Brief an einen Hund | Eine alte Frau, ein Hund aus vergessenen Jahren und ein Geheimnis, das Zeit und Tod besiegt

🐾 Teil 8: Die Jahre der Trennung

Die Anhöhe lag still unter dem Mittagshimmel.
Der Wind strich über die Gräser und trug den Geruch von trockenem Laub.
Unten im Tal glänzte der Orb wie eine schmale Klinge.

Aro stand am Rand der Steintafel und setzte die Nase tief an den Boden.
Er atmete langsam, als lese er in einer alten Schrift.
Dann kratzte er mit der Pfote an einer Stelle, die flach wirkte und doch hohl klang.

Ruben kniete hin und legte die Hand auf die Platte.
Der Stein war kühl und vibrierte, als arbeite darunter ein Herz.
„Hier ist etwas“, sagte er leise.

Friederike holte ihr Taschenmesser.
Sie lockerten Erde und Wurzeln, hoben die Platte an einer Kante an.
Ein Geruch nach feuchtem Holz und altem Eisen stieg auf.

Unter dem Stein lag eine flache Kiste aus dunklem Holz.
Die Kanten waren mit Harz verschmiert, als habe jemand sie gegen Regen versiegelt.
Alma stand dicht dahinter und atmete, als zähle sie leise.

Der Verschluss gab nur zögernd nach.
Ruben löste ihn mit der Spitze des Messers.
Die Kiste öffnete sich in einem kleinen Seufzen.

Innen lag ein Bündel aus Leinen.
Darunter ein Notizbuch mit grauem Umschlag.
Daneben ein kleines Pfeifchen aus hellem Knochen, glatt vom Gebrauch.

Friederike wickelte das Leinen auf.
Ein Ring fiel in ihre Hand, schlicht, aus Messing, innen eine Gravur.
A und E, eng beieinander, als hätten sie nie getrennt sein dürfen.

Alma hob die Finger zum Mund.
Ihr Blick blieb an den Buchstaben hängen.
„Er hat es aufgehoben“, flüsterte sie.

Ruben reichte das Notizbuch.
Die Seiten rochen nach Staub, aber die Schrift war klar.
Eberhard Teschner schrieb in kurzen Sätzen, als sei die Zeit knapp gewesen.

„Wer dies findet, trage den Namen weiter. Aro gehört dem Fluss und denen, die ihn bewahren. Er bleibt, solange ihr ihn ruft, mit ehrlichem Herzen und ohne Lüge.“

Friederike blätterte.
Zwischen die Seiten war eine getrocknete Blume geklemmt, blau, spröde, vom Licht fast durchsichtig.
„Enzian“, murmelte Alma, und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück.

Ein zweites Blatt fiel heraus.
Eine Fahrkarte der Deutschen Bundesbahn, gelocht, aus Wächtersbach nach Kassel.
Datum und Stempel trugen das Jahr 1955.

Ruben sah zu Boden, als müsse er Halt suchen.
„Er ist wirklich gegangen“, sagte er, nicht als Vorwurf, sondern als müde Wahrheit.
Alma nickte nur.

Im Deckel der Kiste klebte ein Brief, an den Holzrand gesteckt.
Die Tinte war dunkel geblieben, die Linien fest.
Friederike löste ihn und begann zu lesen.

„Alma, ich stand an der Erlenbrücke und kam zu spät. Ich hatte das Wort gegeben und habe es gebrochen. Mein Vater fiel und ich war der einzige, der ihn heben konnte. Ich bat den Hund, zu dir zu laufen. Er ging den Weg, den er wusste. Ich fand ihn später am Forsthaus, er wartete und sah mich an, als wüsste er, dass ich versagt habe.“

Almas Hände zitterten, doch sie unterbrach nicht.
Die Sätze gingen weiter, ruhig und schuldbeladen.

„Ich habe verstanden, dass Aro nicht mir gehört. Er gehört dem Tal. Er hat dich aus dem Wasser geholt. Er hat mich aus dem Stolz geholt. Wenn ich gehe, bitte ich Jakob Saathoff, auf ihn zu achten. Die Hunde werden seinen Namen tragen, jeder, der die Wache übernimmt. Wenn du verzeihen kannst, bring das alte Band in die letzte Stunde des Lichts. Der Kreis schließt sich nur dort, wo das Wasser spricht.“

Ruben hob den Kopf.
„Jakob war mein Großvater“, sagte er.
Die Namen legten sich nebeneinander wie Steine im Bach.

Friederike legte den Brief neben das Notizbuch.
Unter dem Leinen lag noch ein dünnes Päckchen, mit Garn gebunden.
Sie öffnete es. Ein kleines Bild kam zum Vorschein, auf Karton geklebt.

Darauf stand Alma an der Bank im Kurpark.
Der Schatten eines Hundes lag zu ihren Füßen, kaum mehr als eine dunkle Form.
Am Rand des Bildes hatte jemand zwei Worte geschrieben. Warte noch.

Alma lächelte, und es war das Lächeln eines Mädchens.
„Er wusste, dass ich zurückfinden würde“, sagte sie.
Ihre Stimme war schlicht, ohne Bitterkeit.

Ruben nahm das Pfeifchen aus Knochen.
Die Oberfläche war glatt wie Kiesel im Wasser.
Ein Schriftzug zog sich über den Rand, kaum sichtbar. Aro.

„Er hat damit gerufen“, sagte Alma.
„Nicht laut. Nur so, dass er es hörte.“
Ihre Hand lag bereits auf Rubens Hand.

