Brief an einen Hund | Eine alte Frau, ein Hund aus vergessenen Jahren und ein Geheimnis, das Zeit und Tod besiegt

🐾 Teil 6: Kriegskinder und heimliche Freundschaft

Die Sonne stand hoch, doch der Wald am Rand von Bad Orb wirkte kühl und dunkel. Aro lief voran, den Kopf tief, die Schritte sicher, als habe er einen unsichtbaren Weg im Boden gespürt. Friederike und Ruben folgten dicht hinter ihm, Alma etwas langsamer, gestützt auf ihren Stock, doch mit einer Entschlossenheit, die ihre Jahre vergessen ließ.

Der Pfad schlängelte sich den Hang hinauf, vorbei an Buchenstämmen, die wie Säulen standen. Das Licht fiel in flimmernden Streifen auf den Boden. Immer wieder sahen sie Abdrücke im weichen Laub, groß, deutlich, fast frisch. Spuren, die niemand erklären konnte.

Alma blieb stehen, legte die Hand auf einen Stamm und schloss die Augen. „Ich kenne diesen Weg“, sagte sie leise. „Hier bin ich mit Aro gelaufen, so viele Male. Wir sind den Hügel hinauf, wenn ich allein sein wollte. Er lief immer ein Stück voraus, als würde er den Weg schon kennen, noch bevor ich ihn kannte.“

Ihre Stimme hatte eine Klarheit, die Friederike erschreckte. Für einen Moment war es, als sei die Demenz verschwunden, als habe die Erinnerung die Krankheit zurückgedrängt.

„Wohin führt der Weg?“, fragte Ruben.

„Zur Ferneiche“, antwortete Alma. „Dort oben habe ich ihm zum ersten Mal versprochen, dass ich ihn nie verlassen werde.“

Aro hob plötzlich den Kopf, seine Ohren stellten sich, und er lief schneller. Friederike musste anziehen, um mitzuhalten. Die Spuren führten tiefer in den Wald, der Boden war feucht, der Geruch nach Erde und Moos stark.

Nach einer halben Stunde erreichten sie eine Lichtung. In der Mitte stand eine alte Eiche, ihr Stamm breiter als drei Männerarme. Hier war die Luft still, als hielte der Baum den Atem an.

Alma trat vor, langsam, aber ohne Zögern. Sie legte die Hand auf die Rinde, strich über das raue Holz, als streichle sie ein vertrautes Gesicht. „Hier hat er mich gefunden“, flüsterte sie. „Als ich im Schnee lag und dachte, ich erfriere. Ich war weggelaufen, weil ich alles nicht mehr ertragen konnte. Und dann kam er. Er leckte mein Gesicht, bis ich die Augen wieder öffnete. Er hat mir das Leben geschenkt.“

Friederike legte eine Hand auf die Schulter ihrer Großmutter. Sie spürte, wie tief diese Erinnerung in Alma verankert war.

„Schaut“, sagte Ruben plötzlich. Am Fuß der Eiche lag ein kleiner Haufen Erde, frisch aufgewühlt, als hätte jemand oder etwas dort gegraben. Zwischen den Wurzeln schimmerte Metall.

Sie knieten sich hin. Mit den Händen schoben sie den feuchten Boden beiseite. Zum Vorschein kam eine kleine Dose, verrostet, aber erkennbar alt. Friederike öffnete sie vorsichtig. Darin lag ein Foto, halb zerfallen, und ein Stück Papier, das kaum noch zu lesen war.

Das Foto zeigte Alma als junge Frau. Neben ihr stand Eberhard, und zwischen ihnen saß der schwarze Hund. Die Gesichter waren verschwommen, doch die Nähe, die zwischen ihnen herrschte, war unübersehbar.

Das Papier trug nur wenige Worte, doch sie waren klar genug. „Wenn ihr dies findet, gehört er euch. Er wird bleiben, solange ihr ihn nicht vergesst.“

Alma begann zu weinen. Sie hielt das Foto an ihre Brust, als wolle sie es in ihr Herz zurückdrücken. „Er hat sein Versprechen gehalten“, murmelte sie. „Eberhard wusste, dass Aro mehr war als nur ein Hund.“

In diesem Moment bellte Rubens Hund. Es war ein tiefer, klarer Ton, doch er blickte nicht auf sie, sondern ins Dickicht. Alle drehten sich um. Zwischen den Bäumen schimmerte ein Schatten. Groß, schwarz, die Konturen undeutlich, doch unverkennbar die Gestalt eines Hundes.

