Brief an einen Hund | Eine alte Frau, ein Hund aus vergessenen Jahren und ein Geheimnis, das Zeit und Tod besiegt

Manchmal bleiben Briefe zurück, die niemand versteht.

Zitternde Hände schreiben Namen, die keiner kennt.

Ein Hund, ein Geheimnis, eine Vergangenheit, die schweigt.

Zwischen vergessenen Tagen blitzt ein Licht von Treue auf.

Und eine Enkelin beginnt zu fragen, bevor es zu spät ist.

🐾 Teil 1: Die Briefe im Schatten der Erinnerung

Der Morgen in Bad Orb war still. Die kleinen Fachwerkhäuser hielten den Nebel fest wie alte Geheimnisse. Im Haus am Rande der Kurparkallee saß Alma Richter am Küchentisch. Vor ihr lag ein Briefpapier, daneben ein Füllfederhalter, den sie seit Jahrzehnten benutzte. Ihre Finger zitterten, doch sie schrieben unbeirrt weiter.

„Für dich, Aro…“ murmelte sie.

Sie sprach den Namen leise aus, als sei er heilig. Dann setzte sie Buchstaben auf das Papier, sorgfältig, so wie sie es in ihrer Jugend gelernt hatte. Draußen schlug eine Amsel an, irgendwo klirrte eine Tür. Doch Alma hörte nur das Kratzen der Feder.

Ihre Enkelin, Friederike Sommer, kam kurz darauf ins Zimmer. Sie war Anfang dreißig, lebte seit zwei Jahren wieder bei ihrer Großmutter, nachdem ihre eigene Wohnung in Hanau zu teuer geworden war. Friederike hatte Alma schon oft beim Schreiben beobachtet, aber diesmal trat sie näher.

„Oma, an wen schreibst du da?“

Alma sah auf, die blassblauen Augen von Erinnerungen getrübt. „An Aro. Er wartet.“

„Aro?“ Friederike runzelte die Stirn. „Wer ist das?“

Die alte Frau lächelte, fast kindlich. „Mein Hund.“

Friederike schwieg einen Moment. Alma war achtzig Jahre alt und die Ärzte hatten vor einem Jahr die Diagnose Demenz gestellt. Seitdem sprach sie oft von Dingen, die niemand mehr einordnen konnte. Doch dieser Name tauchte immer wieder auf. Aro.

Am Abend fand Friederike mehrere Umschläge in einer Schublade. Alle adressiert an denselben Empfänger, ohne Adresse, ohne Absender. Nur: „Für Aro.“ Darin standen kleine Botschaften. Manche nur ein Satz. Andere ganze Seiten voller Erinnerungen, die wie Fragmente aus einer anderen Zeit wirkten.

„Du hast mich gerettet, als ich das Lachen fast verlernt hatte.“
„Weißt du noch, wie wir im Spessart durch den Schnee rannten?“
„Deine Augen haben mich nie belogen.“

Friederike legte die Briefe zurück, doch die Worte ließen sie nicht los.

Am nächsten Morgen saßen beide wieder beim Frühstück. Alma aß langsam, fast mechanisch. Ihre Enkelin versuchte vorsichtig, das Thema anzusprechen. „Oma… dieser Hund. Aro. War er echt?“

Alma legte das Brötchen ab und sah sie an, plötzlich ganz wach. „Natürlich. Er war mein Freund.“

„Wann war das?“

„Früher… lange her. Bevor alles anders wurde.“

Mehr bekam Friederike nicht aus ihr heraus. Doch etwas in der Stimme ihrer Großmutter, dieser Ton, den sie sonst kaum mehr hörte, ließ sie nicht locker.

In den nächsten Tagen begann sie nachzuforschen. Sie sprach mit Nachbarn, doch niemand hatte je von einem Hund namens Aro gehört. Sie suchte in alten Fotoalben, fand Bilder aus den fünfziger Jahren. Alma als junge Frau, lachend neben ihren Eltern. Aber kein Hund. Kein Aro.