Ruben blies vorsichtig hinein.
Kein schriller Ton, eher ein tiefer Atem, der kaum die Luft hob.
Aro stellte die Ohren auf und sah in Richtung Wald.

Etwas antwortete.
Es war kein Bellen, eher ein tiefer Laut, der den Boden berührte.
Friederike spürte ihn in den Knien.

Der Wind stand still.
Ein Rotmilan zog seine Kreise, ohne zu schlagen.
Aus der Ferne roch es nach nassem Stein.

Im Notizbuch waren Zeichen eingezeichnet.
Eine Karte des Hangs, grob, aber eindeutig.
Ein Kreuz markierte einen Punkt oberhalb der Anhöhe, nahe einer Quelle, die Eberhard Kreuzborn nannte.

„Er schreibt von Wasser“, sagte Friederike.
„Von einem Becken, das nie austrocknet. Von einem Platz, an dem Hunde ohne Laut trinken.“
Alma nickte, als kenne sie den Ort.

„Dort haben wir gesessen, wenn der Sommer zu schwer wurde.“
Sie blickte in den Wald.
„Dort hat er mir zum ersten Mal die Pfote in die Hand gelegt, als wäre ich sein Mensch.“

Ruben legte das Notizbuch in die Kiste zurück.
„Wir gehen jetzt“, sagte er ruhig.
Aro stand bereits, als habe er das Ziel längst im Sinn.

Der Pfad zum Kreuzborn war schmal und alt.
Die Wurzeln hoben den Boden, als wolle er ihnen den Weg aufschließen.
Die Luft wurde kühler, je tiefer sie gingen.

Zwischen Felsen öffnete sich eine Mulde.
Darin lag Wasser, klar und unbewegt.
Am Rand wuchs Moos, so grün, dass es fast leuchtete.

Aro trat vor und senkte den Kopf.
Er trank nicht, er roch nur, lang und ernst.
Sein Schweif bewegte sich kaum.

Aus dem Schatten trat ein zweiter Hund.
Er war groß und schwarz, und doch schien das Licht durch ihn hindurchzugehen.
Er blieb am anderen Rand und sah zu Alma.

Friederike hielt den Atem an.
Ruben legte ihr die Hand auf den Rücken, damit sie nicht schwankte.
Alma machte einen Schritt und noch einen.

„Mein Aro“, sagte sie.
Kein Ruf und keine Frage.
Nur Gewissheit.

Der Schatten hob den Kopf, und für einen Moment war sein Fell kein Schatten mehr.
Man sah die Narbe über der Schulter, den hellen Fleck an der Brust.
Die Augen waren bernsteinfarben und vollkommen wach.

Alma kniete am Rand des Beckens.
Sie öffnete die Kiste und legte den Ring auf das Moos.
Daneben das Pfeifchen und die getrocknete Blume.

„Ich habe dich getragen, so lange ich konnte“, sagte sie.
„Nun trägst du mich noch ein Stück.“
Ihre Worte hingen über dem Wasser wie Vogelflug.

Der Schattenhund senkte die Schnauze, als riefe ihn etwas aus der Tiefe.
Aro stand ihm gegenüber, ganz still.
Zwei Gegenwarten berührten sich, ohne Laut.

Friederike sah, wie Almas Schultern leicht wurden.
Die Falten um ihren Mund glätteten sich, nicht wie bei einem Wunder, sondern wie bei einem Heimkommen.
Sie griff nach dem Notizbuch.

Auf der letzten Seite stand nur ein Satz.
Eberhard hatte ihn später hinzugefügt, mit anderer Tinte.
„Wer den Namen ruft, ruft nicht nur den Hund. Er ruft auch das, was heil geblieben ist.“

Ein Laut ging durch den Wald, weich wie ein Atemholen.
Der Schatten trat zurück, nicht aus Angst, sondern wie in einer Verbeugung.
Aro folgte ihm mit den Augen und blieb, wo er war.

Alma schloss das Notizbuch und legte es an ihr Herz.
Sie stand langsam auf, ohne Mühe.
Ihre Hand strich durch die Luft, als würde sie ein Fell berühren, das nicht mehr kalt war.

„Danke“, sagte sie.
Der Wald antwortete mit einem dünnen Licht, das aus dem Wasser kam.
Es lag auf ihren Händen und blieb dort, auch als sie die Finger schloss.

Auf dem Rückweg sprachen sie kaum.
Der Pfad war derselbe, doch die Schritte klangen anders.
Aro lief dicht bei Alma, als trüge er eine Nachricht und wolle sie nicht verlieren.

Oben auf der Anhöhe legten sie die Kiste wieder in die Erde.
Nicht als Versteck, sondern als Ort.
Der Stein kam darüber und saß sofort, als gehöre er dorthin.

Ruben schrieb mit Bleistift in sein Notizheft.
Er notierte den Tag, die Stunde, den Ort, die drei Dinge auf dem Moos.
Friederike sah ihm zu und fühlte, wie die Zeit sich ordnete.

Am Abend saßen sie in der Küche.
Die Fenster standen offen, und der Geruch des Waldes kam herein.
Alma hielt das Notizbuch, als halte sie die Hand eines Freundes.

„Morgen gehen wir an die Brücke“, sagte sie.
„Noch einmal in der letzten Stunde des Lichts.“
Ihre Stimme war ruhig, und darin lag kein Zögern.

In der Nacht war Bad Orb still.
Kein Hund bellte, kein Zug fuhr durch die Ferne.
Nur der Fluss atmete.

Und tief in diesem Atem war ein Ton, der wie ein Versprechen klang.
Er kam aus der Richtung des Kreuzborns.
Er kam langsam und blieb.

Er wartet am Wasser.

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