Friederike spürte, wie ihr Herz raste. Sie wollte blinzeln, doch wagte es nicht. Der Schatten stand still, fast ehrwürdig, und dann verschwand er lautlos, als habe ihn der Wald aufgenommen.

Alma nickte nur. „Er zeigt sich. Aber noch nicht ganz. Wir müssen weiter.“

Sie folgten dem Pfad, der sich hinter der Eiche den Hang hinunterwand. Aro lief jetzt unruhiger, mal vorn, mal zurück, als sei er selbst zwischen zwei Welten. Der Weg führte sie zu einem Bach, dessen Wasser über Steine rauschte.

„Hier“, sagte Alma, und ihre Stimme bebte. „Hier hat er mich aus den Fluten gezogen. Ich war gefallen, das Wasser riss mich fort, und niemand war da. Nur er. Er packte mein Kleid mit den Zähnen und zog mich ans Ufer. Ich weiß noch, wie ich in seinen Augen sah, dass er niemals aufhören würde zu kämpfen.“

Friederike kniete am Ufer nieder. Sie konnte es sich bildlich vorstellen: ein junges Mädchen, vom Wasser fortgerissen, und ein Hund, der sich gegen die Strömung stemmte. Es war keine gewöhnliche Geschichte. Es war ein Band, das über das Leben hinausging.

Sie überquerten den Bach über eine schmale Brücke. Der Wald wurde dichter, die Schatten tiefer. Die Spuren führten weiter, immer weiter, bis der Weg plötzlich endete. Vor ihnen lag eine kleine Lichtung mit einem verfallenen Schuppen, kaum mehr als ein Haufen Bretter und Steine.

„Das war einmal ein Jägerunterstand“, erklärte Ruben. „Mein Großonkel hat ihn oft erwähnt. Vielleicht war das der Ort, an dem er Aro zurückließ.“

Sie traten ein. Der Schuppen roch nach feuchtem Holz und Erde. In einer Ecke lag ein alter Napf aus Emaille, halb zerbrochen, mit Moos überwuchert. Alma kniete sich nieder, hob den Napf vorsichtig an und strich mit den Fingern darüber.

„Das war seiner“, sagte sie leise. „Hier hat er gewartet, wenn ich nicht kommen konnte. Ich höre ihn noch, wie er vor Freude winselte, wenn ich endlich erschien.“

Ein Windstoß fuhr durch die Ritzen der Wände. Alma drehte sich um, ihre Augen glänzten. „Er will, dass wir alles sehen. Damit nichts verloren geht.“

Friederike spürte eine Gänsehaut. Sie fühlte, dass dies nicht mehr nur die Suche nach Erinnerungen war. Es war, als führe Aro sie selbst, Schritt für Schritt, tiefer in eine Wahrheit, die größer war als die Zeit.

Als sie den Schuppen verließen, war die Sonne bereits im Sinken. Der Himmel färbte sich rötlich, und der Wald wurde still. Sie machten sich auf den Rückweg, doch Alma blieb noch einmal stehen.

Sie blickte zurück in die Schatten zwischen den Bäumen. „Danke“, sagte sie laut und klar. „Für alles, was du mir gegeben hast.“

Ein fernes Bellen antwortete, leise, aber deutlich.

Ruben sah Friederike an. „Hast du das gehört?“

Friederike nickte stumm.

Sie gingen weiter, und das letzte Licht des Tages brach durch die Äste. Alma wirkte aufrecht, fast wie das Mädchen von damals, und hielt das Foto fest an sich.

Als sie das Dorf erreichten, war die Dunkelheit gefallen. Im Haus legte Friederike das Foto und den Zettel behutsam zu den anderen Fundstücken. Sie spürte, dass sich ein Kreis schloss, doch zugleich ein neuer begann.

Alma saß am Fenster, blickte in die Nacht und flüsterte: „Er hat uns noch nicht alles gezeigt.“

Und in der Ferne, tief aus dem Wald, antwortete ein einzelnes Bellen.

Denn die nächste Spur wartete bereits im Dunkel, dort, wo Erinnerung und Gegenwart eins wurden.

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