Dann, an einem Sonntag, fand sie auf dem Dachboden eine kleine Holzkiste. Darin lag ein verblichenes Halsband, aus Leder, mit einem Metallanhänger. Darauf stand ein Name: „Aro“.

Friederike hielt das Halsband in den Händen und spürte ein unerklärliches Ziehen in der Brust. Es war nicht Einbildung. Aro hatte existiert.

Sie ging zurück zu ihrer Großmutter und zeigte ihr das Fundstück.

Alma nahm das Halsband, als hätte sie es gerade erst verloren. Ihre Finger strichen über das kalte Metall, ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Da ist er… mein Aro.“

Friederike setzte sich neben sie. „Oma… erzähl mir von ihm.“

Die alte Frau schwieg lange, als müsse sie einen Schlüssel in sich suchen. Dann begann sie leise zu sprechen: „Es war im Jahr 1952. Ich war noch ein Mädchen, gerade siebzehn. Der Winter war hart. Wir hatten kaum etwas. Und dann kam er.“

„Wie kam er?“ fragte Friederike.

„Aus dem Wald. Verletzt. Ich habe ihn gefunden, im Schnee, am Waldrand beim Orbbach. Er war ein großer, schwarzer Hund, mit Augen so klar wie Wasser. Niemand wusste, wo er herkam. Aber er blieb bei mir. Immer.“

Friederike hörte zu und schrieb mit. Sie spürte, dass hier mehr verborgen lag als nur eine Erinnerung an ein Tier.

Die Tage vergingen. Immer wieder erzählte Alma Bruchstücke. Von Spaziergängen im Spessart, von Sommerabenden, an denen Aro sie nach Hause begleitete. Von Nächten, in denen er vor der Tür wachte. Aber sobald die Geschichten tiefer wurden, stockte ihre Stimme.

Friederike begann, in alten Zeitungen zu recherchieren. In der Stadtbibliothek fand sie einen Artikel aus dem Jahr 1953. „Hund rettet Mädchen vor Hochwasser“ stand da. Und darunter: „Die siebzehnjährige Alma Richter verdankt ihr Leben einem schwarzen Hund, der sie aus den Fluten des Orbbachs zog.“

Friederike legte die Zeitung aus den Händen. Ihr Herz raste. Aro war nicht nur eine Erinnerung. Er war wirklich da gewesen. Und er hatte ihre Großmutter gerettet.

Als sie Alma den Artikel zeigte, weinte die alte Frau still. „Er war mein Engel“, flüsterte sie.

Doch dann fügte sie etwas hinzu, das Friederike fröstelte: „Aber er ist nicht fort. Er wartet.“

Friederike verstand nicht. Aro musste längst tot sein. Ein Hund aus den fünfziger Jahren konnte nicht mehr leben. Doch ihre Großmutter klang, als wäre er irgendwo, ganz nah.

An diesem Abend schrieb Alma wieder einen Brief. Friederike stand im Türrahmen und hörte, wie ihre Großmutter leise sprach: „Morgen komme ich, Aro. Warte noch ein bisschen.“

Friederike spürte Gänsehaut.

Und sie wusste, dass sie dieses Rätsel lösen musste.

Denn irgendetwas verband ihre Großmutter mit diesem Hund, stärker als Zeit und Erinnerung.

Und irgendetwas sagte ihr, dass Aros Geschichte noch nicht zu Ende war.

Und in dieser Nacht hörte Friederike ein Bellen, das unmöglich wirklich gewesen sein konnte.

🐾 Teil 2: Das Rätsel im alten Schreibtisch

In der Nacht lag Bad Orb wie unter Glas.
Friederike stand am Fenster und hielt den Atem an.
Aus dem Kurpark kam ein Bellen, tief und kurz, dann Stille.

Sie öffnete das Fenster einen Spalt.
Feuchte Luft mit Fichtengeruch strich in den Raum.
Kein Licht, kein Schritt, nur die Amsel irgendwo im Dunkel.

