🐾 Teil 5: Der Hund am Waldrand
Der Morgen nach den Abdrücken war kühl und klar. Tau hing wie feine Perlen auf dem Gras, und die Sonne stieg langsam über den Molkenberg. Friederike stand im Garten, die Arme verschränkt, und starrte auf die Stellen im Tau, wo zwei deutliche Pfotenabdrücke zu sehen waren. Sie waren tiefer, größer als die ihres Gastes Aro. Und doch war der Boden ringsum unberührt, als habe nur ein einziges Wesen den Weg zum Zaun genommen.
Alma trat leise hinter sie, gestützt auf ihren Stock. Sie wirkte hellwach, fast jugendlich. „Er war hier“, sagte sie, als sei das die einfachste Tatsache der Welt.
„Oma“, begann Friederike vorsichtig, „das kann nicht sein. Aro schläft drinnen, und andere Hunde kommen hier nicht hin.“
Alma lächelte nur. „Es gibt Dinge, die nicht durch Zäune gehalten werden.“
Friederike schwieg. Ein Teil von ihr wollte widersprechen, den klaren Verstand behalten. Doch die Spuren im Tau schwiegen lauter als jede Vernunft.
Beim Frühstück redeten sie wenig. Ruben kam später mit seinem Hund vorbei. Aro trottete durch den Flur, schnupperte an den Abdrücken, und gab einen Laut von sich, der seltsam tief und zustimmend klang. Er setzte sich dann vor die Kiste mit dem alten Halsband und blieb einfach dort, als hielte er Wache.
Ruben legte weitere Unterlagen auf den Tisch. „Ich habe gestern noch in den Aufzeichnungen meines Großonkels gelesen“, erklärte er. „Er schrieb, dass Aro in der Nacht vor seiner Abreise verschwunden war. Niemand wusste, wohin. Aber im Dorf ging damals das Gerücht um, der Hund sei immer wieder gesehen worden, auch Jahre später.“
„Immer derselbe Hund?“, fragte Friederike.
Ruben nickte. „Groß, schwarz, mit einem hellen Brustfleck. Manche sagten, es sei nur Einbildung. Aber die Beschreibungen waren immer gleich.“
Alma legte ihre Hand auf das Halsband. „Er ist nicht verschwunden. Er hat gewartet.“
Die Worte fielen in den Raum wie Steine ins Wasser. Friederike merkte, wie sie selbst innerlich unruhig wurde. Etwas an der Klarheit von Almas Stimme ließ keinen Widerspruch zu.
Am Nachmittag schlug Ruben vor, ins Dorf zu gehen und die älteren Leute zu befragen. Vielleicht gäbe es noch jemanden, der sich an den Hund erinnerte. Friederike war einverstanden, und Alma bestand darauf, sie zu begleiten.
Sie gingen zu dritt durch die Gassen von Bad Orb, Aro neben ihnen, das Halsband in einer Tasche. In der Bäckerei an der Hauptstraße stand eine Frau mit weißem Haar hinter der Theke. Ihr Name war Erna Wilbrandt, sie war über neunzig und sprach noch mit fester Stimme.
„Aro?“, wiederholte sie, als sie gefragt wurde. „Ja, den Namen habe ich gehört. Ein Hund, der mehr war als ein Hund.“ Sie lächelte dünn. „Meine Mutter erzählte, er habe einmal ein Kind aus dem Bach gezogen. Das Mädchen hieß Alma, wenn ich mich recht erinnere.“
Friederike sah zu ihrer Großmutter. Alma nickte leise, ohne ein Wort.
„Und später?“, fragte Ruben.
„Später hieß es, man habe ihn gesehen, immer wieder, auch als er längst nicht mehr leben konnte. Manche sagten, er gehöre zu diesem Tal. Ein Wächter.“ Erna legte die Hände auf die Theke. „Wissen Sie, in diesen Hügeln halten sich Geschichten. Sie verschwinden nicht.“
Auf dem Rückweg spürte Friederike, wie die Worte in ihr nachhallten. Ein Wächter. Ein Hund, der nicht verschwand. Sie dachte an die Pfotenabdrücke im Tau, an das unsichtbare Bellen im Kurpark. Alles schien sich zu verweben.
