Brief an einen Hund | Eine alte Frau, ein Hund aus vergessenen Jahren und ein Geheimnis, das Zeit und Tod besiegt

🐾 Teil 9: Wenn Erinnerungen zurückkehren

Der Morgen begann mit einem Nebel, der Bad Orb wie ein Tuch bedeckte. Die Dächer der Fachwerkhäuser ragten wie Inseln daraus hervor, und der Fluss rauschte gedämpft, als spräche er im Schlaf. Friederike trat hinaus in den Garten. Die Feuchtigkeit legte sich kühl auf ihre Haut, und sie spürte sofort, dass der heutige Tag anders sein würde.

Alma saß bereits am Küchentisch. Sie trug das dunkelblaue Kleid, das Friederike ihr vor einigen Tagen herausgesucht hatte, und hielt das Notizbuch von Eberhard in den Händen. Sie strich immer wieder über den Umschlag, als könne sie damit die Schrift spüren, die ihr seit Jahrzehnten fehlte.

„Heute gehen wir zur Brücke“, sagte sie. „In der letzten Stunde des Lichts.“

Ihre Stimme war klar. Kein Zittern, keine Spur der Krankheit. Für einen Moment war sie nicht die achtzigjährige Frau mit Demenz, sondern das siebzehnjährige Mädchen von damals, das an der Erlenbrücke wartete.

Ruben kam mit Aro in den Hof. Der Hund war unruhig, lief auf und ab, die Nase tief am Boden, die Ohren hochgestellt. Als er Alma sah, blieb er stehen, setzte sich und starrte sie lange an, bevor er langsam den Kopf neigte, als würde er sie grüßen.

Sie beschlossen, den Tag ruhig zu verbringen, um Kraft für den Abend zu haben. Friederike half Alma beim Frisieren, während draußen das Mittagslicht langsam den Nebel verdrängte. Doch die Spannung hing in der Luft wie vor einem Gewitter.

Am Nachmittag holte Ruben die Kiste hervor, die sie an der Anhöhe gefunden hatten. Er öffnete sie ein letztes Mal, und sie betrachteten den Ring, das Pfeifchen, das Foto. Es war, als legten sie die letzten Beweise einer Geschichte auf den Tisch, die größer war als jeder von ihnen.

„Wenn wir heute gehen, müssen wir alles mitnehmen“, sagte Friederike. „Damit nichts zurückbleibt.“

Alma nickte. „Alles, was wir gefunden haben, gehört an die Brücke. Dort wartet er.“

Die Stunden zogen langsam. Friederike ging mehrmals durch den Garten, unfähig, still zu sitzen. Das Wasser des Orb war lauter als sonst, so als wüsste es, was geschehen sollte.

Als die Sonne tiefer sank, machten sie sich auf den Weg. Alma bestand darauf, selbst zu gehen. Ruben trug die Kiste, und Aro lief vorn, seine Bewegungen fest und zielstrebig. Der Weg durch den Kurpark war fast leer. Nur ein alter Mann las auf einer Bank Zeitung, ein junges Paar ging Hand in Hand. Niemand schenkte ihnen Aufmerksamkeit.

Die Brücke lag still über dem Fluss. Das Holz unter ihren Füßen knarrte, und das Wasser darunter schimmerte im goldenen Licht des späten Tages. Friederike spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.

Sie stellten die Kiste auf die Bank am Brückenkopf. Alma setzte sich daneben und legte ihre Hände auf den Deckel. „Eberhard wollte, dass der Kreis sich hier schließt“, sagte sie.

Ruben öffnete die Kiste. Sie nahmen den Ring heraus, das Foto, die Blume, das Pfeifchen. Alles wurde sorgfältig auf die Bank gelegt, als bereiteten sie ein Opfer vor. Aro setzte sich davor, die Augen fest auf die Gegenstände gerichtet.

Die Sonne berührte die Hügel am Horizont. Das Licht wurde weich, die Schatten lang. Es war die letzte Stunde des Lichts.

Da geschah es.