Am Morgen fand sie vor der Gartentür zwei feuchte Abdrücke.
Keine klaren Pfoten, eher wischende Flecken im Tau.
Im Gitter hing ein einzelnes schwarzes Haar.

Alma saß schon angekleidet am Tisch.
Der Füllfederhalter lag neben dem Teller, als warte er.
Alma strich über das alte Lederhalsband, das Friederike auf den Tisch gelegt hatte.

„Er ruft“, sagte sie leise.
„Wer ruft dich, Oma“, fragte Friederike.
„Aro.“

Friederike kochte Kaffee und nickte.
Sie sprach ruhig, damit die Worte nicht rissen.
„Ich gehe heute ins Stadtarchiv. Vielleicht finden wir etwas.“

Alma legte die Hand auf Friederikes Arm.
Die Haut war dünn und warm.
„Bring ihn nach Hause“, flüsterte sie.

Das Archiv lag im alten Rathaus.
Die Fliesen im Flur waren kühl und glänzten wie Wasser.
Eine Frau mit grauem Zopf stellte die Microfilmgeräte bereit.

Sie stellte sich als Magdalena Pfahl vor.
Ihre Hände wirkten brüchig, doch sie bewegte die Rollen sicher.
„Was suchen Sie“, fragte sie.

„Zeitungsausgaben von 1952 bis 1955“, sagte Friederike.
„Stichworte Orb, Hochwasser, Hund, Alma Richter.“
Magdalena Pfahl nickte und holte die Kartons.

Die Bilder ratterten im Licht.
Schlagzeilen glitten wie Fische vorbei.
Dann blieb Friederike stehen.

Ein kurzer Artikel.
Hund rettet Mädchen aus dem Orb.
Darunter ein Absatz mit einem Namen.

Alma Richter, siebzehn, unverletzt, dankt unbekanntem Hund.
Zeugen berichten von einem großen schwarzen Tier mit Lederhalsband.
Wer kennt den Besitzer.

Friederike druckte den Artikel aus.
Die Tinte roch nach Staub und Hornhecht.
Sie blätterte weiter.

Ein Sommer später.
Ankündigung eines Waldfestes im Forsthaus Roßbach bei Biebergemünd.
Kleine Spalte, kleines Foto, Menschen in Hemden, eine Bank, ein Hund am Rand.

Der Hund war schwarz, groß, mit heller Brust.
Der Kopf war leicht zur Seite geneigt.
Am Hals glänzte ein Metallanhänger.

Auf der Rückseite des Fotos stand mit Tinte etwas geschrieben.
Roßbach, Juli 1954.
E. T. dankt für die Hilfe am Fluss.

Friederike hielt die Luft an.
E. T. war kein Name, aber fast einer.
Sie notierte die Initialen und das Forsthaus.

Magdalena Pfahl schaute über ihre Schulter.
„Das Forsthaus steht noch. Neuer Pächter seit Jahren.“
Sie schrieb eine Telefonnummer auf einen Zettel.

Auf dem Heimweg trug Friederike die Mappe nah am Körper.
Die Sonne stand über dem Molkenberg.
Es roch nach Heu und warmem Holz.

Alma wartete am Fenster.
Als Friederike das Foto auf den Tisch legte, hob Alma den Kopf.
Ihre Augen bekamen die Farbe von früher.

„Das ist er“, sagte Alma.
„Und wer ist E. T.?“, fragte Friederike.
Alma schwieg einen Atemzug zu lang.

„Eberhard Teschner“, sagte sie dann.
„Er arbeitete in Roßbach. Wir kannten uns am Fluss. Aro lief immer zwischen uns.“
Ihre Stimme sank, als zöge sie etwas nach innen.

„War Aro sein Hund“, fragte Friederike.
Alma schüttelte den Kopf.
„Aro gehörte keinem. Er gehörte, weil er blieb.“

Friederike setzte sich neben sie.
„Was geschah danach.“
Alma legte die Finger auf das Halsband.

