultern sackten nach unten.

„Er ist tot“, flüsterte sie. Es war keine Frage, es war eine Feststellung. „Ja“, sagte ich. „Seit zwanzig Jahren. Und er wollte, dass wir weiterleben.“

Sie ließ sich auf den Boden sinken, mitten zwischen die halb gepackten Kartons, und ich setzte mich neben sie. „Es tut mir leid“, sagte sie schließlich. „Mein Kopf… er spielt mir Streiche. Ich hatte solche Angst.“ „Ich weiß“, sagte ich. „Aber ich bin hier. Ich bin der Große, erinnerst du dich? Ich passe auf.“

Wir machten weiter, aber langsamer, bestellten Pizza und aßen sie auf dem Boden. Als wir den letzten Schrank verrückten, fanden wir etwas, das hinter die Rückwand gerutscht war, verstaubt und vergilbt.

Ein großes Blatt Zeichenpapier kam zum Vorschein. Mutter zog es hervor und blies den Staub weg. Es war eine Zeichnung, die ein hohes, seltsames Gebäude zeigte, wie eine Mischung aus einer Rakete und einem Wolkenkratzer. Oben auf dem Dach standen zwei Strichmännchen, ein kleines und ein großes.

Unten drunter stand in Bernards Schrift: Das Haus, das Benedict mal baut. Damit wir die Sterne sehen können. Mir stockte der Atem, denn ich hatte dieses Bild noch nie gesehen. „Er hat immer zu dir aufgeschaut“, sagte Mutter leise, ihre Stimme war jetzt ganz ruhig. „Er wusste, dass du Architekt wirst. Er hat immer gesagt: ‚Benny baut mir ein Schloss.‘“

Ich starrte auf das Bild. Ich baute heute Glasfassaden und funktionale Wohnungen und hatte gelernt, Gefühle zu verstecken. Aber Bernard hatte etwas anderes in mir gesehen; er hatte keinen Pragmatiker gesehen, sondern einen Träumer. „Wir hängen das auf“, sagte ich, meine Stimme war belegt. „In deinem neuen Lesezimmer. Das bekommt den Ehrenplatz.“ Mutter lächelte. „Ja. Das machen wir.“

Die Renovierung dauerte drei Wochen, in denen ich Maler engagierte, die die Wände in einem warmen Salbeigrün strichen. Wir kauften einen bequemen Sessel, eine Stehlampe mit weichem Licht und Regale für ihre Bücher. Ich entwarf ein spezielles Regal für die Wand, inspiriert von Bernards Zeichnung – modern, aber verspielt.

Darauf stellten wir keine Urnen, sondern Fotos von uns dreien aus den guten Zeiten. Und ganz in der Mitte stand Bernards Zeichnung. Als das Zimmer fertig war, lud sie mich wieder zum Essen ein, diesmal gab es einfach Brotzeit in ihrem neuen Zimmer.

Draußen blühten die ersten Krokusse, und der Frühling kämpfte sich durch den Düsseldorfer Winter. Mutter saß in ihrem Sessel, ein Buch auf dem Schoß, aber sie las nicht, sondern schaute hinaus. „Es ist schön hier“, sagte sie. „Es riecht nicht mehr nach Vergangenheit.“ „Es riecht nach Farbe und Holz“, sagte ich. „Benedict?“ „Ja, Mama?“

Sie drehte sich zu mir, und ihr Gesicht wirkte müder als früher, aber friedlich. „Ich weiß, dass ich Dinge vergesse. Und ich weiß, dass es schlimmer wird.“ Sie sah mich ernst an. „Ich habe Angst davor, Bernard noch einmal zu verlieren. Dass er ganz aus meinem Kopf verschwindet.“

Ich stand auf, ging zu ihr und kniete mich neben den Sessel, um ihre Hand zu nehmen. „Das wirst du nicht“, sagte ich. „Dafür bin ich da.“ Ich drückte ihre Hand fest. „Ich bin dein externes Gedächtnis. Ich bin der Architekt, Mama. Ich habe das Fundament gesichert.“

Sie sah mich fragend an, als ich fortfuhr. „Ich werde dir die Geschichten erzählen, wenn du sie vergisst. Ich werde dir von dem Lego-Raumschiff erzählen und von der Currywurst.“ Ich lächelte sie an. „Und von diesem Zimmer.“

Sie drückte meine Hand zurück. „Du bist ein guter Junge, Benedict. Du bist… der Große.“ „Ja“, sagte ich und musste lächeln, obwohl mir die Tränen kamen. „Ich bin der Große.“

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Lies mir etwas vor“, bat sie. „Aus dem Buch da.“ Ich nahm das Buch, einen alten Roman, den sie früher geliebt hatte, und begann zu lesen, bis meine Stimme den Raum füllte.

Ich las, bis sie eingeschlafen war, dann stand ich leise auf. Ich ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter, dachte an Bernard und seine verrückte Zeichnung. Vielleicht würde ich dieses Haus eines Tages wirklich bauen, ein Haus, um die Sterne zu sehen.

Aber im Moment hatte ich etwas Wichtigeres gebaut. Ich hatte meiner Mutter einen Raum gegeben, in dem sie vergessen durfte, ohne verloren zu gehen. Ich löschte das Licht, bis auf die kleine Lampe neben ihrem Sessel.

„Gute Nacht, Mama“, flüsterte ich.

Draußen begann es leicht zu regnen, aber hier drinnen war es warm. Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich das Gefühl, dass wir nicht nur überlebt hatten, sondern lebten.

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