Ein Bellen hallte durch den Park, tief und klar. Nicht von Rubens Hund, sondern von irgendwo anders, von einer unsichtbaren Stelle. Aro antwortete mit einem kurzen Laut, sprang auf, doch blieb dicht bei Alma.

Der Wind legte sich plötzlich. Die Blätter hörten auf zu rascheln, das Wasser des Flusses schien still zu stehen. Und auf der anderen Seite der Brücke trat eine Gestalt hervor.

Es war ein Hund. Groß, schwarz, kräftig, das Fell schimmerte, als finge es das letzte Licht ein. Er war nicht wie Aro, nicht alt und greifbar. Er war durchscheinender, als bestehe er zugleich aus Schatten und Sonne. Seine Augen leuchteten bernsteinfarben, warm und wach.

Alma stand auf. Sie brauchte keinen Stock. Ihr Rücken war gerade, ihre Schritte sicher. Sie trat in die Mitte der Brücke, und der Hund kam ihr entgegen.

Friederike wagte kaum zu atmen. Sie sah, wie ihre Großmutter die Hand ausstreckte. Und sie sah, wie der Schattenhund innehielt, dann den Kopf senkte und Almas Finger berührte.

Es war keine Berührung wie zwischen Haut und Fell. Es war eine Berührung von Erinnerung und Gegenwart, von Treue, die nicht sterben konnte. Alma schloss die Augen, und Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Du hast gewartet“, sagte sie. „All die Jahre.“

Der Hund blickte sie lange an. Dann wandte er sich kurz zu Friederike und Ruben, als wollte er sie mit hineinnehmen in dieses Versprechen. Danach setzte er sich einfach nieder, mitten auf der Brücke, und wartete.

Die Sonne sank tiefer. Das Licht wurde golden und dann rötlich. Der Hund erhob sich, ging langsam über die Brücke, blieb am Geländer stehen und sah in den Fluss. Alma folgte ihm, legte ihre Hand auf das Holz.

„Hier hast du mich gerettet“, sagte sie leise. „Hier hat alles begonnen.“

Ruben stand schweigend daneben. Friederike spürte, dass sie Zeugen von etwas waren, das niemand sonst verstehen würde.

Alma nahm den Ring und ließ ihn in den Fluss gleiten. Das Wasser fing das Glitzern und trug es fort. Danach legte sie das Pfeifchen auf das Geländer. Der Wind nahm einen Ton mit, kaum hörbar, aber tief.

„Nun bist du frei“, flüsterte sie.

Der Hund hob den Kopf und stieß ein letztes Bellen aus. Es war kein Ruf nach Begleitung, sondern ein Gruß, ein Abschied und ein Dank zugleich. Dann verschwand er langsam, löste sich im Abendlicht auf, bis nur noch der Fluss blieb.

Alma sank auf die Bank, erschöpft, aber lächelnd. „Er ist heimgegangen“, sagte sie. „Doch er hat uns nicht verlassen. Solange wir ihn erinnern, bleibt er.“

Friederike legte den Arm um ihre Großmutter. Tränen liefen ihr übers Gesicht, doch in ihrem Herzen war etwas Leichtes, fast Befreiendes.

Die Dunkelheit senkte sich über den Kurpark. Die ersten Laternen gingen an. Ruben packte die Kiste zusammen, nun fast leer, doch schwerer vor Bedeutung als je zuvor.

Sie gingen schweigend zurück zum Haus. Alma schlief in dieser Nacht schnell ein, tiefer als sonst. Friederike saß lange am Fenster. Sie hoffte, ein Bellen zu hören, ein Zeichen. Doch die Nacht blieb still.

Und doch, kurz bevor sie die Augen schloss, sah sie etwas. Auf dem Tau im Garten lag ein Abdruck. Nicht groß, nicht tief, doch frisch. Ein Pfotenabdruck, der im Mondlicht schimmerte.

Friederike lächelte, bevor sie einschlief.

Denn sie wusste, dass Aro noch immer da war.

Doch mit dem Abdruck begann ein neues Kapitel, das niemand von ihnen vorausgeahnt hatte.

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