„Ein Jahr später wollte Eberhard weg. Es gab Arbeit im Norden. Ich wartete an der Erlenbrücke. Aro wartete neben mir.“
Sie lächelte kurz, dann erlosch es.
„Eberhard kam nicht.“

Friederike spürte einen leeren Raum zwischen den Sätzen.
Sie nahm das Halsband in die Hand.
Das Metall war kalt wie Quellwasser.

Innen steckte ein kleines Schraubröhrchen.
Es war stumpf und trug Kratzer.
Sie drehte daran, es gab nicht nach.

Mit einer Nadel vom Nähkästchen löste sie den Dreck aus dem Gewinde.
Alma beobachtete jede Bewegung.
Das Röhrchen gab nach und öffnete sich.

Im Inneren steckte ein gerollter Papierstreifen.
Die Schrift war eng und dunkel.
Friederike zog ihn mit einer Pinzette heraus.

Der Zettel trug drei Zeilen.
Erlenbrücke bei Dämmerung. Bring das Halsband. E. T.
Darunter eine Jahreszahl. 1955.

Friederike sah auf die Uhr.
Es war später Nachmittag.
Die Dämmerung kam früh an diesem Tag.

„Kommst du mit“, fragte sie.
Alma nickte sofort.
Ihre Hände hielten das Halsband, als wäre es ein Schlüssel.

Sie packten eine Decke, Wasser, das Foto, den Ausdruck.
Friederike half Alma in den Mantel.
Die Treppe knarrte wie ein alter Baum.

Die Erlenbrücke lag einen kurzen Weg vom Kurpark entfernt.
Der Orb floss darunter, braungrün, langsam, doch mit Tiefe.
Die Luft trug den feuchten Geruch von Blatt und Stein.

Sie setzten sich auf die niedrige Mauer.
Alma legte das Halsband neben sich.
Der Abend senkte sich auf das Wasser.

Es wurde kühl.
Ein Fahrrad klingelte in der Ferne, dann wieder Stille.
Ein Reiher flog über die Fläche und verschwand hinter den Erlen.

Dann hörten sie Schritte auf dem Kies.
Nicht hastig, nicht schwer.
Ein Mann blieb am Brückenrand stehen.

Er trug eine dunkle Jacke und hielt eine Leine lose in der Hand.
Am Ende der Leine stand ein Hund.
Groß, schwarz, mit einem grauen Strich über der Schnauze.

Die Augen waren bernsteinfarben.
Die Ohren standen wach, der Körper war ruhig.
Der Hund sah zuerst zu Alma und dann zu dem Halsband auf der Mauer.

„Guten Abend“, sagte der Mann.
„Ich heiße Ruben Saathoff. Wir wohnen in Roßbach. Mein Hund heißt Aro.“
Er sprach das Wort schlicht aus, als wäre es nur ein Name.

Friederike spürte, wie ihr die Kehle eng wurde.
„Wie alt ist er“, fragte sie.
„Zwölf“, sagte Ruben. „Er stammt aus einer alten Linie hier. Mein Großonkel sprach oft von einem Aro aus den fünfziger Jahren.“

Alma stand langsam auf.
Sie ging zwei Schritte, als lausche sie auf eine unsichtbare Stimme.
Aro hob den Kopf, schnupperte, trat vor und blieb dann still.

„Darf ich“, fragte Friederike und hob das alte Halsband.
Ruben nickte.
Der Hund machte einen Schritt und berührte das Metall mit der Nase.

Es war nur ein kurzer Kontakt.
Doch es lag etwas darin, das wie Wissen wirkte.
Aro setzte sich, ohne Kommando, und schaute Alma an.

Alma legte ihm die Hand an den Hals, nicht drückend, nur warm.
Ihre Finger ruhten auf dem Fell.
Sie flüsterte etwas, das nur der Fluss hörte.