Am Abend nahm Alma ihre Enkelin beiseite. „Kind, ich will dir etwas erzählen, bevor es wieder fortgeht.“
Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Das Licht war warm, der Geruch nach alten Büchern hing in der Luft. Alma sprach langsam, fast singend, als käme jedes Wort von weit her.
„Es war Winter 1952. Ich war siebzehn. Die Nächte waren so kalt, dass das Wasser im Eimer neben dem Bett fror. Ich ging oft allein durch den Wald, weil ich Ruhe brauchte von den Stimmen im Haus. Mein Vater war hart, meine Mutter still, und ich fühlte mich wie ein Gast im eigenen Leben.“
Ihre Augen glänzten, während sie sprach.
„Eines Abends hörte ich ein Winseln. Unter einer Fichte lag er, halb im Schnee begraben. Sein Fell war voller Eis, und doch hob er den Kopf, als hätte er auf mich gewartet. Ich trug ihn nach Hause, obwohl er fast so schwer war wie ich selbst. Ich legte ihn ans Feuer, und er schlief drei Tage. Danach wich er mir nicht mehr von der Seite.“
Alma lächelte bei der Erinnerung. „Ich nannte ihn Aro. Warum, weiß ich nicht. Der Name kam einfach. Er war wild, aber er verstand mich. Wenn ich weinte, legte er den Kopf auf meinen Schoß. Wenn ich lachte, sprang er hoch wie ein Tänzer. Ich habe ihm Geheimnisse erzählt, die ich keinem Menschen gesagt habe.“
Friederike hörte still zu. Sie spürte, wie sich eine unsichtbare Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart spannte.
„Und Eberhard?“, fragte sie vorsichtig.
Alma nickte langsam. „Er war ein junger Mann aus Roßbach. Wir trafen uns am Bach, wenn ich mit Aro ging. Er brachte mir Bücher, erzählte von der Welt außerhalb des Tals. Wir wollten fortgehen, zusammen. Doch dann kam seine Pflicht. Die Arbeit, die Familie, das Versprechen. Er ging, und ich blieb.“
Eine Träne lief ihr über die Wange. „Aber Aro blieb auch. Er war mein Trost. Bis zu dem Tag, als er fortlief. Ich suchte ihn, tagelang. Ich dachte, ich hätte ihn verloren. Doch nun weiß ich: Er war nicht weg. Er hat gewartet. Nur nicht mehr für mich allein.“
Friederike nahm die Hand ihrer Großmutter. Die Haut war dünn wie Papier, aber die Wärme lebendig. „Oma, vielleicht war er mehr als nur ein Hund.“
Alma lächelte schwach. „Vielleicht war er das, was uns miteinander verbindet, über Zeit und Blut hinaus.“
In dieser Nacht träumte Friederike von einer Brücke. Sie stand dort mit ihrer Großmutter, und neben ihnen lief ein schwarzer Hund, leichtfüßig, voller Kraft. Am anderen Ende wartete ein Mann mit Büchern unter dem Arm. Der Traum löste sich in Licht auf, bevor sie ihn erreichen konnte.
Am nächsten Morgen fanden sie im Garten wieder Spuren. Diesmal führten sie nicht zum Zaun, sondern zum Fenster, unter dem die Kiste mit dem Halsband stand. Die Abdrücke waren klar, jeder Zeh sichtbar, größer als die eines gewöhnlichen Hundes.
Ruben untersuchte sie, kniete im Gras und legte seine Hand daneben. „Das hier“, sagte er, „ist keine Täuschung. Diese Spuren sind frisch. Wer auch immer sie hinterlässt, er ist wirklich da.“
Alma trat hinzu, stützte sich auf ihren Stock und sah lange auf die Abdrücke. Dann hob sie den Blick zum Himmel. „Es ist Zeit. Er will uns etwas zeigen.“
Friederike fröstelte. „Aber was?“
Alma legte ihre Hand auf das Halsband. „Das werden wir nur erfahren, wenn wir weitergehen. Die Spur ist noch nicht zu Ende.“
Und in diesem Moment erhob sich Aro, Rubens Hund, stellte sich neben die Spuren und begann zu laufen, als wüsste er genau, wohin sie führten.
Sie sahen sich an. Dann folgten sie ihm.
Denn hinter den Hügeln wartete eine Wahrheit, die seit Generationen unter dem Schweigen des Spessarts verborgen lag.