🐾 Teil 7: Das Versprechen am Fluss
Die Nacht senkte sich wie ein dunkler Schleier über Bad Orb. Friederike lag wach in ihrem Zimmer, das Fenster geöffnet, damit die kühle Luft des Spessarts hereinströmen konnte. Doch statt Ruhe brachte die Nacht nur eine seltsame Erwartung mit sich. Immer wieder glaubte sie, ein Scharren zu hören, ein fernes Trippeln im Garten, so leise, dass sie nicht wusste, ob es wirklich existierte oder nur in ihrem Kopf.
Am Morgen saß Alma bereits angekleidet am Tisch. Ihre Augen wirkten klar, fast jugendlich. Sie hatte das alte Foto in der Hand, das sie am Vortag in der Dose gefunden hatten. Immer wieder strich sie darüber, so sanft, als könnte sie damit die Zeit zurückdrehen.
„Heute will er mehr zeigen“, sagte sie leise, ohne aufzusehen.
Friederike legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wer, Oma?“
„Aro“, antwortete Alma, so selbstverständlich, als hätte sie von einem Nachbarn gesprochen.
Noch bevor Friederike etwas erwidern konnte, kam Ruben mit seinem Hund herein. Aro sprang nicht wie gewöhnlich an ihnen hoch. Stattdessen setzte er sich still an den Tisch, legte den Kopf auf die Bank und starrte auf das alte Halsband. Seine Augen wirkten dunkel und tief, als lauschten sie auf eine Stimme, die niemand außer ihm hören konnte.
Ruben stellte eine Mappe auf den Tisch. „Ich habe noch weitere Unterlagen aus dem Nachlass meines Großonkels gefunden. Briefe, die er nie abgeschickt hat. Sie sind an Alma gerichtet.“
Friederike öffnete die Mappe. Die Schriftzüge waren schwungvoll, jung, voller Dringlichkeit. Einer der Briefe zog sie besonders an. Er begann mit den Worten:
„Wenn ich fortgehe, verlierst du nicht nur mich. Du verlierst auch ihn. Aber glaube mir, er wird nicht sterben wie andere Hunde. Aro ist an uns gebunden, an unsere Geschichte. Er wird bleiben, solange wir ihn brauchen.“
Friederike las die Zeilen laut vor. Währenddessen schloss Alma die Augen, und ihre Lippen bewegten sich lautlos, als würde sie jedes Wort mitsprechen.
„Es ist wahr“, flüsterte sie schließlich. „Er hat es gewusst.“
Sie beschlossen, noch am selben Tag zu der alten Erlenbrücke zurückzukehren. Vielleicht lag dort der nächste Hinweis, vielleicht würde sich das Geheimnis endgültig öffnen.
Der Weg zur Brücke führte sie durch den Kurpark. Die Sonne hing tief, das Licht flackerte durch die Blätter, und der Fluss rauschte dunkel und beständig. Alma ging langsamer, doch sie bestand darauf, ohne Hilfe zu laufen. Jeder Schritt war, als ginge sie zurück in die Vergangenheit.
An der Brücke blieben sie stehen. Das Wasser glitt unter ihnen dahin, als trüge es Erinnerungen wie Kiesel mit sich. Alma legte ihre Hand auf das Geländer. „Hier hat er auf mich gewartet. Immer.“
Friederike sah in den Fluss und stellte sich ihre Großmutter als junges Mädchen vor. Ein Mädchen, das von einem Hund gerettet wurde und von einer Liebe, die nie erfüllt werden konnte.
Plötzlich spannte sich Rubens Hund an. Aro stellte die Ohren auf, starrte in das dichte Gebüsch am Ufer und knurrte leise. Friederike folgte seinem Blick. Etwas bewegte sich dort, ein Schatten, kaum greifbar.
Dann hörten sie es: ein Bellen, tief, klar, nicht von Rubens Hund. Es kam von der anderen Seite des Flusses. Ein Laut, der durch Mark und Bein ging.
Alma richtete sich auf. „Er ruft“, sagte sie. Ihre Stimme bebte, aber nicht vor Angst, sondern vor Gewissheit.
Ohne nachzudenken trat Friederike ein Stück näher ans Geländer. Das Bellen hallte noch einmal durch den Wald, dann wurde es still. Nur das Rauschen des Wassers blieb.