Ruben sah auf das Röhrchen in Friederikes Hand.
„Was ist das“, fragte er.
„Ein Zettel aus dem Jahr 1955“, sagte sie. „Er spricht von der Erlenbrücke.“

Ruben atmete hörbar aus.
„Mein Großonkel hieß Eberhard Teschner“, sagte er dann.
„In seinem Nachlass liegen Fotos vom Forsthaus Roßbach. Auf einem steht eine junge Frau an einem Fluss. Neben ihr ein Hund. Auf der Rückseite steht Alma.“

Friederike schaute zu Alma.
Die alte Frau hielt den Blick des Hundes.
Ihre Lippen bewegten sich, als würde ein Lied zurückkehren.

„Er kam also doch zur Brücke“, sagte Friederike leise.
Ruben nickte.
„Er kam. Aber es war zu spät. Der Zug fuhr am Morgen. Er hinterließ nur den Hinweis auf die Brücke und bat meinen Großvater, auf den Hund zu achten. Seitdem trägt jeder Rüde in unserer Familie seinen Namen.“

Der Fluss zog an ihnen vorbei wie eine leise Uhr.
Die Erlen rauschten, obwohl kein Wind ging.
Aro legte den Kopf an Almas Oberschenkel.

Alma schloss die Augen.
„Ich habe dich nicht vergessen“, flüsterte sie.
„Ich habe dich immer gehört.“

Ruben trat einen Schritt zurück, als wolle er den Kreis nicht berühren.
Friederike faltete den Zettel und schob ihn zurück in das Röhrchen.
Sie schraubte es zu und hielt es einen Moment in der Hand.

Die Mauer fühlte sich warm an, obwohl die Luft kühl wurde.
Die Lichter im Kurpark gingen einzeln an.
Ein Kind lachte in der Ferne, dann war wieder Ruhe.

„Darf Aro mit Ihnen ein Stück gehen“, fragte Ruben.
„Nur bis zum Tor“, sagte Alma, und ihre Stimme war sicher.
Sie gingen langsam, der Hund zwischen ihnen, als gehöre er an diesen Ort.

Am Gartentor blieb Aro stehen.
Er sah zu Ruben und dann zu Alma.
Sein Schweif bewegte sich kaum.

„Morgen komme ich wieder“, sagte Ruben.
„Wenn Sie möchten, bringe ich die Fotos von Eberhard mit.“
Friederike nickte und notierte eine Uhrzeit.

Alma legte das alte Halsband wieder auf den Küchentisch.
Sie strich mit dem Füllfederhalter über das Papier, ohne zu schreiben.
Dann hob sie den Kopf und sah in die Dämmerung.

Die Küche roch nach Kaffee und nassem Fell.
Im Flur lag ein feines Haar, das im Licht silbrig wurde.
Friederike hob es auf und legte es in die Holzkiste.

Aro stand draußen am Zaun und wartete, bis Ruben ihn rief.
Seine Silhouette wurde Teil der Dunkelheit.
Dann war nur noch das leise Schlagen des Flusses zu hören.

Auf dem Foto leuchtete die kleine Bank am Forsthaus, als käme Licht aus ihr.
Die Schrift auf der Rückseite wirkte frischer als am Mittag.
Die Tinte hatte den Weg zurück gefunden.

In der Nacht schlief Alma ohne zu murmeln.
Friederike saß am Fenster und hielt das Röhrchen in der Hand.
Sie spürte das Gewicht einer Geschichte, die wieder atmete.

Aus dem Kurpark kam ein kurzer Laut, kein Bellen, eher ein Ruf.
Er war nicht laut, aber klar.
Er hatte die Farbe von bernstein.

Der Fluss antwortete mit einem kaum hörbaren Ton.
Ein Versprechen lag zwischen den Ufern.
Sehr leise und doch ganz nah.

Am Zettel klebte ein Hauch von Moos.

🐾 Teil 3: Ein Name, der nicht vergeht

Der Morgen legte warmes Licht über Bad Orb.
Die Wolken hingen tief am Molkenberg.
Im Garten roch es nach nassem Holz und Spätsommer.

