🐾 Teil 4: Spuren in der Vergangenheit
Der Zettel lag auf dem Küchentisch, klein und unscheinbar, doch er brannte wie eine Fackel.
„Morgen, zur letzten Stunde des Lichts, an der Bank im Kurpark.“
Alma starrte darauf, als hätte sie eine Botschaft aus einer Welt erhalten, die längst verschlossen war.
Friederike nahm den Streifen Papier vorsichtig in die Hand.
„Oma, das muss über siebzig Jahre alt sein. Es ist nicht möglich, dass…“
Sie verstummte, weil Alma sie ansah. Es war kein Blick einer Kranken, kein Blick der Verwirrung. Es war der klare, feste Blick eines Mädchens von siebzehn Jahren, das wusste, dass ihr Hund auf sie wartete.
„Er hat mich gerufen“, flüsterte Alma. „Aro hat nie gelogen.“
Ruben stand am Fenster, sein Hund lag wachsam zu seinen Füßen. Aro hob bei Almas Stimme den Kopf, als habe er das Wort aus der Luft gefangen.
„Vielleicht sollten wir hingehen“, sagte er leise. „Manchmal trägt ein Ort Antworten in sich.“
Friederike presste die Lippen zusammen. Es klang absurd. Aber gleichzeitig fühlte sie, wie ihr Herz schneller schlug, als habe jemand eine unsichtbare Tür geöffnet.
Die Nacht war still, doch Friederike schlief kaum. Immer wieder hörte sie in der Dunkelheit ein Kratzen, ein Scharren, fast wie das Tappen von Pfoten auf altem Holz. Wenn sie aufstand und in den Flur ging, war da nichts. Nur das Mondlicht auf den Dielen.
Am Morgen war Alma ungewöhnlich wach. Sie aß ein ganzes Brötchen, trank ihren Kaffee und bat um das dunkelblaue Kleid, das seit Jahren nicht mehr aus dem Schrank genommen worden war. Friederike half ihr hinein. Das Kleid hing lose an der alten Frau, doch es stand ihr, als hätte es auf diesen Tag gewartet.
„Heute gehen wir an die Bank“, sagte Alma schlicht.
Sie verließen das Haus am späten Nachmittag. Ruben führte Aro an der Leine, doch der Hund zog kaum. Er ging langsam, mit ruhigen, fast würdevollen Schritten. Die Sonne hing tief, das Licht wurde weich, die Schatten lang.
Der Kurpark von Bad Orb war beinahe leer. Nur ein älteres Paar schlenderte am Gradierwerk vorbei, und ein Kind fuhr im Zickzack mit dem Fahrrad. An der Biegung des Weges stand die Bank. Eine einfache Holzbank, verwittert, von Moos berührt.
Alma blieb stehen, bevor sie sich setzte. Ihre Hände tasteten über die Lehne, als müsse sie das Holz erkennen. Dann ließ sie sich nieder, schwer, aber mit einem Ausdruck von Erwartung im Gesicht.
Friederike setzte sich neben sie, Ruben blieb einen Schritt zurück. Aro stand vor der Bank, starrte in die sinkende Sonne und legte dann plötzlich die Nase auf die Bohlen. Er schnupperte lang, als suche er eine Spur, die andere längst vergessen hatten.
Die Minuten vergingen. Das Licht veränderte sich. Es wurde goldener, fast durchsichtig. Die Vögel verstummten, nur das leise Rauschen der Bäume war zu hören.
Da geschah es.
Ein Windzug fuhr durch den Park, obwohl die Luft vorher still gewesen war. Aro hob den Kopf, die Ohren gespitzt, und stieß einen Laut aus. Kein Bellen, kein Knurren. Es war ein Ton, der irgendwo zwischen Ruf und Erinnerung lag.
Alma griff nach dem Halsband, das sie mitgebracht hatte. Sie legte es auf ihre Knie, strich mit den Fingern über das Metall, als würde sie es polieren. Ihre Augen waren voller Tränen, doch ihre Stimme war fest.