„Wir müssen hinüber“, sagte Alma.
Der Fluss war hier nicht breit, doch das Ufer auf der anderen Seite war steil und schwer zugänglich. Ruben überlegte kurz und nickte dann. „Es gibt einen Pfad ein Stück weiter oben. Wir können es versuchen.“
Sie folgten dem Weg am Fluss entlang, bis sie eine Stelle fanden, wo ein schmaler Holzsteg den Übergang ermöglichte. Vorsichtig gingen sie hinüber. Rubens Hund lief voran, als habe er genau gewusst, wohin er musste.
Auf der anderen Seite führte der Pfad steil den Hang hinauf. Der Boden war feucht, und sie mussten sich an den Ästen festhalten, um nicht zu rutschen. Alma ging erstaunlich sicher, ihre Augen glänzten, als folge sie einer Erinnerung, die ihr den Weg wies.
Nach einer halben Stunde erreichten sie eine kleine Lichtung. In der Mitte stand ein verfallener Brunnen, umgeben von alten Steinen, die halb im Boden versunken waren. Das Moos hatte sie fast verschluckt, doch die runde Form war noch erkennbar.
„Hier“, sagte Alma mit bebender Stimme. „Hier hat er mich hergeführt, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Ich saß am Rand des Brunnens und sprach zu ihm, und er hörte zu, so still, als hätte er jedes Wort verstanden.“
Friederike ging zum Brunnen und beugte sich hinunter. Unten lag Wasser, schwarz und unbewegt, wie ein Spiegel der Vergangenheit. Am Rand entdeckte sie eingeritzte Buchstaben. Sie bürstete das Moos vorsichtig beiseite.
„A + E + Aro“, las sie laut.
Alma kniete nieder, ihre Finger tasteten die Zeichen, als spürte sie die Hände ihrer Jugend wieder. Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Ich dachte, es sei längst verschwunden. Aber es ist noch da. So wie er.“
In diesem Moment ertönte erneut ein Bellen, diesmal näher, fast greifbar. Rubens Hund sprang auf, doch statt vorwärts zu drängen, setzte er sich still hin und legte den Kopf schräg, als lauschte er einem alten Freund.
Aus dem Wald trat ein Schatten, groß und dunkel. Für einen Atemzug war er deutlich zu sehen: ein Hund, hoch, kräftig, mit leuchtenden Augen. Er stand am Rand der Lichtung, sah zu Alma und bewegte den Schweif, langsam, fast feierlich.
Friederike hielt den Atem an. Ruben flüsterte: „Das ist unmöglich.“
Alma stand auf, so gerade, wie sie seit Jahren nicht mehr gegangen war. Sie streckte die Hand aus. „Aro.“
Der Schatten hielt inne. Dann drehte er sich langsam um, ging einige Schritte zurück in den Wald und blieb noch einmal stehen, als wolle er sie auffordern, ihm zu folgen.
„Er will uns führen“, sagte Alma. „Noch ist es nicht zu Ende.“
Sie verließen die Lichtung und gingen tiefer in den Wald. Der Schatten blieb immer in Sichtweite, nie ganz greifbar, doch immer nah genug, dass sie wussten, wohin sie mussten. Der Pfad führte sie höher, hinauf zu einer Anhöhe, von der man weit ins Tal blicken konnte.
Dort blieb der Schatten stehen. Er hob den Kopf, stieß ein letztes Bellen aus und verschwand. Zurück blieb nur der Wind, der durch die Bäume fuhr.
Alma sank auf eine Bank aus Stein, die halb überwuchert war. Sie atmete schwer, doch ihre Augen strahlten. „Er hat uns hierhergebracht. Weil hier die Wahrheit liegt.“
Friederike setzte sich neben sie, legte den Arm um ihre Schultern und spürte, dass dieser Ort der Schlüssel sein musste. Der Wind roch nach Erde, nach alten Zeiten, nach etwas, das noch nicht ausgesprochen war.
Und in der Ferne schlug eine Kirchturmuhr. Sie zählte sieben Schläge, die über das Tal hallten.
Alma lächelte. „Die Zeit läuft nicht gegen uns. Sie läuft für ihn.“
Denn unter den Steinen dieser Anhöhe ruhte etwas, das ihre Familie für immer verändern würde.