Friederike kochte Haferbrei und Kaffee.
Alma saß am Tisch und hielt das alte Halsband wie eine Tasse.
Ihre Finger ruhten auf dem Metallröhrchen, als lauschten sie.

Es klingelte.
Ruben Saathoff stand vor der Tür.
Neben ihm Aro, der schwarze Rüde mit dem grauen Strich an der Schnauze.

Aro trat einen Schritt in den Flur.
Er schnupperte an den Bodendielen und hob dann den Blick.
Seine Augen blieben an Alma hängen, still und wach.

Ruben legte eine Mappe auf den Tisch.
Darin lagen Fotos, Karton, ein Brief, ein gefalteter Zettel.
„Das ist der Nachlass von Eberhard Teschner, meinem Großonkel“, sagte er.

Friederike öffnete die Mappe.
Auf dem ersten Foto stand ein junger Mann am Forsthaus Roßbach.
Neben ihm ein Hund, hochbeinig, schwarz, die Brust hell wie Reif.

Alma beugte sich darüber.
Ihr Atem wurde ruhig.
Ihre Lippen formten einen Namen, der kein Schmerz mehr war.

Aro legte den Kopf an ihren Oberschenkel.
Die Bewegung war klein und sicher.
Alma schloss die Augen und fuhr ihm mit der Hand über das Fell.

„Darf ich vorlesen“, fragte Friederike und nahm den alten Brief.
Das Papier war brüchig, doch die Tinte hielt.
Der Umschlag trug nur zwei Buchstaben. A und R.

Sie las langsam, damit kein Wort brach.

„Alma, wenn du dies findest, habe ich den Mut nicht gefunden. Der Zug nach Norden geht vor der Dämmerung. Ich sollte an die Brücke kommen, doch ich kann nicht. Mein Vater ist gestürzt, die Hütte ist leer, die Arbeit ruft mich fort. Ich lasse den Hund nicht alleine. Er gehört an diesen Fluss. Ich habe eine Bitte. Bewahre das Halsband. Bring es ein letztes Mal an die Erlenbrücke, wenn du verzeihen kannst. Unter dem Stein am Kreuz liegt etwas für dich. Eberhard.“

Die Küche hörte mit.
Der Kühlschrank brummte wie ein fernes Gewitter.
Niemand sagte etwas.

„Das Kreuz“, flüsterte Alma.
„Das Steinerne Kreuz oberhalb von Roßbach“, sagte Ruben.
Er zeigte auf den gefalteten Zettel in der Mappe.

Es war eine grobe Skizze.
Eine Linie für den Forstweg, ein Punkt für das Forsthaus, ein Kreuz am Hang.
Daneben ein Wort. Ferneiche.

„Das kann nur die alte Eiche am Hang sein“, sagte Ruben.
„Meine Mutter nannte sie immer die Ferneiche, weil sie über das Tal sieht.“
Er legte noch ein Foto auf den Tisch.

Darauf stand das Forsthaus im Licht eines späten Tages.
Ein Tisch im Hof.
Auf der Bank ein Mädchen mit dunklem Zopf, neben ihr der Hund.

Alma legte die Hand auf die Bank auf dem Foto.
Ihre Finger blieben dort, als fühlten sie Holz.
„Ich habe dort gewartet“, sagte sie.

„Fahren wir“, sagte Friederike.
Sie wickelte das Halsband in ein Tuch und steckte es in die Tasche.
Ruben nickte und klopfte Aro sanft auf die Schulter.

Sie fuhren über die Landstraße nach Roßbach.
Die Hügel lagen wie schlafende Tiere im Spessart.
Auf den Wiesen standen runde Ballen, braun wie Brot.

Das Forsthaus war heute eine kleine Wirtschaft.
Ein Schild stand schief im Gras.
Aus der Küche roch es nach Brühe und Lauch.

Eine Frau kam heraus und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
„Hedda Lenzen“, sagte sie und lächelte kurz.
Ihre Augen waren hell und vorsichtig.