„Ich bin da, Aro. Ich bin endlich gekommen.“
Friederike hielt die Luft an. Es war, als habe sich die Welt um sie herum verändert. Die Farben waren klarer, das Rauschen des Orb klang tiefer. Ein Augenblick, in dem die Grenze zwischen Gestern und Heute dünn wurde.
Ruben sah auf seine Uhr. Es war kurz vor Sonnenuntergang. „Die letzte Stunde des Lichts“, murmelte er.
Da hörten sie es.
Pfoten auf Kies.
Ein leises Trippeln, das näherkam, doch der Weg war leer.
Aro spannte den Körper, doch er blieb still. Sein Blick folgte der Bewegung, die niemand sehen konnte, außer vielleicht er.
Alma hob die Hand, langsam, als wolle sie jemanden begrüßen.
„Ich habe dich nie vergessen“, sagte sie in die Luft. „Nie.“
Friederike spürte, wie ihr Herz raste. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Stimme versagte. Dann legte sich eine Stille über den Park, so dicht, dass selbst das Atmen fremd klang.
Und plötzlich hörte sie es auch.
Ein kurzes, tiefes Bellen, nicht von Rubens Hund, sondern von woanders.
Ein Laut, der durch die Zeit gekommen sein musste.
Alma lächelte.
Ihre Schultern wurden leicht, ihre Hände hörten auf zu zittern.
„Da bist du ja“, flüsterte sie.
Tränen liefen Friederike über die Wangen. Sie sah nichts, außer der alten Bank und der Dämmerung. Doch sie fühlte, dass etwas da war. Etwas, das die Jahrzehnte überlebt hatte.
Ruben legte vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter. Er sagte nichts. Auch er hatte gehört, was nicht sein konnte.
Die Sonne sank tiefer, bis die Bank im Schatten lag. Alma hielt noch immer das Halsband, und in diesem Moment schien es zu leuchten, nicht mit Licht, sondern mit Erinnerung.
Dann war es vorbei. Der Wind legte sich. Die Geräusche des Parks kehrten zurück. Das Kind lachte in der Ferne, eine Amsel rief.
Alma schloss die Augen, das Halsband an die Brust gedrückt.
„Er hat gewartet“, sagte sie. „All die Jahre.“
Friederike umarmte sie, fest, als könne sie ihre Großmutter im Jetzt halten, wenn schon die Vergangenheit kam, um sie zu holen.
Sie saßen noch lange auf der Bank, bis die Dunkelheit den Park füllte. Ruben führte Aro dicht neben ihnen, der Hund schaute kein einziges Mal weg von Alma.
Auf dem Heimweg schwieg jeder. Nur Alma summte leise eine Melodie, die niemand kannte, außer vielleicht ein Hund, der vor siebzig Jahren im Schnee gefunden worden war.
Im Haus legte Friederike das Halsband wieder in die Holzkiste. Diesmal schloss sie den Deckel nicht. Sie ließ es offen, als dürfe die Erinnerung frei atmen.
Alma schlief in dieser Nacht tief und ohne ein einziges unruhiges Wort.
Friederike blieb lange am Fenster. Sie hoffte auf ein Bellen, ein Zeichen. Doch die Nacht war still.
Und doch, kurz vor dem Einschlafen hörte sie ein leises Scharren an der Gartentür.
Als sie am Morgen hinausging, fand sie im Tau zwei Pfotenabdrücke.
Sie waren frisch.
Sie sah zu Aro, der im Gras lag und sie still ansah.
Aber die Abdrücke waren größer als seine.
Der Fluss rauschte im Hintergrund.
Die Bäume standen still.
Und Friederike wusste, dass das Rätsel erst begonnen hatte.
Denn irgendwo zwischen Vergessen und Erinnerung wartete eine Wahrheit, die niemand von ihnen geahnt hatte.