Ruben erklärte, wer sie waren.
Hedda nickte und führte sie in die Stube.
Über der Bank hing ein altes Foto vom Waldfest.

„Der Großvater hat viel erzählt“, sagte sie.
„Von dem Hund, der die Leute aus dem Wasser zog. Von einem Mädchen, das an der Brücke stand. Von einem Burschen, der zu spät kam und den Kopf senkte.“
Sie legte einen Schlüssel auf den Tisch.

„Der gehört zu der alten Holztruhe in der Remise. Eberhard hat dort einmal etwas eingeschoben. Mein Vater sollte es aufheben. Vielleicht ist es noch da.“
Hedda sah zu Alma, als präge sie sich ihr Gesicht ein.
„Nehmen Sie sich Zeit.“

Die Remise roch nach Harz und Erde.
Ein schmaler Streifen Licht fiel durch die Bretter.
Im hinteren Winkel stand eine niedrige Truhe, das Schloss blind vor Staub.

Friederike kniete sich neben die Truhe.
Der Schlüssel passte schwer, doch er drehte.
Die Truhe öffnete sich mit einem Laut, als löse sich eine alte Schulter.

Innen lag eine Zigarrenkiste aus Holz.
Sie war mit Bindfaden umwickelt.
Darauf klebte ein Etikett mit zwei Buchstaben. A und R.

Friederike schnitt den Faden auf.
In der Kiste lag ein zusammengerolltes Stück Stoff, ein Taschentuch.
Daneben ein zweites, kleineres Röhrchen aus Metall.

Alma hielt die Luft an.
Der Raum schien kleiner zu werden.
Ruben flüsterte den Namen seines Großonkels.

Friederike schraubte das Röhrchen auf.
Papier, trocken und fest.
Auf dem Zettel standen vier Zeilen.

„Wenn du dies liest, war ich feige. Das Kreuz kennt unseren Schritt. Unten am Stein, wo die Eiche Schatten legt. Ich bitte dich um einen letzten Gang.“

Niemand sprach.
Alma nahm das Taschentuch.
Darin lag ein Stück Leder, dünn wie Haut.

Es war ein abgerissenes Ende eines Hundehalsbandes.
Das Metallstück trug den gleichen Schnitt wie das alte Band auf Almas Tisch.
Ein halbes Ende suchte sein anderes.

Aro trat heran und roch an dem Leder.
Sein Atem wurde tiefer.
Er hob den Kopf und sah zur Tür, als wüsste er den Weg.

Sie stiegen den Hang hinauf.
Der Forstweg war von Regen ausgewaschen.
Zwischen den Pfützen leuchtete roter Sand.

Die Eiche stand wie ein Tor.
Ihr Stamm war dick wie ein Brunnen.
Ein feldgrauer Stein lehnte am Fuß des Baumes.

Es war das Steinerne Kreuz.
Moos hatte seine Kanten weich gemacht.
Im Sockel lag eine flache Vertiefung, halb mit Laub gefüllt.

Ruben kniete sich in den Schatten.
Er strich mit der Hand das Laub zur Seite.
Der Stein fühlte sich an wie kalter Atem.

Aro setzte sich dicht daneben.
Seine Ohren spielten, als hörten sie eine Erinnerung.
Sein Blick blieb an einer Stelle hängen.

„Hier“, sagte Ruben.
Seine Finger fanden etwas Hartes unter dem feuchten Sand.
Es gab nach wie eine Blechdose.

Friederike holte ein Taschenmesser aus der Jacke.
Sie lösten das Ding aus dem Erdreich.
Es war eine kleine, flache Dose, verrostet, doch geschlossen.

Alma stand ganz nah.
Ihre Hände zitterten, doch ihr Blick war ruhig.
Der Wind strich einmal über die Wiese und schwieg wieder.

„Soll ich öffnen“, fragte Friederike.
Alma nickte.
Ihre Lippen formten ein leises Ja.

Das Messer hob den Deckel an.
Der Rost brach in kleinen Geräuschen.
Die Dose gab nach.

Innen lag ein zusammengefaltetes Fotopapier.
Darunter eine Messingmarke, rund und glatt.
Daneben ein kurzer Brief in fester Schrift.

Friederike nahm zuerst die Marke.
Sie trug eine Nummer, keine Adresse, nur eine Zahl und den Namen Aro.
Auf der Rückseite stand ein Datum. September 1955.

Alma streifte mit dem Daumen über die Zahl.
Ihr Atem war ein Flüstern.
Die Zahl schien die Luft zu ordnen.

Dann entfaltete Friederike das Foto.
Darauf stand Alma an der Erlenbrücke.
Neben ihr der Hund, groß, wach, das Fell dunkel wie Regen.

Hinter ihnen ein Mann mit Schultertasche.
Er hob die Hand, als wolle er treten und doch bleiben.
Sein Blick ging zu Alma und darüber hinaus.

„Eberhard“, sagte Alma.
Ihr Gesicht wurde weich wie Brot.
Sie hielt das Bild, als wäre es warm.

Ruben nahm den Brief.
Seine Stimme blieb leise, doch sie trug.
Er las.

„Alma, ich kam in der Dämmerung. Du warst schon fort. Ich war zu spät. Ich habe das Halsband an den Hund gelegt und ihn über die Wiese geschickt. Er fand dich nicht. Ich lasse hier, was ich sagen wollte. Wenn du dies findest, bring das alte Band an die Eiche. Dann gehört der Kreis euch, nicht mir. Eberhard.“

Die Eiche stand und hörte zu.
Ein Vogel rief aus dem heckenhellen Rand.
Die Wiese lag still wie ein Bett.

Aro legte die Pfote an den Sockel des Kreuzes.
Er tat es ohne Aufforderung, als legte er ein Siegel.
Seine Nase berührte die schmale Fuge im Stein.

Friederike beugte sich.
In der Fuge lag etwas, das nicht Moos war.
Ein dunkler Schimmer im Schatten.

Sie zog es vorsichtig heraus.
Es war ein zweites Röhrchen, schmaler als die anderen.
Am Rand klebte Erde, doch das Metall war ganz.

Alma hielt es an die Stirn.
Ihre Augen wurden klar.
Sie nickte, als hätte sie eine Entscheidung gehört.

„Zu Hause“, sagte Friederike.
„Am Tisch“, sagte Alma.
Ruben stand auf und hob die Dose vom Boden.

Der Hang lag hinter ihnen wie ein Band.
Der Forstweg zog in die Tiefe.
Aro ging zwischen ihnen und trug die Ruhe voran.

Als sie am Forsthaus vorbeikamen, winkte Hedda aus der Tür.
Ihre Hand blieb lange in der Luft.
Sie sah ihnen nach, als wüsste sie, was noch fehlte.

Im Auto sprach niemand.
Der Motor summte wie ein ferner Fluss.
Die Karte mit dem Kreuz lag auf Friederikes Knie.

Sie erreichten Bad Orb am späten Nachmittag.
Die Luft roch nach Brot und nassem Stein.
Im Haus war es still, doch nicht leer.

Auf dem Küchentisch lag das alte Halsband bereit.
Die Holzfasern der Platte glänzten im Schräglicht.
Aro setzte sich neben die Bank und wartete.

Friederike schraubte das schmale Röhrchen an.
Das Gewinde lief sauber, als hätte es nie Erde gesehen.
Ein winziger Papierstreifen rutschte heraus und blieb an ihrem Finger kleben.

Alma beugte sich vor.
Ihr Atem streifte Friederikes Hand wie ein Segen.
Ihre Stimme war fest wie ein Stein im Wasser.

„Lies.“

Und dann stand nur ein einziger Satz im Raum, leise und unaufhaltsam.
Ein Satz, der Türen aufschloss, die niemand mehr kannte.
„Morgen, zur letzten Stunde des Lichts, an der Bank im Kurpark.“

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